Berichte aus Brasilien
Volksbewegungen machen Druck auf Lula-Regierung
Land- und Häuserbesetzungen, Zusammenstöße mit der Militärpolizei, populäre Landlosenführer im Gefängnis

von Klaus Hart

7-8/03
 
 
trend
onlinezeitung

Briefe oder Artikel info@trend.partisan.net ODER per Snail: trend c/o Anti-Quariat 610610 Postfach 10937 Berlin

Im größten lateinamerikanischen Land Brasilien wachsen derzeit die sozialen Spannungen, gerät der neue Staatschef und Ex-Gewerkschaftsführer Luis Inacio Lula da Silva durch den Druck der Straße in die Bredouille. Land-und Häuserbesetzungen, Kundgebungen, schwere Zusammenstöße mit der Militärpolizei sogar vor Präsidentenpalast und Nationalkongreß. „Sehr unzufrieden“ mit Lulas Politik, angesichts rasch steigender Arbeitslosigkeit, steig sinkender, ohnehin magerer Reallöhne, gründeten soziale Bewegungen wie die Landlosen, Gewerkschaften, Studenten, kirchliche Organisationen einen Dachverband, fordern von der Regierung die im Wahlkampf versprochenen sozialen Verbesserungen.

Noch vor wenigen Wochen präsentierte sich Staatschef Lula den Brasilianern wie im Wahlkampf – als strahlender Hoffnungsträger, mit scheinbar unerschütterlichem Optimismus. Doch im August 2003 wirkt er niedergeschlagen, frustriert, leicht reizbar – blies wegen der zunehmenden innenpolitischen Probleme sogar eine Afrikareise ab.  Denn ausgerechnet jene sozialen Bewegungen, jene Führer der Verelendeten und Unterprivilegierten, die seinen Wahlkampf nach Kräften unterstützten, machen ihm derzeit größtes Kopfzerbrechen. Kein Tag, an dem die gutorganisierten Landlosen nicht ungenutzte Latifundien besetzen, es auf Konflikte mit Großfazendeiros und deren hochbewaffneten Milizen ankommen lassen -  um die von Lula versprochene Landreform einzufordern. Und kein Tag, an dem die Bewegung obdachloser Arbeiter (MSTS) in Brasiliens Millionenstädten nicht leerstehende Bürogebäude, Wohnblocks, Hotels, Fabrikgelände besetzt - und  die Gewerkschaften nicht gegen die unter Lula stark ansteigende Arbeitslosigkeit protestieren. „Mit all diesen Aktionen“, so formuliert der neue Dachverband der sozialen Bewegungen (CMS) mit deutlicher Ironie, „wollen wir dem Staatspräsidenten dabei helfen, sich an seine Wahlversprechen zu erinnern.“ In sieben Monaten Amtszeit habe Lula bisher nur die Finanzmärkte bedient – wir wollen, daß er sich auch um das Soziale kümmere.

“Parteien haben ihre Taktiken, um an die Regierung zu kommen“, argumentiert Landlosenführer Joao Pedro Stedile, gleichzeitig führender Kopf im CMS, gegenüber dem Trend. „Aber wenn sie dann an der Regierung sind, heißt das nicht automatisch, daß sich im Sozialbereich wirklich etwas verbessert. Wir haben hier eine institutionalisierte Linke, die auf Wahlen setzt, und eine `gesellschaftliche Linke` - repräsentiert durch Gewerkschaften, die Landlosen, kirchliche Gruppen. Wir sind immer skeptischer, daß Fortschritte durch die institutionalisierten Parteien erreicht werden, sind vielmehr überzeugt, daß es nur über diese `Esquerda social` vorangeht – ob in Brasilien oder in anderen Ländern der Dritten Welt.  Nur wenn das Volk sich organisiert, kämpft und neue Aktionsformen entwickelt, wird sich Brasilien positiv verändern.Und genau darauf konzentrieren wir uns jetzt mit aller Energie.“

Der gelernte Betriebswirtschaftler Stedile, dessen Landlosenbewegung auch von den deutschen Kirchen unterstützt wird, macht ebenso wie seine Anhänger keinen Hehl aus seiner Abneigung gegen die von Lula eingegangenen Regierungsbündnisse mit Rechtsparteien wie dem von einer fundamentalistischen Sektenkirche dominierten Partido Liberal. Lulas Vize Jose Alencar, ein Milliardär und Konzernchef, gehört dieser Partei an. Der parteilose Minister für Wirtschaftsentwicklung, Luiz Furlan, führte noch unlängst ein Großunternehmen aus Familienbesitz, das jetzt hunderte, wenn nicht sogar tausende Arbeiter entlassen will.  Doch ausgerechnet Arbeitsminister Jaques Wagner, aus Lulas eigener Arbeiterpartei PT, sagte öffentlich, um die Erwerbslosigkeit werde viel zu viel Lärm gemacht, das Drama sei gar nicht so schlimm. Da schrillten natürlich die Alarmglocken - bei den Gewerkschaften, den Landlosen  und auch bei der stark befreiungstheologisch orientierten Arbeiterpastoral der katholischen Kirche. Sao Paulos Pastoralführer Waldemar Rossi ist in Sao Paulo eine direkt legendäre Figur, Mitgründer der Arbeiterpartei, dazu persönlicher Freund Lulas – organisierte mit ihm zur Diktaturzeit Streiks gegen die Automultis und auch die Besetzung des Scania-Werks. Jetzt gehört er zu den schärftsten Kritikern der Regierungspolitik, koordiniert die Protestkaktionen des Dachverbandes CMS mit. 

“Die Brasilianer haben mit der Wahl Lulas gegen das jetzige neoliberale Wirtschaftsmodell gestimmt, wollen eine sozial ausgerichtete Wirtschaftspolitik“, betont Stedile. „Doch jetzt bedrängt das Kapital die Regierung, den neoliberalen Kurs unbedingt beizubehalten. Aber vereint sind Gewerkschaften, Kirchen und auch die Landlosenbewegung eine große Kraft, um Brasiliens Machtkonstellationen zu verändern, auf die Regierung Druck auszuüben. Staatschef Lula steckt in einem Dilemma, er weiß das ganz genau. Wenn er die soziale Situation nicht so verbessert wie versprochen, wird das Volk entmutigt, frustriert sein, wird sich die Wählerbasis gegen ihn stellen. Und dann kann Lula genauso enden wie Argentiniens Präsident De La Rua.“

Der war 2001 unter dem Druck der Straße zurückgetreten.

Auch unter Lula immer wieder Morde an Landlosenaktivisten und Indianern. Besonders bedenklich:  Zwei populäre Landlosenführer, darunter der auch in Europa wegen seiner mutigen Aktionen gegen die Großgrundbesitzer und deren sogar mit Maschinenpistolen bewaffnete Milizen sehr bekannte Josè Rainha, wurden im Juli 2003 zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Rainha bekam wegen illegalen Waffenbesitzes – in einem Wagen, in dem er mitfuhr, soll ein Jagdgewehr gefunden worden sein – zwei Jahre und acht Monate. Bei Rainha handelt es sich eindeutig um einen politischen Gefangenen. Eine Entwaffnung der Latifundista-Milizen ist nicht in Sicht.

Editorische Anmerkungen:

Der Autor schreibt regelmäßig Berichte aus Brasilien, die er auch dem Trend zur Verfügung stellt. So. z.B.: