Berichte aus Brasilien
Musik-Supermacht Brasilien (Teil 5)
Klassisches im Sambaland -
mehr verankert, als man denkt
John Neschlings lateinamerikanische Klassik-Kulturrevolution

von Klaus Hart

10/02   trend onlinezeitung Briefe oder Artikel info@trend.partisan.net ODER per Snail: trend c/o Anti-Quariat 610610 Postfach 10937 Berlin
 Mancher mag vorschnell denken, Brasilien ist das Land des Samba, aber doch nicht der klassischen Musik! Und dürfte, etwa als Kulturtourist vor Ort, erstaunt sein. 137 Sinfonieorchester , in einer 17-Millionen-Stadt wie Sao Paulo an die zwanzig Klassikkonzerte pro Woche, ein jährliches Opernfestival gar in der Urwaldmetropole Manaus, in Amazonien. Die Verbindungen brasilianischer Dirigenten, Solisten, Konzertmusiker zu Deutschland sind eng, aus keinem anderen Land gastieren so viele Orchester und Solisten in Brasilien. Und John Neschling, 55, Neffe Arnold Schönbergs, seit 1997 Dirigent des Sinfonieorchesters von Sao Paulo, hat eine regelrechte Klassik-Kulturrevolution ausgelöst – durch ihn besitzt Lateinamerika erstmals ein Orchester von Weltgeltung, internationalem Niveau, das dieses Jahr erstmals  in den zwanzig  besten Konzertsälen der USA auftritt, nächstes Jahr in Deutschland. Kurt Masur ist alle zwei Jahre Gastdirigent. Alle anderen Klangkörper Brasiliens, Lateinamerikas müssen sich jetzt an Neschlings Orchester  messen lassen – das gab einen enormen Qualitätsschub.

Die mit Abstand meistgespielte Musik in der drittgrößten Stadt der Welt, Sao Paulo, ist nicht von irgendeinem Sambakomponisten, sondern von Beethoven. Man entgeht ihr nicht – auch nicht bei Temperaturen von über vierzig Grad im Schatten. Sitzt Klassik-Experte Irineu Franco Perpetuo am Computer, um Konzertkritiken oder ein neues Buch zu schreiben, kann er sie ebenfalls nicht überhören.  „Für Elise, von Beethoven, ist die Erkennungsmelodie dieser vielen Lastwagen, die Gasflaschen verkaufen, zu den Leuten bringen, ständig durch Sao Paulo fahren. Für Elise hört man wirklich die ganze Zeit. Das Stück wurde nicht zufällig ausgewählt, es ist hier einfach sehr bekannt, leicht zu identifizieren.

Mozarts, Beethovens, Schuberts, Wagners

Nicht das einzige Kuriosum. „Der Brasilianer ist bei der Namensgebung sehr kreativ, würdigt gerne Persönlichkeiten. Deshalb trifft man hier viele Mozarts, Rossinis, viele Beethovens, Schuberts – und das zeigt, daß diese Komponisten eben auch in der brasilianischen Kultur verankert sind, wichtiggenommen werden. Wer seinen Sohn Mozart nennt, kennt vielleicht nicht das ganze Werk Mozarts, aber weiß eben, daß der ein genialer Musiker war.“

Schon vor der Wiedervereinigung waren die beiden Deutschländer in der brasilianischen Musikszene Synonym für Qualität – viele Brasilianer studierten auch an der Hochschule für Musik „Hans Eisler“ in Ostberlin.

