Berichte aus Brasilien
Schießereien, Drogen, Waffen

von Klaus Hart

06/02
 

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Das Erfurter Schulmassaker war den brasilianischen Medien nur eine kleine Notiz wert - schließlich ist in dem Tropenland der Schulalltag seit Jahrzehnten von extremer Gewalt geprägt. Neueste Studien, darunter von der Unesco, belegen, daß dadurch die Schüler-und Lehrerleistungen dramatisch absinken. Allein in der Zehn-Millionen-Stadt Rio de Janeiro haben danach weit über die Hälfte der Kinder und Jugendlichen, aber auch der Lehrkräfte direkt miterlebt, wie auf dem Schulgelände Feuerwaffen zum Einsatz kamen, sogar Schießereien ausbrachen. Immer wieder werden Lehrer, und sogar Direktoren ermordet, erzwingen Schüler mit vorgehaltenem Revolver bessere Noten oder die Versetzung. An immerhin über zehn Prozent der städtischen Schulen Brasiliens ist es normal, daß Schüler eine Feuerwaffe unterm Hemd, im Ranzen oder Rucksack dabeihaben. Siebzig Prozent derer, die illegal einen Revolver besitzen, nahmen ihn bereits mit zum Unterricht. Millionen von brasilianischen Jugendlichen besitzen Waffen - ein Großteil produziert in der Ersten Welt, in Europa, überall in Brasilien auf dem Schwarzmarkt leicht zu erwerben. Fünfundfünfzig Prozent der Schüler, so die Unesco-Studie, wissen, wo man nahe der Schule illegal Waffen kaufen kann. Ein Lehrer in Sao Paulo, drittgrößte Stadt der Welt:"Es gibt Schüler, die verkaufen schon morgens um acht Crack auf dem Schulhof - wer seine Schulden nicht bezahlt, kann von ihnen gleich dort erschossen werden."

Pisa-Studie und Gewalt -

Entsprechend gespannt ist das Klima an den Schulen, betont die Unesco-Expertin Mirian Abramovay:"Die Lehrer haben sehr viel Angst, das Verhältnis zu den Schülern ist von Mißtrauen geprägt, niemand vertraut in niemanden." In Sao Paulo wurde bereits über die Hälfte der Lehrer gewaltsam attackiert. Resultat: Angeschossen, oder auf anderere Weise verletzt, fehlen sie häufig, wechseln konstant die Schule, und fallen entsprechend viele Stunden aus. Eine hohe Motivation und Leistungsbereitschaft ist von den Lehrern, zudem extrem schlecht bezahlt, daher schwerlich zu erwarten. Gleiches gilt, wie die Unesco konstatierte, für die Schüler. Etwa die Hälfte hat gravierende Lernprobleme, kann sich nicht konzentrieren, ist hochnervös, fühlt sich in der Schule ständig unsicher, bedroht, bleibt dem Unterricht deshalb häufig fern. Ein Großteil bleibt bis zu viermal sitzen, kommt bestenfalls bis zur vierten, fünften Klasse. Bei der jüngsten Pisa-Studie war Brasilien das Schlußlicht - für die Fachleute vor allem Ergebnis des gewaltgeprägten Schulalltags. Daß soviel geschossen, aber auch so oft zum Messer gegriffen wird, liegt zudem am hohen, gewaltstimulierenden Drogenkonsum - immerhin an mindestens einem Drittel aller öffentlichen Schulen. An über zwanzig Prozent sind Rauschgifthändler aktiv.

Schulen im Kugelhagel

Hinzu kommt das mehr als komplizierte Umfeld - fast täglich sind brasilianische Schulen im Kugelhagel rivalisierender Banditenmilizen, dringen Kindersoldaten des organisierten Verbrechens, bewaffnet mit Nato-Mpis, in die Schulgebäude ein - etwa um eine bessere Schußposition zu haben. Gerade in diesen Tagen wieder Normalität in der einstigen Traumstadt am Zuckerhut. Gab es in den Slums die ganze Nacht über Feuergefechte, flogen sogar Granaten, ist mit den Schülern tags darauf nichts anzufangen, klagen die Lehrer - denn alle sind total übermüdet, machten kein Auge zu. Pro Jahr werden in Brasilien selbst gemäß den geschönten offiziellen Angaben weit über vierzigtausend Menschen ermordet - bei einer nur etwa doppelt so großen Bevölkerungszahl wie in Deutschland - die allermeisten Opfer sind zwischen fünfzehn und 24 Jahren alt. Doch ein Ende der Gewalt ist nicht in Sicht, die Mordraten steigen vielmehr weiter an. Im derzeitigen Präsidentschafts-und Gouverneurswahlkampf wird das Thema wieder einmal populistisch ausgeschlachtet - schlägt erneut die Stunde der Demagogen.

