Berichte aus Brasilien
Brasiliens unappetitlicher Wahlkampf
Links mit Rechts im Schulterschluß
Größte Oppositionspartei verspielt Sympathien

von Klaus Hart

7-8/02
 

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Kaum sind die Jubelfeiern der Fußball-WM verklungen, heizen die Geld-und Politikereliten des größten lateinamerikanischen Landes den absurdesten, unappetitlichsten Wahlkampf seit dem Ende der Militärdiktatur von 1985 an. Denn im Oktober werden nicht nur ein neuer Staatschef, sondern auch die Gouverneure der sechsundzwanzig Teilstaaten und des Bundesdistrikts Brasilia, Abgeordnete und Senatoren per Pflichtwahl bestimmt, will das Establishment Machtkontinuität. Politikexperten, Kolumnisten der Qualitätszeitungen betonen, Europäern etwa seien Brasiliens Wahl-Widersprüche schwerlich zu vermitteln. Ohne drastisch-plastische Vergleiche ginge es nicht ab: Man stelle sich die Aufregung vor, wenn etwa die PDS bundesweit mit der CSU koalieren, Wahlunterstützung bei übelbeleumundeten Figuren der NPD oder der DVU suchen würde, sich die SPD ebenfalls mit dem extrem-rechten Spektrum zusammentäte. Im brasilianischen Politikbetrieb sind derartige Konstellationen seit jeher Normalität - als Markenzeichen des derzeitigen Wahlkampfs wurde bei Kandidaten und Parteiführern ein bislang nie dagewesener Zynismus ausgemacht. Erstmals bildet die linkssozialdemokratische Arbeiterpartei PT, größte Oppositionskraft gegen die Mitte-Rechts-Regierung, und bislang eherne Säule der Ethik und Unbestechlichkeit, keine Ausnahme mehr, warf Grundprinzipien über Bord, verspielt deshalb täglich Sympathien. PT-Präsidentschaftskandidat Luis Inacio "Lula" da Silva tritt zum viertenmal an, hätte nach dem Willen der Parteibasis den in allen politischen Lagern wegen seiner Kompetenz hochangesehenen Senator Eduardo Suplicy zum Vize bestimmen müssen.

Stattdessen entschied sich die rechtssozialdemokratische Mehrheit der PT-Spitze - 43 von 70 Präsidiumsmitgliedern - ausgerechnet für den Milliardär Josè Alencar und für eine Wahlallianz mit dessen Rechts-und Sektenpartei PL(Partido Liberal) - ebenfalls gegen die PT-Basis. Alencar besitzt die zweitgrößte Textil-Unternehmensgruppe Brasiliens, ist zudem Vize-Chef des nationalen Industriellenverbands, sieht den Militärputsch von 1964 positiv, haßt die Landlosenbewegung MST. Als Gerüchte umgingen, die PT verbinde sich ausgerechnet mit der PL, wurde das als schlechter Witz von Verrückten abgetan. Immerhin war bekannt, daß die PL im Teilstaat Sao Paulo, Lateinamerikas Industrielokomotive, größter deutscher Wirtschaftsstandort außerhalb Deutschlands, den berüchtigten Diktaturaktivisten und rechten Gouverneurskandidaten Paulo Maluf unterstützt, im Amazonas-Teilstaat Acre die Gang eines Todesschwadronen-Politikers, im Nordost-Teilstaate Alagoas Kandidaten gleicher Sorte, darunter den wegen Machtmißbrauch und Korruption per Impeachment abgesetzten Ex-Staatspräsidenten Fernando Collor de Mello. Die PL selbst ist in Alagoas schwerbelastet - die dortige PT-Gouverneurskandidatin Heloisa Helena trat mit dem Argument zurück, sich keinesfalls mit kriminellen Politikern zu verbünden, die immerhin sogar ein Drogenmafia-Untersuchungsausschuß des Kongresses angezeigt habe. Und ausgerechnet der zwielichtige Diktaturaktivist der großen Rechtspartei PFL, der sehr einflußreiche Politiker und Unternehmer Antonio Carlos Magalhaes aus Bahia - half Lulas Arbeiterpartei dabei, das Bündnis mit der PL zu zimmern. In deren Reihen sind Bataillone von Sekten-Bischöfen, - predigern und Wunderheilern, die Lula bislang stets öffentlich als "Satanas" anprangerten - jetzt betet er mit ihnen. Die Sekten besitzen in Brasilien viel Medienmacht, haben TV-und Radiosender, erreichen hohe Einschaltquoten - ausgerechnet ihnen winkt via PL jetzt das Kommunikationsministerium. Als Lula jetzt bei einem Redaktionsgespräch in Brasiliens auflagenstärkster Qualitätszeitung "Folha de Sao Paulo" auf das PL-Thema angesprochen wurde, erhob er sich abrupt und ging - die Sache scheint ihm selber heikel und peinlich. PT-Präsident Josè Dirceu reiste zur Wallstreet, war selbst im Weißen Haus, um Banker und Spekulanten zu beruhigen, die in den letzten Wochen verrückt spielten, ihre Druckmittel auffuhren, Brasiliens Währung Real und den Börsenkurs absacken ließen, die Länderrisiko-Taxe auf Rekordhöhe schraubten.