Neschlings Konzertbahnhof

Im  alten riesigen, palastartigen  Bahnhof von Sao Paulo spielt sich 2002  unverkennbar ein Sinfonieorchester ein. Hinten fahren Züge ab, vorne in der  Bahnhofshalle tritt John Neschling ans Pult. Die Halle, man muß es sehen und vor allem hören – wurde aufwendig umgebaut, zählt heute zu den  besten Konzertsälen der Welt, mit hervorragender Akustik. Neschling hebt den Taktstock – für ihn und das Orchestra Sinfonica do Estado de Sao Paulo/OSESP sozusagen ein historischer Moment.  Erstmals nimmt ein lateinamerikanisches Orchester für eine große europäische Plattenfirma Sinfonien brasilianischer Komponisten auf – inzwischen  ist die erste von insgesamt zwölf CDs  auch in den deutschen Läden. Noch 1997, als Neschling nach Sao Paulo kam, völlig undenkbar. “Als ich berufen wurde, stellte ich eine ganze Serie von Forderungen, war überzeugt, die werden nie akzeptiert. Schließlich verlangte ich einen Konzertsaal nur für das Orchester. Denn den gab es bisher nicht, die Musiker verdienten schlecht, die Arbeitsbedingungen unter jeder Kritik. Das in Sao Paulo, Lateinamerikas wichtigster Stadt. Und außerdem - es gab  überhaupt keine Nachfrage nach einem lateinamerikanischen Orchester in Europa oder Amerika, man hielt die hiesigen für absolut zweitrangig.“  Doch Neschling, Sohn österreichischer Juden, die 1938 vor den Nazis nach Rio flüchteten, hatte Glück – einflußreiche Leute der Teilstaatsregierung wollten ein ordentliches Sinfonieorchester, und sei es aus Gründen des Imagegewinns. „Ich bin überzeugt, diese Politiker hatten keine Ahnung, wie weit das führen kann – wenn man so einen Elefanten erst einmal zum Traben bringt.“ An die achtzig Leute saßen zuvor nur im Konzert – weniger als oben im Orchester. Längst vorbei. Heute ist Neschlings OSESP ein Hit, hat über 5000 Abonnenten, man muß sich sehr rechtzeitig um Karten kümmern, wie bei Popstars. „Wir sind jetzt über dreihundert Leute, die in diesem Projekt, dieser `Fabrik` arbeiten,  die voriges Jahr für 180000 Leute gespielt hat. Die internationalen Plattenfirmen laufen uns nach.“ 2002 Jahr holte Neschling zudem an die 18000 Kinder in den Bahnhof – ebenfalls bisher einmalig. Das Orchester – auch darauf ist Neschling stolz  - zudem  eine Augenweide.

„Maestro mit der eisernen Hand“— Feinde, Neider

Jedes Konzert muß mindestens dreimal wiederholt werden, der Saal stets ausverkauft. Neschling sprudelt vor Energie, Temperament, Willen, Ehrgeiz – stellt an sich, aber auch die Musiker höchste Ansprüche. In einem Land des Laissez-faire nennt ihn deshalb die Presse den „Maestro mit der eisernen Hand“, autoritär, gefürchtet.

„Die Musiker mußten sich auf meine  Arbeitsweise einstellen - deswegen kam es zu Konflikten. Denn ich habe  das Orchester wirklich umgekrempelt habe, über die Hälfte entlassen, die Hälfte neu berufen. Denn es wird einfach mittelmäßig, wenn einer weiß, die nächsten vierzig Jahre garantiert am vierten Pult der Violinen zu sitzen. Künstler müssen jedes Jahr beweisen, daß sie wirklich gut sind, bei jedem Konzert. Man sagt ja auch im Theater, in der Oper, das Stück sei so gut wie der schlechteste Schauspieler. Aber soziale Sicherheit muß da sein – jemanden von einem Tag auf den anderen auf die Straße setzen, das geht nicht“, betont er im Interview.

  Neschling, in Rio, Wien, den USA aufgewachsen,   mußte einen Teufelskreis durchbrechen – sozusagen erst einmal das Ausland von der OSESP-Qualität überzeugen, um dann auch von den Brasilianern akzeptiert zu werden.

Durch ihn  verdienen die Musiker heute das dreifache –  umgerechnet über 2500 Euro – im Billigstlohnland Brasilien ein hervorragendes Gehalt. Auch Neschling verdient nicht schlecht, ähnlich wie Dirigenten in Europa. Der Erfolg schuf ihm Feinde und Neider, die keinen Pelè oder  Ronaldo, keine Popstars oder Banker  wegen ihrer Jahres-Millionen attackieren würden – aber gegen Neschling wegen dessen vergleichsweise harmlosen Salärs eine üble Medienkampagne starteten. Ohne Erfolg.