umstrittene linkspopulistische Rio-Gouverneurin

Weil besonders in Rio de Janeiro derzeit die Lage wieder einmal außer Kontrolle ist, bot die Mitte-Rechts-Regierung in Brasilia der dortigen Gouverneurin Benedita da Silva den Einsatz von Armeeeinheiten an. Doch die umstrittene Linkspopulistin von der Arbeiterpartei PT, aktives Mitglied einer Sektenkirche, und politisch hauptverantwortlich für die bürgerkriegsähnlichen Zustände, lehnte vorhersehbar ab - der Truppeneinsatz bedeutete schließlich ein Schwäche-Eingeständnis, würde ihrem Image erheblich schaden. Indessen - die in manchen linksalternativen deutschen Gazetten hochgelobte schwarze Gouverneurin findet nichts dabei, daß die rund 800 Rio- Slums von politisch einflußreichen Banditenmilizen der global vernetzten Verbrechersyndikate neofeudal beherrscht werden , täglich Menschen geköpft, in Stücke gehackt, lebendig verbrannt werden, die rund zwei Millionen Bewohner jeglicher Basis-Menschenrechte beraubt sind. Benedita da Silva stört nicht, daß die Banditenkommandos über ganze Stadtgebiete immer wieder nächtliche Ausgangssperren verhängen - wer sich nicht daran hält, wird zur Abschreckung erschossen. Sogar auf der berühmten Avenida Atlantica von Copacabana, einst wichtigste Touristenmeile, verstreuten Gangster unlängst Leichenteile. Jetzt bestätigte es auch die Unesco - in Rio ist das Leben weit gefährlicher als etwa in Palästina, Israel - kommen dort monatlich nur ein Sechstel so viele durch Gewalt um wie am Zuckerhut.

politische Verantwortung des Staatschefs - Berliner Ehrendoktor

Im Oktober wird in der elftgrößten Wirtschaftsnation Brasilien - Hauptempfänger deutschen Kapitals in der Dritten Welt - ein neuer Staatschef gewählt - die Amtszeit des jetzigen, FU-Berlin-Ehrendoktor Fernando Henrique Cardoso, war für das Land gerade in Bezug auf Menschenrechte, eine Katastrophe. Weil Cardoso den Status quo in den Slums nicht antastete, dem organisierten Verbrechen, eng mit der Politik verquickt, weiter freien Lauf ließ, wurden in nur acht Regierungsjahren weit über dreihunderttausend Brasilianer Opfer politischer oder krimineller Gewalt, spricht selbst die Kirche von "unerklärtem Bürgerkrieg" - Folterungen, Blutbäder sind weiter Normalität. "Socialdemocrata" Cardoso geht auch als neuer Rekordhalter bei der Amazonasvernichtung in die Geschichte ein. Rot-grüne Ethik kennt man inzwischen zur Genüge - nur folgerichtig, daß Schröder, Fischer, Trittin, Roth & Co. den brasilianischen Staatschef und seinen Anhang hofieren, Cardoso gar als "fortschrittlichen Präsidenten" rühmen, dessen Menschenrechts-und Umweltpolitik loben. Kanzler Schröder legte sogar Wert darauf, mit Cardoso die Expo zu eröffnen, ihn zur Konferenz "Modernes Regieren im 21.Jahrhundert" an die Spree zu holen. Kein Zweifel - der Großgrundbesitzer und Berliner Ehrendoktor kann den politischen Eliten der Ersten Welt viele nützliche Ratschläge geben, wie man neoliberale Konzepte brutal durchsetzt und dennoch recht problemlos an der Macht bleibt.

Editorische Anmerkungen:

Der Autor schickte uns seinen Artikel am 27.5.2002 zur Veröffentlichung. Er schreibt regelmäßig Berichte aus Brasilien, die er auch dem Trend zur Verfügung stellt.

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