Berichte aus Brasilien
Regierung will Aufklärung von Diktaturverbrechen verhindern - „Offenbar sollen schuldige Militärs geschützt werden“
von Klaus Hart
09/03
trend
onlinezeitungBriefe oder Artikel info@trend.partisan.net ODER per Snail: trend c/o Anti-Quariat 610610 Postfach 10937 Berlin Die neue brasilianische Regierung von Staatschef Luis Inacio Lula da Silva will derzeit sogar mit juristischen Mitteln die Aufklärung von Verbrechen der 21-jährigen Militärdiktatur(1964-1985) verhindern. Nicht nur bei brasilianischen Menschenrechtlern, sondern auch in Staatschef Lulas Arbeiterpartei selbst hat dies Unmut und heftige Proteste ausgelöst. Viele Angehörige von ermordeten, verschwundenen Diktaturgegnern hatten gehofft, daß nach dem Amtsantritt des als progressiv geltenden Ex-Gewerkschaftsführers Lula endlich die geheimen Archive der Streitkräfte geöffnet würden, um die Verbrechen des Militärregimes aufzuklären, Auskunft über das Schicksal der Opfer zu erhalten. Besonders optimistisch stimmte, daß die Bundesrichterin Solange Salgado erst im Juni die Regierung in einem Urteil sogar verpflichtete, die Geheiminformationen über den sogenannten „schmutzigen Krieg von Araguaia“ offenzulegen. Rund zehntausend Soldaten jagten Anfang der siebziger Jahre ganze 69 junge idealistische Diktaturgegner, die sich fernab der Städte im Hinterland Nord-und Nordostbrasiliens versteckt hielten. Mit dem Urteil der Bundesrichterin Salgada bekamen endlich jene Eltern von Verschwundenen Recht, die immerhin seit 1982 einen entsprechenden Prozeß geführt hatten.
“Eine historische Entscheidung der brasilianischen Justiz - und wohlbegründet“, betont die Menschenrechtsexpertin Myrian Alves gegenüber dem Trend, „denn unser Land kommt nur voran, wenn wir die Vergangenheit bewältigen. Und Araguaia war die wohl grausamste Aktion in der Geschichte der brasilianischen Streitkräfte. Doch was jetzt passiert, bedeutet einen bedrückenden politischen Rückschritt. Die Berufungsklage der Regierung desillusioniert uns stark, weil ja immerhin Mitglieder dieser Regierung einst als Regimegegner in der Araguaia-Region waren - darunter Josè Genuino, Präsident der Arbeiterpartei, damals Studentenführer. Noch vor wenigen Wochen hatte er die Öffnung der Geheimarchive gefordert. Doch Offiziere, die an den Verbrechen von Araguaia beteiligt waren, sind unterdessen in der Militärhierarchie aufgestiegen - und das könnte unerwünschten Ärger provozieren. Offenbar sollen schuldige Militärs geschützt werden.“
Die Menschenrechtsexpertin begrüßt besonders, daß Bundesrichterin Solange Salgado den Kreis der Opfer stark erweiterte.
“Bisher erhielten nur die Familien der Guerillheiros eine Entschädigung, nicht aber die Angehörigen jener ungezählten Kleinbauern der Region, an denen ebenfalls Greueltaten begangen wurden. Die Landbevölkerung von Araguaia wurde grausam unterdrückt, beraubt, Bauern wurden barbarisch gefoltert, sogar an ihren Hoden aufgehängt - viele starben an den Folgen der Mißhandlungen, andere verschwanden spurlos. Und niemand bekam ärztliche Hilfe. Noch heute haben die Leute der Araguaia-Region Angst, werden vom Militär kontrolliert und überwacht, das aufpaßt, ob jemand Informationen weitergibt. Da ist noch so vieles, was wir nicht wissen.“
Bewiesen sei aber, daß zahlreiche Regimegegner totgefoltert, geköpft oder über dem Meer lebendig aus Flugzeugen gestoßen wurden. Daß man die Leichen anderer verbrannte.
“Viele der Frauen und Männer von Araguaia lebten wie im Exil - in ihrem eigenen Land - andernfalls wären sie in den Polizeiwachen umgekommen. Unter den Diktaturgegnern befand sich ein Arzt, der deutschstämmige Dr. Raff - ein Mann, der hier Widerstandsgeschichte schrieb - seit mehreren Jahren erforsche ich sein Schicksal. Zu den Verschwundenen zählt auch ein Italiener, dessen Familie in Italien seit langem um Informationen über seinen Verbleib ersucht.“
„Macht der brasilianischen Militärs besorgniserregend“
Miryan Alves ist Mitarbeiterin von Luis Greenhalgh, Kongreßabgeordneter der regierenden Arbeiterpartei - kämpft mit ihm seit Jahrzehnten um die Aufklärung der Diktaturverbrechen - auch Greenhalgh protestiert scharf gegen die offizielle Begründung der Regierung, daß man weder alte Wunden aufreißen noch politischen Streit entfachen wolle, deshalb die Öffnung der Geheimarchive ablehne.
“Einfach lächerlich zu sagen“, so Miryan Alves, „die Streitkräfte seien doch heute so wichtig für die Verteidigung des Landes, beteiligten sich sogar an der Bekämpfung des Hungers - was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?“
Eine der angesehensten brasilianischen Menschenrechtsorganisationen, „Tortura nunca mais“ (Nie mehr Folter), wirft der Lula-Regierung in einer Erklärung sogar vor, keinerlei politischen Willen zu besitzen, die in Araguaia begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufzuklären. Die Macht der Militärs in der nationalen Politik sei besorgniserregend.
Editorische Anmerkungen
Der Autor schreibt regelmäßig Berichte aus Brasilien, die er auch dem Trend zur Verfügung stellt.
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