Berichte aus Brasilien
„Tote Last“
Brasiliens perverser Umgang mit alten Menschen
Entbehrungen, Routine der Gewalt, offene Diskriminierung

von Klaus Hart

04/03
 
 
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„Mein Schwiegervater ist in der elend langen Schlange vorm Stadthospital bei Tropenhitze tot zusammengebrochen“, sagt wütend Esdra de Freitas, 34, Bankangestellte in Sao Paulo, „mein Vater in Fortaleza wäre auch schon hinüber, wenn ich ihm kein Geld schicken würde.“ Dabei entlohnt sie die Großbank nicht gerade üppig - umgerechnet nur etwa fünfhundert Euro monatlich. Aber Papai bleibt wenigstens am Leben, weil er sich so die nötigsten Medikamente kaufen kann. Denn die Rente - etwa sechzig Euro - reicht kaum für die Nahrung - Brasilien hat annähernd europäisches Preisniveau. Ein „Glück“, daß Esdra de Freitas Eltern wenigstens mietfrei, in eigenen vier Wänden wohnen - an der Slumperipherie. Riesige Schlangen jeden Monat auch vorm Rentenschalter, wo ebenfalls regelmäßig Alte vor Erschöpfung umfallen, sterben. Viele europäische Reisende sehen nur die Traumstrände und Palmen, faszinierend schöne Menschen, die weltweit einmalige Rassenmischung, die Lebensfreude, nehmen wegen der besonders buntschillernden Oberfläche selten die unsozialen Schattenseiten wahr, am allerwenigsten das triste Schicksal der Alten. Sadistische Mißhandlungen, Morde, Psychoterror und sexueller Mißbrauch sogar in den Familien bleiben gewöhnlich unsichtbar - aber manchen abstoßend diskriminierenden Umgang mit alten Menschen bemerkt man doch: In der Banken-und Industriemetropole Sao Paulo, reichste Stadt Südamerikas, spannen sich sogar über siebzigjährige schwarze Frauen ächzend vor meterhoch mit Lasten beladene Karren, müssen so ihren Lebensunterhalt verdienen - eine Szene wie aus der Sklavenzeit, oder aus dem Indien der Rikscha-Kulis. In armseligen öffentlichen Krankenhäusern lümmeln sich Kinder, Jugendliche, junge Männer auf sämtliche Stühle der überfüllten Wartezimmer - Siebzig-und Achtzigjährige, manche sogar blind, auf einen Stock gestützt, müssen stehen. Im brasilianischen Hinterland kehren alte Männer und Frauen nach schwerer Feldarbeit unter heißer Sonne müde in ihr Dorf zurück, steigen in einen klapprigen Vorortbus - doch keinem der jungen Macho-Männer, die alle Bänke besetzen, fiele es auch nur im Traume ein, diesen „Velhinhos“ einen Platz anzubieten - man läßt sie sogar stundenlang stehen, macht sich darüber lustig, wie sie hin-und hergeworfen werden, wegen der vielen Schlaglöcher.

Nicht zufällig nennt auch Brasiliens befreiungstheologisch orientierte katholische Kirche den Umgang der Gesellschaft mit ihren Senioren geradezu „pervers“, prangert derzeit schonungslos Ungeheuerlichkeiten, wie die physische Eliminierung, den vorherrschenden Sozialdarwinismus an, die „tiefe ethisch-politische Krise“.

lächerliche Hungerrenten

Ein Blick auf das Rentenniveau sagt genug: In Brasilien, derzeit immerhin zwölftgrößte Wirtschaftsnation, vierundzwanzigmal größer als Deutschland, erhalten etwa achtzig Prozent der über Sechzigjährigen nur jene „Aposentadoria“ von umgerechnet rund sechzig Euro. Die Alten fühlen sich deshalb bestraft, minderwertig. Denn wer Arzneien nicht - oder nicht mehr - bezahlen kann, stirbt eben; und das sind selbst laut neuen amtlichen Angaben jährlich Hunderttausende, hingerafft durch Hepatitis, Diabetes, Bluthochdruck und andere Krankheiten. Und wie sollen alte Menschen von dieser Mini-Rente ihre Miete bezahlen - denn auch die winzigste Wohnung in den Städten, wo rund achtzig Prozent aller Brasilianer leben, kostet deutlich mehr als jene sechzig Euro. Wohngeld, Sozialhilfe - im de facto reichen Brasilien Fehlanzeige.