 Nur ein Orchester leiten? Das ist jemandem wie Neschling zu wenig: Er gründete eine Musikakademie für den Nachwuchs, einen sinfonischen und einen Kinderchor, einen Verlag, ein Dokumentationszentrum – alles lebte auf in einem völlig heruntergekommenen alten Stadtteil, macht ihn wieder attraktiv. „Die meisten Top-Musiker Brasiliens sind schon bei uns – viele, die in erstklassigen Orchestern Nordamerikas und Europas spielten, weil in Brasilien für sie kein Platz war, kamen zurück, spielen jetzt im OSESP.

Hat  sein Orchester eine typisch brasilianische Klangfarbe?

“ Nur wenn wir brasilianische Musik spielen –  denn gäbs die bei Brahms, wärs schlecht. Andererseits muß ein gutes Orchester eine eigene Klangfarbe haben – und entwickeln: Die Streicher sind manchmal dunkler, manchmal heller, oder virtuoser, wärmer oder unterkühlt. Die Bläser eher amerikanisch, europäisch, mit präziserem Einsatz, oder  eher französisch oder deutsch – das gibts alles. Ich möchte  ein Orchester aufbauen, das sozusagen die besten Qualitäten aller  Länder hat: Den warmen Klang der  Wiener oder Leipziger Streicher, aber mit der Virtuosität der Chicagoer -   dazu eher amerikanisches Blech, aber mit der Weichheit  des deutschen. Doch das  Schlagzeug muß brasilianisch sein, sehr brasilianisch.“

Wer kennt Santoro, Mignone, Guarnieri, Villa-Lobos, Krieg?

Kurios, er, der Weltbürger, legt sich für die selbst  im eigenen Land verkannten, mißachteten brasilianischen Komponisten – wie Claudio Santoro oder  Francisco Mignone, ins Zeug.  Ein Camargo Guarnieri habe dieselbe Qualität wie Prokoffjew oder Hindemith oder Schostakowitsch. „Nur kennt kein Mensch Camargo Guarnieri!“, ärgert er sich heftig.

Kritik an der Mitte-Rechts-Regierung des Staatschefs und FU-Berlin-Ehrendoktors Fernando Henrique Carcoso? „Absolut! Brasiliens Kulturministerium ist eigentlich inexistent – ohne Idee, Ideologie, Geld wird aus dem Fenster geworfen. Neschling erleidet dasselbe Drama wie Musiker, Komponisten, Bands der Musica Popular Brasileira, die von den eigenen Leuten zuhause, Betonköpfen, engstirnigen Managern, der laut Chico Buarque „kulturlosen Elite“ blockiert werden, keinen Rückenwind, keine Unterstützung bekommen – etwa für Auslandsauftritte, die Brasiliens Ansehen als Musiksupermacht nützen würden. So viele Musiker und Komponisten, die  keine Lobby haben. „Meine Idee, Absicht ist, diese Lobby jetzt zu schaffen – Platten brasilianischer Komponisten aufzunehmen, brasilianische Orchester in die ganze Welt zu schicken.“

An Auslandserfahrung mangelt es Neschling wahrlich nicht, er dirigierte – und dirigiert – in Berlin, Hamburg, Lübeck, Stuttgart, Bonn, Rom, Neapel, Palermo, Wien, Genf, Bordeaux, Washington, ob als Gast oder fest engagiert.

Brasilien, annähernd so groß wie Europa, sehr widersprüchlich. Elftgrößte Wirtschaftsnation, aber noch Teil der Dritten Welt, enorme regionale Unterschiede. Misere wie in Afrika und sogar noch Sklaverei.  Doppelt so viele Einwohner wie Deutschland, immerhin jene 137 Sinfonieorchester – doch 95 davon und fast alle nennenswerten Konzerte im Südosten, in den Teilstaaten Sao Paulo, Minas Gerais und Rio de Janeiro. Dort stehen die meisten Fabriken, Banken, Hospitäler, dort wohnt die zahlungskräftige Mittel-und Oberschicht, die Klassik-CDs kauft, sich die besten Orchester  des Auslands holt. Da kostet die billigste Karte umgerechnet vierzig Euro – mehr,  als fünfzig Millionen Brasilianer im Monat verdienen. Anders bei John Neschling. Er  setzte bei der Staatsregierung  durch, daß die meisten OSESP-Karten  höchstens umgerechnet fünf Euro kosten, die teuersten fünfzehn. Ähnlich wie vor der „Wende“ in Osteuropa. Neschlings  Publikum ist absolut nicht elitär, sogar Leute aus den Slums sind darunter. „Ich meine,  in Brasilien ist es heute politisch wichtig, daß ein Großteil der Bevölkerung diese Musik hören kann, die er nie hörte. Mein Saal ist heute der demokratischste in Südamerika. Es kommen alle, wirklich alle Klassen, und hören alle den Kurt Masur hier für ein Zehntel des Preises  von New York. Das ist mir wichtig, das habe ich als Bedingung gestellt.“

