Freiwillig eingesperrt
Privilegierten-Ghettos als Gesellschaftsmodell
Bauarbeiter-Stundenlohn in Elitedistrikten: Siebzig Cents bis zwei Euro
von Klaus Hart

7-8/02
 

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Lateinamerikas Betuchten  geht es materiell prächtig – trotz Argentinienkrise und  Rezession. Die Wirtschaft wuchs in der Region letztes Jahr nur um 0,7 Prozent, die Zahl der Millionäre dagegen um zwölf – im Rest der Welt nur um drei. Brasiliens Vermögende bedanken sich beim „sozialdemokratischen“ Staatschef und FU-Berlin-Ehrendoktor Fernando Henrique Cardoso – seine neoliberale Politik war für sie  in dessen zweiter Amtszeit besonders segensreich, förderte die Einkommenskonzentration, hatte indessen auch unangenehme Konsequenzen. Nach  1997 nahm die Zahl der „Milionarios“ gar um rund  die Hälfte zu, auf derzeit über neunzigtausend. Ein beträchtlicher Teil lebt in Sao Paulo, dem größten deutschen Wirtschaftsstandort außerhalb Deutschlands, hat allerdings an den traditionellen Elitedistrikten der Megametropole  nicht mehr viel Freude. Nur in Indien gibt es mehr Arbeitslose als in Brasilien, Misere und Kriminalität nehmen unaufhörlich zu,  Entführungen von Begüterten gleich in Serie  verbreiten Panik, schlagen aufs Gemüt. Also fliehen die Eliten, Privilegierten zunehmend vor den Folgen eigener Politik, schotten sich immer perfekter in Ghettos, den sogenannten „Condominios fechados“, geschlossenen Wohnanlagen ab – regelrechte Städte in der Stadt, bewohnt auch von deutschen Managern.   Aber nehmen wir den Jugendlichen  Alvaro, aus guter Anwaltsfamilie, der in Rio de Janeiros Strandviertel Barra da Tijuca realitätsfremd fast ständig hinter Gittern lebt – in einem weitläufigen Bilderbuch-Kondominium  der Mittel-und Oberschicht mit allem Drum und Dran.  Swimmingpools, Spiel-und Tennisplätze, Golfwiesen und etwas Park, ferner eine Bäckerei, eine Apotheke und vor allem Sicherheit im Übermaß. Denn der ganze Condomínio ist von hohen Gitterstäben umgeben und wird von einer bewaffneten Spezialgarde überwacht – ein Berufsstand, dreimal so kopfstark wie die brasilianischen Streitkräfte. Auch Alvaros Familie hat natürlich mehrere Hausangestellte – am stabilen Portal  mit den TV-Kameras  werden sie wie andere Ortsfremde gefilzt, die Gutbetuchten der immerhin achtgrößten Wirtschaftsnation lassen sich ihre Sicherheit jährlich nicht weniger als 28 Milliarden Dollar kosten. Ein Fahrer bringt Alvaro morgens zur Privatschule, nachmittags zurück. Für ihn besteht kaum noch die Notwendigkeit, den  Condomínio, gelegentlich „goldener Käfig“ genannt, zu verlassen, andere Viertel oder gar den nahen Atlantikstrand zu frequentieren. In Barra da Tijuca, einer Miami-Kopie für Neureiche und Aufsteiger, zählt Alvaro zu jenen Kids, die von Rest-Rio weit weniger kennen als der oberflächlichste Copacabana-Tourist. Das berühmte Opernhaus, Klöster und Kirchen der Altstadt haben sie bestenfalls auf Prospektfotos gesehen. Besorgte bildungsbeflissene Eltern organisieren deshalb regelmäßig Bustouren, die den Sightseeing-Trips für Ausländer aufs Haar gleichen – auch Alvaro mußte einmal mit.

