Berichte aus Brasilien
Und jetzt, Tintenfisch?
Die lateinamerikanische Industrielokomotive Brasilien wird künftig von Ex-Gewerkschaftsführer Lula regiert - und einem Milliardär der stockreaktionären Eliten als Vize-Staatschef

von Klaus Hart
11/02
 
 
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In fetten Metallic-BMWs rauschen Luis Inacio da Silva und sein Gefolge zum Präsidenten-Amtssitz Brasilias, davor jubelnde Massen, mit Spruchbändern:"Willkommen, mein König, in Deinem Palast", nicht mal ironisch gemeint. Drinnen umarmen sich der frischgewählte, von jedermann nur Lula, Tintenfisch, genannte, und der Noch-Staatschef Fernando Henrique Cardoso wie uralte Kumpels, wie damals, als der heutige FU-Berlin-Ehrendoktor noch allen Ernstes KP-Mitglied war, sich mit dem gemeinen Volke, Figuren wie Lula abgab, die Folter-Diktatur bekämpfte. "Vergeßt alles, was ich bisher geschrieben habe", verkündet Cardoso 1994 bei seinem Wahlsieg, verbündet sich mit rechtsextremen Regime-Aktivisten von einst, reaktionärsten Oligarchen, holt sie in die Regierung, entpuppt sich als Zyniker, Opportunist, übelster Wendehals. Und Lula? Der radikale Linke, Ex-Gewerkschaftsführer, wandelt sich zum harmlosen Sozialdemokraten, macht ausgerechnet einen Milliardär und Großunternehmer, aus einer rechten Sektenpartei, zum Vize-Staatschef, fällt schon im Wahlkampf just jenen Oligarchen, Diktaturaktivisten um den Hals, bettelt sie um Unterstützung an.

reformistische Arbeiterpartei "hochkompliziert, heterogen, von inneren Kämpfen geschüttelt"

Da dreht sich, wie es aussieht, nicht nur Anita Prestes in Rio de Janeiro, Tochter von Olga Benario(1942 im KZ Bernburg vergast), der Magen um. Im Interview nennt es die gestandene Linke und Uniprofessorin nahezu unglaublich, daß zum ersten Mal in Brasiliens Geschichte einer aus dem Volke, ein früherer Arbeiter, zum Staatschef aufsteigt, betont den "hohen symbolischen Wert", legt aber mit schwersten Bedenken nach. "Lulas Arbeiterpartei PT ist sehr heterogen, hochkompliziert, von inneren Kämpfen geschüttelt - der die Parteiführung dominierende Flügel `Artikulation` will den brasilianischen Kapitalismus nur reformieren, will keinen Sozialismus mehr." Man könne darüber diskutieren, inwieweit die PT überhaupt links sei. Spannend werde sein, zu beobachten, wer sich demnächst in der Arbeiterpartei durchsetzt, die Oberhand gewinnt. Lula sitze in der Klemme - müsse schnellstens populäre Maßnahmen treffen, um Wahlversprechen nicht zu brechen, doch gleichzeitig sehr vorsichtig agieren: "Damit es ihm nicht so ergeht wie Allende." Dann erinnert sie an Maximen ihres Vaters, des legendären Kommunistenführers Luis Carlos Prestes: Wenn das Volk so stark zersplittert und unorganisiert bleibt, werde nichts gelingen. Und genau dies gelte auch für das heutige Brasilien. "Lula braucht Rückhalt im Volk - und der muß organisiert werden. Die Brasilianer, und selbst Teile der Unternehmerschaft, votierten nur aus Protest, aus Unzufriedenheit mit acht Jahren Cardoso-Regierung für Lula. Denn Cardoso förderte das spekulative Kapital, nicht das produktive." Erwartungshaltung liegt jetzt in der Luft, man spürt es, aber keine Aufbruchsstimmung. Die Lula-Regierung, so Anita Prestes, müsse jetzt dringlichst die Volksmassen politisieren, mobilisieren, Rückhalt organisieren - oder echte Reformen zu deren Gunsten werden nicht durchkommen.

Noch dazu ohne Mehrheit im Nationalkongreß, mit den Gouverneuren der wirtschaftlich und politisch wichtigsten Teilstaaten als Gegner.

Schwere Niederlagen bei Gouverneurswahlen - sehr elastische PT-Ethik

Lula gewann in der Stichwahl landesweit haushoch gegen den Regierungskandidaten José Serra von Staatschef Cardosos konservativer "Sozialdemokratischer Partei"/PSDB - doch dieselben Wähler votierten beispielsweise in Sao Paulo lieber für einen Gouverneurskandidaten just dieser PSDB - von siebenundzwanzig Gouverneuren sind künftig nur drei von der Arbeiterpartei, in unbedeutenden Regionen. Rio de Janeiro, zweitwichtigster Teilstaat, und auch die PT-Hochburg Rio Grande do Sul, wo der Weltsozialgipfel stattfindet, werden ab Januar nicht mehr von Lula-Companheiros regiert. Tudo imprevisivel, nichts ist voraussehbar - alles kann passieren, konstatiert Anita Prestes:"Der Widerstand des Großkapitals und der Latifundistas, aller traditionellen Eliten wird heftig sein - die gutorganisierten herrschenden Klassen haben weltweit ihre historischen Erfahrungen, wie man sowas effizient durchzieht", fügt sie bitter lachend hinzu. "Die wollen doch ihre Privilegien nicht verlieren."

Daß Lula - und Parteichef Josè Dirceu - Rechte, sogar Rechtsextreme der Diktaturzeit um Wahlunterstützung anbettelten, mit ihnen Bündnisse schlossen - ist das nicht Verrat an Prinzipien der Arbeiterpartei? "Die radikale Linke in der PT sieht das so - und auch für jemanden in Deutschland, für deutsche Begriffe von Politik, ist das einfach absolut unglaublich." Man stelle sich Politiker wie Ströbele, Gysi, Fischer oder gar Schröder im Schulterschluß mit Führern von CSU, DVU, NPD vor, gar gemeinsam auf Wahlkampfbühnen. "Aber in Brasilien läuft das eben ganz anders, hier sieht man das nicht so, auch Lula nicht, er ist schließlich kein Sozialist. Und was diese rechten Figuren im Gegenzug von Lula einfordern werden, weiß bisher noch niemand - denn natürlich hat diese Zusammenarbeit ihren politischen Preis."

Im zweitwichtigsten Teilstaat Rio de Janeiro wurde die Parteibasis von der nationalen Führung brutal überfahren, ein beispielloser Fall in der PT-Geschichte: 1998 bestimmt die Rio-Basis den angesehenen Linken Wladimir Palmeira, Widerstandskämpfer und Studentenführer während des Diktaturregimes, zum Gouverneurskandidaten - doch Lula und Dirceu verbieten die Kandidatur, peitschen die Sektenanhängerin Benedita da Silva durch. Zunächst ist sie Vizegouverneurin, seit Jahresbeginn Gouverneurin, regiert vorhersehbar desaströs. Anita Prestes:"Der Fall zeigte nur, daß es eben auch in der PT nicht demokratisch zugeht. Nur wer noch Illusionen über die Arbeiterpartei hatte, fand die damaligen Vorgänge negativ."

"Jetzt ist die Bourgeoisie gefickt"-Landlosenbewegung skeptisch

Nicht mal beim WM-Sieg feiern die Massen vor den Bankenpalästen der Avenida Paulista, Wallstreet Lateinamerikas in Sao Paulo, so überschwänglich karnevalesk wie in der Wahlnacht. "Jetzt ist die Bourgeoisie gefickt", skandieren Studentengruppen unentwegt. Doch auffällig, daß sich auf der rauschenden Wahlfete keine Sympathisanten der Rechtspartei PL von Lula-Vize Josè Alencar blicken lassen. Womöglich hätten sie ein paar aufs Maul gekriegt, wäre es zu schweren Handgreiflichkeiten gekommen. Beim Kurzauftritt auf der Bühne umarmt Lula den Milliardär, preist das Bündnis mit ihm als glückliche Verbindung zwischen Kapital und Arbeit - von unten schallen gellende Pfiffe. Nur zuviele Lula-Anhänger lehnen diese Allianz heftig ab. Alencar heuert unterdessen fleißig Rechte aus anderen Parteien an - bis Februar sollen aus den fast dreißig PL-Kongreßmitgliedern durch Übertritte mindestens fünfzig werden.

