Berichte aus Brasilien
Mit dem Arsch zum Publikum
Antisemitischer Theaterskandal in Rio de Janeiro
„Du verdammter Jude - zurück ins Konzentrationslager!“
Deutsch-jüdischer Regisseur Gerald Thomas reagiert unkonventionell

von Klaus Hart

09/03
 
 
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Ein Theaterskandal erster Ordnung, mit antisemitischem Hintergrund, schlägt derzeit in Brasilien hohe Wellen. Im Mittelpunkt - der in Rio de Janeiro geborene avantgardistische Regisseur Gerald Thomas, 49, Weltbürger, deutscher Jude mit deutschem Paß. Als Thomas bei der August-Premiere der von ihm inszenierten Wagner-Oper „Tristan und Isolde“ im alten, prunkvollen Opernhaus Rio de Janeiros von Teilen des Publikums antisemitisch beschimpft wird, reagiert er spontan, hat deshalb jetzt ein polizeiliches Ermittlungsverfahren wegen Obszönität in der Öffentlichkeit am Hals.

Im Opernhaus, an dessen Frontseite ganz groß der Name Goethe prangt, hatte es über zwanzig Jahre lang keine Tristan-Aufführung mehr gegeben - mit umso mehr Spannung wurde daher die Version des auch in Deutschland sehr bekannten Regisseurs erwartet. Beim Trend-Interview ist er sichtlich gezeichnet von dem Konflikt, oder besser, völlig fertig. “Es gab ein Publikum - und Nazis, Neonazis, Faschisten - die sind einfach unmöglich - und unfaßbar. Für diese Leute ist Wagner ein Gott - kein Mensch in dieser Welt soll bitte ein Gott sein. Und diese Leute, diese verrückten Leute waren da in der ersten, zweiten und dritten Reihe - und als ich beim Schlußapplaus auf die Bühne kam, konnte ich ganz deutlich hören, was sie da schrien: Du Jude, zurück ins Lager, Konzentrationslager, du Mörder. Zuerst habe ich gedacht, das ist doch ein Albtraum, das kann doch nicht wahr sein - ich bin doch in Brasilien. Zwischen zwanzig und dreißig Leute haben da wirklich diese Worte geschrien - Mörder, Jude, du verdammter Jude - geh zurück ins Lager. Und da hatte ich wirklich keine Alternative, da ist mir das Blut zu Kopf gestiegen, es war alles n`bißchen zuviel. Denn ich bin ein Jude, ich hab acht Leute in Auschwitz verloren. Ich hab noch viele Verwandte in Deutschland, in Würzburg und Wiesbaden, Berlin und überall. Und da habe ich eben gemacht, was ich gemacht hab - die Hosen heruntergelassen - und mich rumgedreht - mit dem Popo zum Rio-Opernhaus.“

Daraufhin erntete er von einem Großteil des beträchtlich elitären Premierenpublikums noch mehr Pfiffe, Buhrufe, Wutschreie als zuvor, wurde noch mehr beschimpft, sogar als Betrüger, Gassenjunge - ein Tumult, wie er in einer Oper Deutschlands wohl undenkbar wäre. Festzuhalten ist, daß sich die Attacken bedenklicherweise nur gegen ihn richteten, nicht gegen das von ihm geführte Ensemble, gegen die Sänger, gegen das Orchester - allesamt wegen ihrer Leistungen zumeist mit heftigem Applaus bedacht. Gerald Thomas ist umstritten, kann mit Protesten, mit Buhrufen des Publikums umgehen - doch antisemitisch attackiert zu werden - das war ihm in seiner Laufbahn noch nie passiert.

“Ich liebe Buhs, ich glaube, die sind viel mehr organisch als Applaus - der ist eigentlich eine Formalität. Und Buhs, organisch und gutgemeint, sind doch eine großartige Sache.“

Gerald Thomas zeigte seinen Gegnern den nackten Hintern - Zeitungen haben alle Phasen seiner Entblätterung in Farbe und Großformat abgebildet. Hätte er sich mit jenen, die ihn als Juden beschimpften, nicht auch verbal anlegen können, wäre das nicht besser gewesen?

“Ich hatte keine Stimme, um mich gegen die über tausend Leute, die ganze Schreierei, die Buhs, den Applaus durchzusetzen. Ohne Mikrophon wäre es nicht gegangen. Ich hätte schreien können, so laut wie möglich - man hätte es nicht gehört.“

Erst vor wenigen Jahren hatte Gerald Thomas Wagners „Tristan und Isolde“ in Weimar inszeniert - mit Erfolg.

“In Weimar lief alles in Ruhe, so pazifisch ab - das war doch die ehemalige DDR - nix ist passiert. Klar gab es ein paar Proteste. Neonazis waren auf der Straße, nicht in der Vorführung. Indessen - meine Weimarer Inszenierung war komplett anders - in die hatte ich keinen Sigmund Freud eingebaut. Ein Jude, ein Psychoanalytiker, ein Mann, der alles umgedreht, verändert hat. Seit Freud, ebenso wie seit Marx, Hegel und Kant und Descartes und Michelangelo und Leonardo da Vinci und Galileo sind wir nicht mehr dieselben. Diese Leute haben die Welt umgedreht. Und wenn Wagner, der Antisemit, und Freud, der Jude, auf der Bühne zusammentreffen - das ist doch sehr interessant.“

Während der Ouvertüre masturbiert eine Frau, Sigmund Freud konsumiert reichlich Kokain, hat Tristan und Isolde als Patienten. Die Kritik wirft Thomas vor, eine Spaßversion mit derart vielem Grotesken, Absurden, Unerhörten abgeliefert zu haben, daß einem die so nötige Konzentration auf Wagnersche Musik, auf den Text verlorengehe. Wagner sei in die Ecke geflogen, dafür stehe Gerald Thomas im Mittelpunkt. Die Operndirektorin verteidigt ihn - ein Kunstwerk erster Ordnung sei entstanden.

Thomas sieht sich in Brasilien wie einen Popstar behandelt, muß auf der Straße ständig Autogramme geben. Er hat Erfolg, wie im Ausland, brachte frischen Wind in die nationale Theaterszene, führte auch an Theatern, Opernhäusern von Berlin, München, Mannheim, Hamburg, Köln, Stuttgart Regie. In Brasilien mischt sich Thomas permanent auch ins politische Leben ein, hat in der Qualitätszeitung „Jornal do Brasil“ von Rio eine vielbeachtete provokante Wochenkolumne. „Wir erleben ein neues Mittelalter, in dem die Städte von Slums überwuchert werden.“ Das beste Beispiel hat er vor der Haustür - Rio ist leider nicht Havanna.

Nur dreimal wird Tristan und Isolde in Rio de Janeiro aufgeführt - schon beim zweiten Mal sah die Sache anders aus. Über 150, denen die Inszenierung nicht gefiel, gingen in der ersten Pause - aber jene, die blieben, applaudierten enthusiastisch. Brasiliens Wagnerfreunde sind nun neugierig, wie die zweite Tristan-Inszenierung dieses Jahres ausfällt. Die zu sehen, ist ein bißchen kompliziert. Denn der andere Tristan wird im November im ebenfalls wunderschönen alten Opernhaus von Manaus zu sehen sein. Die Zwei-Millionen-Stadt liegt mitten im Amazonasurwald, über viertausend Kilometer von Rio de Janeiro entfernt.

Editorische Anmerkungen

Der Autor schreibt regelmäßig Berichte aus Brasilien, die er auch dem Trend zur Verfügung stellt. So. z.B.: