„Es war mir in Deutschland zu still“
Zum Gedenken an Dora Dick  (
5.2.1911 – 23.1.2012)

von Peter Nowak

02/12

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Aufmerksame Trend-Leser werden Dora Dick kennen. Häufiger hat ihr Sohn berichtet über den gemeinsamem Kampf um ein Leben in Würde. Es waren lange Auseinandersetzungen, die beide führen mussten. Mit der Eigentümerfirma Gagfah, mit rücksichtslosen Nachbarn, mit vielen Ämtern und den kommerziellen Haifischbecken Pflegedienste. Vor Kurzem ist Dora Dick im 101. Lebensjahr gestorben.

Es war eine Jahrhundertzeugin, die als Jüdin und Linke die deutsche Geschichte erlitten hat. Aber sie war kein Opfer, sie hat selber Geschichte geschrieben.

Noch bis kurz vor ihrem Tod summte sie im Takt das „Solidaritätslied“ oder den „Roten Wedding“, wenn ihr Sohn die Langspielplatten mit den Arbeiterliedern auflegte.

Dann wurden die Erinnerungen an die späten 20er Jahre wieder wach, als die junge Dora aus dem Scheunenviertel entdeckte, dass die Welt veränderlich ist und dass die sie ändern werden, die ein Interesse daran haben. So lautete ein Satz im letzten Teil des Films Kuhle Wampe, von dem zeitweise in der Wohnung der Eltern von Dora Dick im Scheunenviertel gedreht wurde.

Nicht weit entfernt war der Bülowplatz. Hier trafen revolutionäre Politik und avantgardistische Kunst zusammen: Auf der einen Seite des Platzes befand sich die Parteizentrale der KPD, auf der anderen die Volksbühne. Die junge Dora lauschte den Reden der Kommunisten mit ebenso großer Begeisterung, wie sie die Auftritte der Schauspieler verfolgte. Mit einer Schauspielerin freundete sie sich an. Sie weckte das Interesse der jungen Dora für die Marxistische Abendschule (MASCH).

Auch als Dora eine Lehre als Modellschneiderin am Berliner Nollendorfplatz aufnahm, blieb sie der Muse treu, besuchte das dortige Theater. Es hatte sich unter der Leitung des Regisseurs Erwin Piscator zu einer der avantgardistischsten Bühnen Deutschlands entwickelt. An die Aufführung von »Hoppla wir leben« von Ernst Toller kann sie sich noch gut erinnern.

Fast alle ihre Jugendfreunde sind schon lange tot, viele sind von den Nazis ermordet worden. Als Jüdin und als Linke war Dora Dick selbst in Nazideutschland doppelt gefährdet. Ihr Bruder wurde von den Nazis 1938 wie viele Tausend längst eingebürgerte ehemalige jüdische Einwanderer aus Polen an die Grenze zurück deportiert und abgeschoben. Danach verlor sich seine Spur. Die Schwester merkte immer mehr, wie allein die NS-Gegner waren. Dora Dick ging nach Prag und publizierte in der Exilpresse. Ins Gedächtnis eingebrannt hat sich ihr der Einmarsch der deutschen Wehrmacht. Als tschechische Bäuerin verkleidet, beobachtete sie, wie Panzer auf Panzer über die großen Straßen in die Innenstadt der tschechischen Hauptstadt einfuhren. Sie wusste, dass es für sie jetzt um Leben und Tod ging, Sie hatte keine Illusionen über den Umgang der Nazis mit emigrierten Deutschen.

Auf abenteuerliche Weise gelang ihr die Flucht nach Großbritannien. Dort war sie Mitbegründerin des »Freien Deutschen Kulturbundes (FDKB). Oscar Kokoschka, John Heartfield und Jürgen Kuczynski gehörten zu ihren Mitstreitern. In England kam auch ihr einziger Sohn zur Welt, mit dem sie nach dem Zweiten Weltkrieg zurück nach Deutschland zog. Sie setzte sich für einen demokratischen Neubeginn ein, engagierte sich in der Gewerkschaft und wurde Vorsitzende des Frauenausschusses der Westberliner IG Textil- Bekleidung.

Auch im hohen Alter verfolgt sie noch das politische Geschehen. 2007 stritt sie für die Umbenennung der nach den antisemitischen Historiker Treitschke benannten Straße in Berlin-Steglitz. Mit Sorge beobachtet sie Anzeichen von neuem Antisemitismus. »Eine Welt ohne Juden kann man sich nicht vorstellen«, sagt sie immer wieder. Sohn Antonín Dick hat in den letzten Jahren mit seinem Engagement der Mutter ein würdiges Leben in den eigenen vier Wänden ermöglicht und ihre einen Heimaufenthalt erspart. Aber auch nach ihren Tod hat er ein wichtiges Vermächtnis zu erfüllen. Er arbeitet an einem Erinnerungsband, in dem er das Leben der außergewöhnlichen Frau der Nachwelt erhalten. „Es war mir in Deutschland zu still“, lautet der Titel.

Editorische Hinweise

Den Nachruf erhielten wir vom Autor.  Das Foto stammt aus dem Privatbesitz von Antonin Dick.

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