Die gutorganisierte Landlosenbewegung MST hielt im Wahlkampf aus taktischen Gründen still, verzichtete auf Farmbesetzungen, Massenproteste, ließ die Latifundistas, neofeudalen Sklavenhalter in Ruhe. Doch jetzt argumentiert der intellektuelle MST-Führer Pedro Stedile, daß überfällige soziale, politische, wirtschaftliche Veränderungen weniger von Lulas Bereitschaft abhängen, als vielmehr von der Mobilisierung des Volkes, das durch Druck auf einen wirklichen Bruch mit dem Bestehenden hinwirken müsse. Stedile meint damit vor allem Brasiliens unsäglich archaische Sozialstrukturen: Südamerikas industrielles Zugpferd ist zwar die immerhin zwölftgrößte Wirtschaftsnation, bei der Einkommensverteilung aber fast absolutes Schlußlicht - nur in Sierra Leone, der Zentralafrikanischen Republik und Swasiland ist der Abstand zwischen Reich und Arm krasser ungerecht. Beispiel Sao Paulo, größtes deutsches Wirtschaftszentrum außerhalb Deutschlands: Opulente Villenviertel, Privilegiertenghettos für wenige Prozent, doch riesige, entsetzliche Slums wie in Afrika und Asien, Bauarbeiter-Stundenlöhne von umgerechnet nicht mal zwei Euro, Massenarbeitslosigkeit. Und im Hinterland Sklaverei. Auf dem UNO-Index für menschliche Entwicklung steht Brasilien trotz seiner wirtschaftlichen Potenz nur auf dem 73. Platz, in puncto Pressefreiheit nur auf Rang 54. Jährlich werden über vierzigtausend Menschen aus politischen oder kriminellen Motiven ermordet, nur etwa acht Prozent der Täter zumindest ermittelt. Wie Deutschland mit einer solchen Gewaltrate aussähe, kann jeder erahnen. Denn das hieße: Über zwanzigtausend Morde pro Jahr, statt der etwa eintausend. Allein in Sao Paulo sind über eine Million Feuerwaffen illegal in Privathand.

Der MST, sagt Stedile, werde daher die Massen mobilisieren, damit das alles aufhöre. "Wenn Lula diese Botschaft versteht, wird er den Änderungsprozeß vorantreiben, von den Volksbewegungen unterstützt werden. Falls er aber versucht, das brasilianische Volk zu täuschen, indem er um Geduld bittet, wird er wie Argentiniens Präsident de la Rua enden." Der trat letztes Jahr zurück. Im Falle Brasiliens wären dann der milliardenschwere Vize Alencar und seine Sektenpartei am Ruder - unerwünschte, unerwartete Wechsel dieser Art gab es in der jüngeren brasilianischen Geschichte bereits mehrfach. Gilmar Mauro, ein anderer Landlosenführer, schloß nicht aus, daß der MST in Opposition zu Lula geht.

Lulas Vize Alencar - "ein übler Ausbeuter, von den Arbeitern gehaßt"

Doch auch mit dem bisher PT-nahen Gewerkschaftsdachverband CUT kann es Ärger geben: Lula will sich an den Verhandlungen über die von Washington favorisierte amerikanische Freihandelszone ALCA beteiligen - die CUT ist strikt dagegen, weil die ALCA lediglich wirtschaftlichen und hegemonialen Interessen der USA diene, Brasiliens Souveränität untergrabe, hauptsächlich schwere Nachteile, darunter Arbeitsplatzvernichtung, bringe. Dafür ging die CUT in der ersten Woche nach Lulas Wahlsieg bereits kämpferisch auf die Straße, verbrannte vor der Citibank Sao Paulos USA-Fahnen, legte mit der Landlosenbewegung, linken Parteien und katholischen Pastoralen auf der Avenida Paulista vor dem Sitz der Zentralbank den Verkehr lahm. Lulas Vize Alencar ist erklärter ALCA-Verfechter - bereits bisher exportiert sein Textilkonzern dank Billigstlöhnen, Sozialdumping kräftig in die USA. Auf der sehr kämpferischen Kundgebung wurde Alencar als übler Ausbeuter gebrandmarkt: In Fabriken des stark unterentwickelten Nordostens zahle er an neunzig Prozent der Beschäftigten monatlich nur umgerechnet höchstens 60 Euro - bei Zwölf-Stunden-Schichten. Das ist auch bei Brasiliens Durchschnittspreisen, die unter den deutschen liegen, ein Hungerlohn. Und seit Lulas Wahlsieg immer wahrscheinlicher wurde, sanken zwar die Börsenkurse der brasilianischen Unternehmen weiter, doch die Aktienwerte von Alencars Textilkonzern legten dagegen kräftig zu.

