Berichte aus Brasilien
Rio-Karneval erstmals von Streitkräften beschützt
Bombenanschläge, Schießereien, brennende Busse - zahlreiche Tote - Organisiertes Verbrechen demonstriert Parallelmacht

von Klaus Hart

03/03
 
 
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Unter dem Druck der Ereignisse sieht sich die neue brasilianische Mitte-Rechts-Regierung von Staatschef Luis Inacio „Lula“ da Silva überrraschend gezwungen, entgegen ersten Deklarationen nun doch die Streitkräfte gegen das immer offener agierende organisierte Verbrechen einzusetzen. Wenig förderlich für das Landesimage und den Ruf der Touristenmetropole am Zuckerhut, geschah der erste Einsatz dieser Art ausgerechnet zum Karneval im Rio, weil von den rund fünfzigtausend Militär-und Zivilpolizisten der Zehn-Millionen-Stadt weder die Sicherheit der Einheimischen noch der rund vierhunderttausend Gäste, darunter viele Ausländer auch aus Deutschland, während des Festes mehr garantiert werden konnte. In den Jahren zuvor waren nur gelegentlich Sambaschulen von Scharfschützen der Militärpolizei umstellt worden, um Gefechte rivalisierender Gangstermililizen zu verhindern, die traditionell im Karneval eine wichtige Rolle spielen. Diesmal wurden Einheiten der Armee mit Panzerwagen an allen strategischen Punkten der Stadt postiert, zudem patrouillierten überall Soldaten. Staatschef Lula erklärte, die Bevölkerung von Rio de Janeiro, aber auch von ganz Brasilien könne nicht Geisel des organisierten Verbrechens sein. „Ich werde harte, schwierige Entscheidungen treffen - wie keine andere Regierung zuvor.“ Maßnahmen dieser Art hatte zuvor fast wortgleich seine enge Vertraute - und jetzige Sozialministerin - Benedita da Silva versprochen, die Brasiliens wirtschaftlich und politisch zweitwichtigsten Teilstaat Rio de Janeiro - mit einem Bruttosozialprodukt über dem von ganz Chile - bis Ende Dezember 2002 als Gouverneurin regiert hatte. Weil der Machtzuwachs der hochbewaffneten, global vernetzten Verbrechersyndikate nicht mehr zu übersehen war, hatte Brasilia der Gouverneurin die Unterstützung der Streitkräfte angeboten - doch die einer Sekte angehörende PT-Politikern lehnte ab.

Somit war abzusehen, daß die neofeudalen Gangstermilizen den Karneval wieder einmal nutzen würden, um aller Welt ihre Parallelmacht zu demonstrieren.

Auch in Sao Paulo, ebenfalls eine Karnevalshochburg, lag bereits im Vorkarneval nicht nur Samba in der Luft, bestimmten nicht nur die weit über hundert Sambaschulen mit ihren aufwendigen Vorbereitungen für die große Parade das Bild. Stattdessen Mißtöne allerorten: Revolverschüsse, Mpi-Salven, explodierende Bomben und Handgranaten, Polizeisirenen, Panik und Tumult. Radio und Fernsehen berichteten kaum über Karneval, dafür in Sondersendungen über die Sicherheitslage.

Gouverneure, Bürgermeister, Polizei-und Tourismusbehörden Rios und Sao Paulos standen deshalb Kopf. Denn ausgerechnet das wichtigste, aufwendigste, größte Volksfest nicht nur Brasiliens, sondern der ganzen Erde geriet durch Gewaltausbrüche in Gefahr. In der Parade-Avenida von Sao Paulo lieferten sich bei Massenumzügen verfeindete Sambaschulen, Karnevalsklubs heftige Schießereien, gingen mit nagelgespickten Knüppeln aufeinander los - auch in Sambaschulen selber brachen bei Vorkarnevalsfesten Schießereien aus. Mehr als zehn Tote, darunter ein acht-und ein zehnjähriges Mädchen, weit über fünfzig Menschen mit Schußwunden. Die Polizei bestätigte nur Altbekanntes: Sambaschulen, Karnevalsklubs sind von rivalisierenden Verbrechersyndikaten infiltriert, unterwandert - die ihre Sympathisanten aufeinanderhetzen, auch um die Vorherrschaft beim Rauschgiftverkauf kämpfen.

In Rio de Janeiro waren von den Gewaltausbrüchen immerhin 22 Stadtviertel betroffen, sogar die touristische Strandzone - auf Straßen, Plätzen brannten über weit über fünfzig Omnibusse lichterloh. Jugendliche warfen Armeehandgranaten, Bomben auf Polizeiwachen, feuerten mit Mpis auf Behördengebäude und selbst Kaufhäuser, Shopping Centers, brachten den Busverkehr zum Erliegen, terrorisieren gezielt die Bevölkerung, erzwingen immer wieder die Schließung der Geschäfte. Dutzende Menschen, die es nicht schafften, rechtzeitig aus mit Molotovcocktails, Benzinkanistern angezündeten Bussen zu flüchten, erlitten teils schwere Brandwunden. Eine Siebzigjährige, die einer brennenden Fackel glich, starb kurz nach dem Terroranschlag. -organisiertes Verbrechen hat Zehntausende von Kindern und Jugendlichen auf seiner Seite-

Wie in Sao Paulo standen auch in Rio rivalisierende Gangstersyndikate hinter den Gewalttaten, die in kürzester Zeit zehntausende mit ihnen sympathisierende Kinder und Jugendliche, aber auch fest rekrutierte Heranwachsende für solche Anschläge mobilisieren können. Politik und organisiertes Verbrechen, hieß es selbst in den Medien, sind auch in Rio de Janeiro nur zu oft miteinander verquickt. Polizei und Banditen - nur zu oft Komplizen - die Gangstermilizen haben ihre Mpis, Bazookas, Granaten häufig aus den Kasernen der Militärpolizei. Jetzt fordern Politiker wieder einmal hartes Durchgreifen - auch gegen jene einsitzenden Gangsterbosse, die Terroraktionen von ihrer Gefängniszelle aus per Handy leiteten.

Zahlreiche Kölner Karnevalisten, und sogar der Kölner Polizeichor waren bereits in Rios berühmtester, traditionsreichster Sambaschule Mangueira - vor wenigen Jahren lieferten sich dort mitten im Karneval, während der Parade Gangstermilizen heftige Feuergefechte, Handgranaten explodierten. Mindestens fünfunddreißig Menschen, auch völlig unbeteiligte kleine Kinder wurden getötet.

Bislang steht noch nicht fest, ob die Streitkräfte in Rio auch nach dem Karneval auf den Straßen bleiben. Nur einmal hatte es einen ähnlichen Militäreinsatz gegeben, auf den sich die von Gewalt und Kriminalität geplagte Stadtbevölkerung immer wieder beruft: Zum UNO-Umweltgipfel von 1992 garantierte die Zentralregierung wegen der hohen Zahl von Staatschefs, Experten und Umweltaktivisten ein Sicherheitsniveau wie in zivilisierten Ländern - erzielte damit Imagegewinn. Doch nur wenige Tage nach Gipfelende hatte das mit der Politik verquickte organisierte Verbrechen wieder freie Hand. Jährlich werden in Rio de Janeiro über zehntausend Menschen teils auf sadistische Weise umgebracht, sogar lebendig verbrannt. Hauptbetroffene sind die Slumbewohner, entgegen landläufiger Ansicht jedoch nicht Mittel-und Oberschicht.

Editorische Anmerkungen

Der Autor schreibt regelmäßig Berichte aus Brasilien, die er auch dem Trend zur Verfügung stellt. So. z.B.:

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