Anbiederung ans Kapital

Und auch Ex-Gewerkschaftsführer Lula verkündete der Nation über den größten privaten Sender "TV Globo"einen besonders schwerwiegenden Rückzieher: Anders, als bisher versprochen, werden die erdrückenden Außenschulden bei einem Wahlsieg doch weiterbezahlt. Vorhersehbar sind die Reaktionen auf den scharfen Kurswechsel der PT-Spitze um Lula, deren Anbiederung ans Kapital, verheerend: Die Parteilinke, so sickerte durch, diskutiert den Austritt, die Gründung einer neuen Partei selbst für den Fall, daß Lula Staatschef wird. Der starke befreiungstheologische Flügel in der katholischen Kirche, bisher stets militant auf PT-Seite, ist entsetzt, geht auf Distanz. Francisco Whitaker, angesehener kirchlicher Menschenrechsaktivist, PT-Mitglied, Präsident der nationalen Kommission für Gerechtigkeit und Frieden:"Die PT hat wenig gewonnen - aber viel verloren." Spott zudem von allen Seiten: Schließlich kaufte Lula denselben gerissenen Wahlkampfmanager ein, der zuvor stets rechten Politikern wie dem Industriellen Maluf mit nordamerikanischen PR-Methoden zum Sieg verholfen hatte, gibt sich bürgerlich, betont antiradikal, "PT-light". Und natürlich erinnert man sich merkwürdiger Lula-Positionen:"Hitler irrte zwar, hatte aber etwas, das ich an einem Manne bewundere - dieses Feuer, sich einzubringen, um etwas zu erreichen."

Erwartungsgemäß sinken derzeit Lulas zuvor phantastisch hohen Wahlaussichten, würde er gemäß neuesten Umfragen im zweiten Wahlgang gegen den derzeit zweitplazierten Ciro Gomes, ebenfalls Kandidat eines fragwürdigen, höchst widersprüchlichen Links-Rechts-Bündnisses, unterliegen.

PT-Gouverneurin für schwerste Menschenrechtsverletzungen verantwortlich

Erschwerend kommt hinzu, daß die PT derzeit nicht nur im Teilstaat Sao Paulo, sondern auch in Rio de Janeiro - mit einem Bruttosozialprodukt über dem von ganz Chile - wegen Mißwirtschaft und Skandalen stark an Ansehen verliert. Am Zuckerhut regiert die schwarze, unangenehm populistische PT-Gouverneurin Benedita da Silva, Mitglied einer Sektenkirche, vorhersehbar desaströs - tolerierte bereits als privilegiensüchtige Kongreßsenatorin in den Slums schwerwiegendste Menschenrechtsverletzungen, ließ den hochgerüsteten, rivalisierenden Verbrechersyndikaten und Banditenmilizen freien Lauf, die bis heute zahlreiche Schulen schließen, in den Elendsvierteln der Peripherie sogar Ausgangssperren verhängen, die Bewohner terrorisieren, einen beträchtlichen Teil der Slumkinder rekrutieren. Besonders schwerwiegend: In den letzten Wochen akzeptierte die von manchen deutschen Drittweltbewegten, sogar Drittwelt-Gazetten gefeierte Gouverneurin allen Ernstes, daß Banditenmilizen kinderreiche Familien aus ihren Slumkaten vertrieben. Mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten sicherten zumindest den Abtransport der wenigen Habe aus dem Elendsviertel. Auch unter Benedita da Silva werden Slum-Bürgerrechtler, die sich dem Diktat des organisierten Verbrechens widersetzen, zur Abschreckung sadistisch umgebracht. Zuletzt ermordeten die international vernetzten, politisch einflußreichen Gangstersyndikate den 47-jährigen Leiter einer Slum-Bürgerassoziation, zudem Musikchef einer großen Sambaschule - in den letzten Jahren starben auf gleiche Weise, aus gleichen Gründen weit über einhundert. Und selbst das ist unter der "progressiven" Benedita da Silva weiter möglich: Zwei direkt benachbarte Slums werden von rivalisierenden Banditenmilizen dominiert, die den Bewohnern verbieten, sich dem anderen Elendsviertel auch nur zu nähern. Ein Fischer stieg jetzt zufällig, unbeabsichtigt am "gegnerischen" Slum aus dem Peripherie-Bus - wurde von Gangstern identifiziert und auf der Stelle erschossen. Indessen - PT-Präsidentschaftskandidat Lula ist des Lobes voll für die Gouverneurin, verliert über derartige gravierende Menschenrechtsverletzungen in seinen Wahlkampfreden nicht ein einziges Wort. Seit unter Benedita da Silva selbst laut offiziellen Angaben in Rio de Janeiro monatlich mehr als sechshundert Menschen ermordet werden, macht die Stadt erschreckend negative Schlagzeilen, sind die Touristenhotels die letzten Monate nicht einmal zur Hälfte belegt.
 

Editorische Anmerkungen:

Der Autor schickte uns seinen Artikel am 5.8.2002 zur Veröffentlichung.

Er schreibt regelmäßig Berichte aus Brasilien, die er auch dem Trend zur Verfügung stellt.

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