Auf der Kundgebung betonten die über viertausend Demonstranten auf Transparenten, in Sprechchören: Lula - brich mit ALCA und Weltwährungsfonds, die ALCA ist ein Projekt der Neokolonialisierung Brasiliens - und ironisch: "Wir sind alle Terroristen - wir sind alle gegen die ALCA!" Und auch die "Internationale" hörte man sehr lange nicht auf Sao Paulos Banken-Avenida - in Hardrock-Lautstärke dröhnte bis in die letzten Manager-Büros auf portugiesisch "Völker, hört die Signale, auf zum letzten Gefecht..."

Daß der bislang PT-nahe Gewerkschaftsdachverband CUT sofort nach Lulas Wahlsieg deutlich auf seine Autonomie pochte, Distanz zur neuen Regierung betonte und mit Streiks für eine Anhebung des Mindestlohns drohte, hat auch mit der Gegnerschaft zu Lulas Vize Alencar zu tun: Wie CUT-Führer gegenüber Trend erklärten, wird der Großunternehmer von den meisten Arbeitern seiner elf Fabriken direkt gehaßt. Wer vor allem in den Nordost-Betrieben nur damit liebäugele, in die Gewerkschaft einzutreten, oder angesichts der extrem niedrigen Löhne das Wörtchen "Streik" fallen lasse, werde sofort gefeuert. In aufgekauften Konkurrenzbetrieben habe Alencar sofort deutliche Lohnsenkungen verfügt. Wer sich weigern würde, die verfassungswidrigen Zwölf-Stunden-Schichten zu akzeptieren, wäre ebenfalls seine Stelle los. "Wer nach zwölf Stunden an den Textilmaschinen nach Hause kommt, ist körperlich erledigt, völlig kaputt." PT-Mitglieder vieler Fabriken waren deshalb heftig gegen Lulas Bündnis mit Alencar. Für sie und die ganze CUT ist geradezu lächerlich und peinlich, daß Lula und die PT-Spitze diese Tatsachen verschweigen, Alencar nur in den höchsten Tönen als "Parceiro ideal", idealer Partner, loben, landesweit entsprechende PR machen. Lula wörtlich:"Unsere Vereinigung ist ein Bündnis der Ethik, des Charakters, der Verpflichtungen gegenüber dem brasilianischen Volk, gegenüber der nationalen Industrie und Landwirtschaft."

Sozialistische Internationale mag Lula

Lulas "Schatten" Josè Dirceu, der die Arbeiterpartei mit eiserner Hand dirigiert, von der PT-Linken für Entpolitisierung, Sozialdemokratisierung und Annäherung an die Sekten verantwortlich gemacht wird, räumt ein:"Das erste Amtsjahr 2003 wird ein Krisenjahr, mit geringen Manövriermöglichkeiten - wir rechnen mit Streiks, Protestkundgebungen." Denn auch wegen der harten Auflagen des Weltwährungsfonds sind die Haushaltsmittel für Soziales, den zur Priorität erklärten Kampf gegen den Hunger, für überfällige Lohnerhöhungen, Investitionen, die Schaffung von Arbeitsplätzen sehr gering sein wird. Ein Firmenboß stellte unverblümt klar, daß die Unternehmerschaft sofort "in Opposition" gehen werde, "falls die Lula-Regierung falsche Dinge tut."

Doch bisher läuft mit Lula alles wunschgemäß, reagieren Markt und Börse optimistisch, Auslandsschulden werden auch weiter brav beglichen.

Richtig zufrieden über den Kurswechsel der Arbeiterpartei ist indessen nicht nur das Kapital, sondern auch die Sozialistische Internationale. "Lula ist ein wahrer Sozialdemokrat", schwärmt Frankreichs Sozialistenführer Francois Hollande,"die PT hat ihren Platz in der SI, wird ihr nützlich sein."

Und Großbritanniens Botschafter Roger Bone erklärt in Brasilia:"Lula und Blair haben annähernd die gleiche Ideologie."
 

Editorische Anmerkungen

Der Autor schickte uns seinen Artikel  mit der Bitte um Veröffentlichung. In den letzten trend-Ausgaben schrieb er über

Jagen wie bei Hermann Göring
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Ost-Umweltklischees und die Fakten
Truppenübungsplätze von NVA und Sowjetarmee waren Naturrefugien

Er schreibt regelmäßig Berichte aus Brasilien, die er auch dem Trend zur Verfügung stellt.

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