Authentisches Publikum

Wie reagiert das Publikum, anders als in Europa, in Deutschland?

“Ich spüre, daß es hier vielleicht aufrichtiger reagiert als woanders  -  manchmal überreagiert, manchmal zu enthusiastisch, auch wenn die Qualität nicht so gut ist. Man weiß noch nicht ganz genau, was phantastisch ist und was nicht.Vor jedem Konzert spreche ich ja  zum Publikum, erzähle n`bißchen die Geschichte der Musik, die wir spielen, und auch die des Orchesters. Das hat ein Riesenerfolg hier, die Leute fühlen sich als Teil der Orchester-Familie. sagen, `unsere` Musiker“. Seit Neschling, man siehts auch in den Medien, ist klassische Musik auf einmal ein Thema in Brasilien, wird zunehmend höher bewertet.

Filmmusik, Sambas für großes Orchester

Deutsche Komponisten von heute, zu Gast in Brasilien, waren geschockt über den unglaublichen Krach in Brasiliens Städten – dazu die Billigstpopmusik in Supermärkten, Aufzügen. Das nervt auch Neschling:“Fünfundneunzig Prozent von dem, was wir täglich hören müssen, ist Scheiße. Sogar in Neapel, ich habs grade erlebt, hat die Präfektur überall Lautsprecher angebracht, spielt nur Schweinemusik, einfach furchtbar.“ Das heißt keinesfalls, daß Neschling, wie im Elfenbeiturm, nur Klassisches erträgt und akzeptiert. Immerhin komponiert er seit Jahrzehnten Filmmusik, sogar für Brasiliens hochpopuläre allabendliche Telenovelas, mag Jazz und natürlich besten Samba, von Chico Buarque, Edu Lobo, Ivan Lins, Guinga. Und bringt es fertig, seine Musiker einen ganzen Abend lang nur Samba, Bossa Nova und Karnevalsmusik, in eigenem, vorzüglichsten Orchesterarrangement spielen zu lassen, daß der Bahnhof in Schwingungen gerät. Natürlich muß Chico Buarques „Würdigung eines Gauners“ mit dabeisein – Anspielung auf die politischen Zustände von heute – auf tiefkorrupte Kongreßabgeordnete, Regierungspolitiker, Kandidaten, Polizisten, Unternehmer...

Über letztere Klasse hat sich Neschling grade schwarzgeärgert. Zum ersten Mal für Brasilien,  wollte er Wagners „Ring“ sinfonisch aufführen, fand jedoch nicht einen einzigen Sponsoren:“Eine Schande für das nationale Unternehmertum – ich mußte das Projekt notgedrungen wieder abblasen. Ich habe auch bei allen großen deutschen Firmen hier angeklopft, die in Brasilien immerhin Vermögen verdienen – keine hat mir auch nur einen Pfennig gegeben. Das ist die Kultur der Mittelmäßigkeit.“

Neschling weicht offenem Streit nicht aus, legt sich an, sagt ganz erfrischend und notfalls  herrlich politisch unkorrekt, was er denkt – hängt an seiner Idee: „Brasilien ist so ein unglaublich musikalisches, so unglaublich talentiertes  Land – und verdient es einfach, eines der größten Orchester zu haben!“

Editorische Anmerkung

Der Autor schickte uns seinen Artikel  mit der Bitte um Veröffentlichung. Weitere Teile der Serie "Musik-Supermacht Brasilien" :

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Klaus Hart schreibt regelmäßig Berichte aus Brasilien, die er auch dem Trend zur Verfügung stellt.

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