Nur zu viele bekommen wegen unüberwindlicher bürokratischer Hürden gar keine Rente, sind darauf angewiesen, bei Angehörigen, notfalls auch in der kleinsten Slumhütte zu wohnen. Und trotzdem, kaum zu fassen: Jede fünfte, zumeist kopfstarke brasilianische Familie lebt wegen der hohen Erwerbslosigkeit einzig und allein von dieser Hungerrente, um die deshalb häufig schreckliche Verteilungskämpfe entbrennen. Familienmitglieder, selbst drogensüchtige Enkel, nehmen den Alten die Magnetkarte zum Abheben der Rente weg, bemächtigen sich des Geldes, schüchtern durch Drohungen oder sogar Schläge ein, verhindern eine polizeiliche Anzeige. In den riesigen, weiter rasch wachsenden Slums läßt sich der Staat ohnehin nicht blicken - und wo sollten die Alten sonst hin? Selbst in den schlimmsten, primitivsten Asylen fehlen Plätze - Senioren, die sich etwa in Rio de Janeiro wegen Mißhandlungen an ein durchaus vorhandenes Spezialdezernat für solche Fälle wenden, wissen, daß sie danach zu den Tätern zurückkehren müssen - und sie womöglich noch Schlimmeres erwartet. ----immer mehr Brutalitäten gegen Ältere-

Gemäß neuesten Untersuchungen nimmt in den brasilianischen Familien der Sadismus gegen alte Menschen ständig zu. Allein 2002 wurden danach mindestens fünfzehntausend Opfer gezählt - geschlagen, gefoltert, zum Selbstmord getrieben, sexuell mißbraucht. Bei einer Bevölkerungszahl nur etwa doppelt so groß wie die deutsche, insgesamt weit über vierzigtausend Morden jährlich. Regelmäßig zeigt das Fernsehen, mit versteckter Kamera aufgenommen, wie selbst Hausangestellte, Hauspflegerinnen sogar Neunzigjährigen schwere Verletzungen, Knochen-und Wirbelbrüche zufügen, an denen diese schließlich sterben. „Brasilien hat natürlich Gesetze, die die alten Menschen schützen“, betont der Staatsanwalt Henrique Rodrigues, „nur fehlt der politische Wille, diese Gesetze auch tatsächlich anzuwenden.“

Ob sich unter dem neuen, sozialdemokratischen Staatschef Luis Inacio „Lula“ da Silva für die „Idosos“ etwas bessert? Drei Monate nach dem Amtsantritt im Januar 2003 überwiegt Skepsis. Unter der neuen Mitte-Rechts-Regierung, analysieren selbst Kommentatoren bürgerlicher Qualitätszeitungen, „profitieren Banken und Spekulanten noch mehr als vorher - während die Kaufkraft der Beschäftigten und Rentner ruiniert wird, die Einkommenskonzentration aber weiter zunimmt.“ Der Weltwährungsfond jedenfalls ist mit Brasilia bisher sehr zufrieden. Ex-Gewerkschaftsführer Lula bricht Wahlversprechen, wiegelt ab:“Ich bin überzeugt, daß wir in vier Jahren nicht jene großen Dinge realisieren werden, von denen ich träumte.“

Städte extrem altenfeindlich- kaum Rücksicht auf Schwächere

In Paris, Moskau, Wien oder München sitzen auffällig viele Senioren tagsüber in den Parks, treffen sich zu Gesprächen, gar zum Schachspielen, werden natürlich von jedermann respektiert. Das Gegenteil in Brasilien - selbst bei wundervollem tropischen Sonnenschein sieht man nur wenige auf der Straße, in Cafe`s, gar in den wenigen grünen Oasen der chaotischen, direkt altenfeindlich gestalteten Städte: Kein Wunder - alte Menschen sind bevorzugtes Opfer krimineller Kinder-und Jugendbanden, die Rentner brutal zu Boden treten, aus dem Rollstuhl zerren, sogar töten, um an deren Geldbörse zu kommen. „Anders als in Cuba“, so der brasilianische Befreiungstheologe und jetzige Präsidentenberater Frei Betto, „haben wir keine öffentlichen Räume, wo sich alte Menschen treffen können - für Lektüre, Sport, Spiele, künstlerische Betätigung, Tanzen.“

Im „unerklärten Stadtkrieg“ Brasiliens sind etwa bei Feuergefechten rivalisierender Gangstermilizen gerade alte Menschen besonders betroffen, weil sie nicht so rasch fliehen können wie die Jüngeren. Im März 2003 überziehen die Gangstersyndikate vor und während des Karnevals Rio de Janeiro mit Terror, demonstrieren ihre Parallelmacht, stoppen weit über fünfzig überfüllte Busse, zünden sie an. Eine Siebzigjährige unter den Fahrgästen wird zur lebendigen Fackel, kann nicht rasch genug entkommen, stirbt an den starken Verbrennungen. Andere betroffene Senioren liegen mit Lebensgefahr noch in Hospitälern.