Vor fünf Jahren lebte nur rund eine halbe Million Brasilianer in solchen Ghettos, inzwischen sind es mehr als doppelt so viele – an der Peripherie nahezu aller brasilianischen Provinzhauptstädte. Nimmt man die abgesperrten Villen-Privatstraßen der besseren Viertel hinzu, komt man sogar auf über sechs Millionen. Allein Sao Paulo hat an die dreihundert Condominios. Paulo Roberto Moraes von der dortigen Katholischen Universität untersucht das Phänomen, sagt voraus, daß deshalb die Einwohnerzahl der Großstädte spürbar zurückgeht. Für mindestens ein Jahrzehnt werde diese Flucht der „Classe media“ andauern. Derzeit sind zehn Mega-Projekte im Bau, jedes mit durchschnittlich 1300 Villen-Geländen. „Pionier“-Ghetto Sao Paulos war Alphaville, gegründet vor fast dreißig Jahren – heute eine Stadt mit rund vierzigtausend Bewohnern, einziges Condominio Brasiliens in dieser Größenordnung.

"Brazilianization"

Michel Lind, Buchautor, neokonservativer Herausgeber der US-Zeitschrift „The New Republic“, hat diese seit Jahrzehnten existierenden Sozialstrukturen nicht nur in Rio, sondern auch in São Paulo ausgiebig studiert,im Buch „The Next American Nation“ eine ernste Warnung an seine Landsleute gerichtet:“ Wir befinden uns in einem besorgniserregenden Prozeß der Brasilianisierung, hin zu einem tyrannischen System immer ungleicherer sozialer Klassen.“ Für Lind bedeutet Brazilianization, “daß sich die dominierende weiße amerikanische Klasse innerhalb der eigenen Nation noch weiter in eine Art Barrikadennation zurückzieht – in eine Welt abgeschirmter Viertel mit Privatschulen, Privatpolizei, privater Gesundheitsbetreuung und selbst Privatstraßen.“ Draußen das dekadente Amerika mit Ungleichheit und Kriminalitätsraten ähnlich  Brasilien, all die Miserablen, Bettler, Straßenkinder, drinnen die prosperierenden Mitglieder der herrschenden Oberschicht, mit all den Privilegien, die auch lateinamerikanische Oligarchien genießen. Und ebenso wie in Brasilien sei dann die Mehrheit der Schwarzen und Mischlinge in der Unterschicht anzutreffen – und zwar für immer.

Befreiungstheologe Frei Betto: "Luxusgefängnisse"

Brasiliens katholische Kirche hat die Abschottungs-und Ausgrenzungspolitik der Geld-und Politikerelite stets hart kritisiert – deutliche Worte kamen vor allem von dem deutschstämmigen Kardinal Aloisio Lorscheider und natürlich Dom Evaristo Arns in Sao Paulo, der die  „Sklavenhaltermentalität“ immer noch tief verwurzelt sieht. Schwarze, Mulatten sind in Brasilien die typischen Slumbewohner und werden mittels eines verdeckten Systems der Apartheid am sozialen Aufstieg gehindert. Der zu PR-Zwecken noch von jeder brasilianischen Regierung um die Welt geschickte Multimillionär, Ex-Fußballspieler und Ex-Sportminister Pelè ist jene Ausnahme, die die Regel bestätigt. Die Brasilianisierungsdebatte wurde auch durch Roberto da Matta, einen der bekanntesten, derzeit in den USA lehrenden brasilianischen Anthropologen bereichert. Michel Lind habe die Dinge korrekt charakterisiert, die hierarchische Gesellschaftsstruktur genau beschrieben:“Die Elite hat immer Paris, London und New York viel mehr geliebt; im Grunde genommen heißt, zur Brasiliens Elite zu gehören, Ausländer im eigenen Land zu sein.“ Als schwerwiegenden Problem sieht Da Matta, daß die Oberschicht Brasilien nicht mag, „und was man nicht gern hat, kann man nicht kultivieren, pflegen.“