Außerdem der Verkehr - etwa in den beiden wichtigsten, „modernsten“ Millionenstädten Sao Paulo und Rio de Janeiro nimmt er so gut wie keine Rücksicht: Zebrastreifen werden mißachtet, die Grünphasen der Ampeln sind meist viel zu kurz. Die öffentlichen Busse - auffällig altenfeindlich konstruiert. Auch Sao Paulos angeblich „progressive“ Präfektin Marta Suplicy, Vizechefin der Arbeiterpartei PT von Staatspräsident Lula, hat offensichtlich kein Herz für Alte: Weil der im Vergleich zu Deutschland irrsinnig laute und chaotische Autoverkehr von den PT-Autoritäten einfach nicht humanisiert wird, bleibt die Luft der Megametropole hochgradig abgasvergiftet, schlägt nicht nur auf die Atemwege, schädigt besonders die Gesundheit, das Immunsystem der Senioren, kostet jährlich Tausende von ihnen das Leben, läßt die Krebsrate klettern.

In Deutschland schwingen sich sogar noch Achtzigjährige aufs Fahrrad, nutzen das Radwegenetz - doch in Sao Paulo verhindert die elitäre PT-Präfektin Suplicy „Ciclovias“, begünstigt den Individualverkehr der Bessergestellten, einer Minderheit. Nur wenige Jüngere, doch niemals „Idosos“ trauen sich deshalb in den Sattel.

Hardrock-Konzerte, Rap-und Techno-Massendiscos, alles „open air“ in unmittelbarer Nähe von Altersheimen - brasilienweit nicht ungewöhnlich; nur zu oft quartieren geriatrische Kliniken ihre Schwerkranken deshalb jedesmal um. Typisch auch eine Familienszene wie diese: Die alte, schwerkranke Großmutter hockt zusammengesunken am Küchentisch, doch die zwölfjährige Enkelin dreht neben ihr die Musikanlage auf volle Lautstärke - mit HipHop. Keiner schreitet ein, verschafft der Alten Ruhe.

Nur zu viele Senioren sitzen daher nur noch zuhause alleine im Halbdunkel vor dem Fernseher, warten auf den Tod.

„Dieses Wirtschaftssystem“, so die Kirche „betrachtet den Alten als tote Last, der nicht mehr produziert, nicht mehr konsumiert wie zuvor - diese Gesellschaft himmelt nur den Profit, die Jugendlichkeit an, schließt deshalb die älteren Menschen aus, als seien sie völlig wertlos.“ Vorurteile gegen Alte seien heute stärker als rassistische - es gebe eine regelrechte „stillschweigende Konspiration“ gegen die ältere Generation.

Bizarre Lage in Slums

Die schwarze Olga Benedita Maria, 35, ausgebildete Psychologin und Pädagogin, macht in einem Slum Sao Paulos kirchliche Sozialarbeit, leitet eine „Pastoral de Idosos“. Und muß täglich mit Extremsituationen fertig werden. „Alte sterben selbst in den Familien wegen Mißhandlungen, unterlassener Hilfe. Viele wissen nicht wohin, hausen unter Brücken, in irgendeinem Asyl - weil sich Angehörige ganz brutal deren Wohnung und Besitz aneigneten. Andererseits gerade in den Slums viele positive Gegenbeispiele. „Wir sagen dort allen: Sind alte Menschen gut in die Familie integriert und können ihre Lebenserfahrung weitergeben, werden die Kinder nicht drogenabhängig, prostituieren sich nicht, rutschen nicht ins Verbrechen ab.“ Schließlich eine der familiären Hauptsorgen in Slums, die durchweg von neofeudalen Banditenmilizen dominiert werden. Wenn Sozialarbeiter wie Olga Benedita Maria in solchen Slums bemerken, daß ältere Menschen von jungen Leuten mißhandelt werden, diese gar Sozialarbeiter attackieren, entsteht eine bizarre Situation:“Da bleibt uns nichts weiter übrig, als mit dem Gangsterchef zu sprechen - denn der herrscht absolutistisch, spielt manchmal den Sozialhelfer für alleinstehende Alte, hilft uns mit Sicherheit, greift sich die Täter. Und verwarnt sie nach dem Motto - noch einmal sowas, und du weißt, was Dir passiert!“ Das wirkt - denn zu den üblichen drakonischen Strafen der Banditenbosse zählen Foltern, Handabhacken, Kastrieren, lebendig Verbrennen, Exekutieren.

„Wenn alte Frauen und Männer an der Haltestelle winken, halten Busfahrer häufig nicht an, preschen weiter - das ärgert mich maßlos“, so Olga Benedita Maria. „Wir machen häufig eine Anzeige - doch von den Busunternehmen keine Reaktion!“

Für wenige Prozent der älteren Brasilianer - nämlich die aus der Oberschicht, der „Classe dominante“ - gelten all diese Probleme nicht. Jene in den Reichenghettos wirken junggeblieben, sportlich, genießen ihren Ruhestand in vollen Zügen, haben die höchste Lebenserwartung.

Editorische Anmerkungen

Der Autor schreibt regelmäßig Berichte aus Brasilien, die er auch dem Trend zur Verfügung stellt. So. z.B.:

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