Der befreiungstheologische Dominikaner Frei Betto nennt die „Condominios fechados“  ironisch Luxusgefängnisse:“Wir sind Fußball-Weltmeister, aber unglücklicherweise auch Weltmeister in sozialer Ungleichheit. Anstatt die Ursachen von Misere und Armut zu beseitigen, zieht Lateinamerikas Elite es vor, den eigenen Reichtum herauszustellen, baut deshalb diese Wohnanlagen, Inseln der Phantasie. Und wird dadurch auch noch Geisel des eigenen raffinierten Lebensstils – voller Angst vor denen auf der Straße, vor dem öffentlichen Raum. Die Stadt sollte Ort des Zusammentreffens, Austauschs, der Solidarität sein – wurde stattdessen  zur Geisel der Banditengewalt – mit Condominios provozierender Opulenz, eingekesselt von Misere.“ Damit die Slums nicht in so raschem Tempo weiterwüchsen, müßten mindestens zwanzig Millionen Wohnungen gebaut werden – doch dafür fehle jeglicher politische Wille. Brasilien sieht er im „unerklärten Bürgerkrieg“, mit über vierzigtausend Gewalt-Toten jährlich. Die Privilegiertenghettos mit hohen Mauern, Schilderhäuschen, elektronischen Überwachungssystemen, stromgeladenen Drahtverhauen – „eine schreckliche Tendenz“.  Vierundsechzig Prozent des Volkseinkommens seien in der Hand von nur zehn Prozent der Brasilianer, also von nur siebzehn Millionen. Gewalt, Entführungen, Überfälle würden nicht weniger, weil man die hohe Arbeitslosigkeit nicht bekämpfe – „eine vom IWF aufgezwungene Wirtschaftspolitik beibehalten wird, die Argentinien in die Pleite führte.“

Der Elite-Lebensstil spricht Bände: Die Begüterten bewegen sich in gepanzerten Limousinen oder Helikoptern, mit Leibwächtern fort, kaufen in gutbewachten Shopping Centers ein, arbeiten in abgeschirmten Bürokomplexen, wohnen in den Condominios fechados, was Status verleiht.

Ein Bauarbeiter, der solche Privilegiertenghettos miterrichtet, verdient nur umgerechnet zwischen siebzig Cents und zwei Euro die Stunde, wohnt deshalb an der ausgedehnten Slumperipherie.

Staatschef Cardoso ist gerne in den Condominios, die Slums meidet er, verdrängt die dortigen Zustände, den Banditenterror. Für Marcelo Rubens Paiva, Kolumnist der auflagenstärksten Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“, und Bestseller-Autor, ein  besonders kurioser Sachverhalt: Mann der  Oligarchien, Eliten ist heute Cardoso, in den 50ern eingeschriebenes KP-Mitglied, gleichzeitig Großgrundbesitzer und Soziologe, der sich immer noch gelegentlich rühmt, einst als Dozent in Frankreich auch Daniel Cohn-Bendit unterrichtet zu haben. Für Paiva führt  Cardoso heute eine Mitte-Rechts-Regierung aus Intellektuellen und Akademikern – auf dem Throne sitzend, schauten sie auf Brasilien aus der Distanz, seien der Ersten Welt indessen nahe.“ Vanilda Paiva, Schriftstellerin und Soziologie-Doktorin der Uni Frankfurt, schlußfolgert nicht zufällig, daß sich in der neoliberalen brasilianischen Gesellschaft  heute „Ultraarchaisches mit Ultramodernem mischt.“

rot-grüne Unsensibilität

Fernando Henrique Cardoso verstand sich mit Helmut Kohl prächtig, mit Schröder, Fischer, Trittin & Co. erst recht – Frei Betto geißelt deshalb Deutschlands rot-grüne Unsensibilität gegenüber den Verhältnissen in Brasilien. „Man nutzt unsere billigen Arbeitskräfte in den weit über tausend deutschen Unternehmen in Brasilien – und wieviele brasilianischen Firmen gibt es in Deutschland? Dort nur Büros, Vertretungen, aber keine Unternehmen, wie hier, wo sie unsere  Niedrigstlohn- Arbeiter ausbeuten.“ Auch auf der jüngsten Welternährungskonferenz habe Deutschland kein gutes Beispiel gegeben. „Deshalb frage ich, wie social-democratico sind jene, die denen, die unter Hunger und Misere leiden wie hier, einfach den Rücken zukehren.“

Unterdessen haben Sozialforscher und Demographen nachgezählt – über vier Millionen Nordamerikaner wohnen bereits in Condominios fechados a la Rio de Janeiro und Sao Paulo – auch in Johannesburg, Lagos und anderen afrikanischen Millionenstädten schreitet diese Art der Ghettoisierung munter fort.

Editorische Anmerkungen:

Der Autor schickte uns seinen Artikel am 16.7.2002 zur Veröffentlichung.

Er schreibt regelmäßig Berichte aus Brasilien, die er auch dem Trend zur Verfügung stellt.

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