Heute vor 70 Jahren flog die faschistische Luftwaffe die erste
große Angriffswelle gegen England. Der
13. August steht als »Adlertag« in
Geschichtsbüchern (und als »Anti-Adler-Tag« wegen des Baus der
Berliner Mauer am 13. August 1961). Am
24. August 1940 begannen die Bombenangriffe
auf die Londoner Bevölkerung, die Jahre dauern und
43000 Opfer fordern sollten. Zu diesem
Zeitpunkt war noch keine englische Bombe auf Berlin
gefallen. Hitlers Entscheidung zur Invasion in
Großbritannien erfolgte am 16. Juli
1940 mit »Weisung Nr. 16«.
Vorbereitet duch Militärschläge aus der Luft, sollten am 21.
September 1940 die britischen Inseln
besetzt sein. Als sich die Eliten des Dritten Reiches
militärische Fehlkalkulationen eingestehen mußten,
entschlossen sie sich, die britische
Bevölkerung mit einem »totalen Luftkrieg« in Furcht und
Schrecken zu versetzen. Luftwaffenchef Göring
versicherte am 14. September 1940
öffentlich, daß England in zwei Wochen »kapitulationsreif
gebombt« sei. Ein Mittel des Krieges in
seinen Zweck zu verwandeln, entsprach der
Ideologie der Nazis.
Meine Mutter Dora Dick erlebte die Angriffe als
antifaschistische Emigrantin im
Londoner Bezirk Hampstead. Hier hatten viele »Anti-Nazi-Refugees«
Zuflucht gefunden. Hampstead gehörte zu den
Arbeitervierteln im Osten und Norden
der Stadt, die am heftigsten bombardiert wurden. Meine Mutter:
»Das Emigrantenheim blieb unversehrt,
und da sind wir auch zuerst
hineingeflüchtet. Die Kinder schrien wie verrückt, drückten
den ganzen Wahnsinn aus, der uns umgab.
Wochenlang gingen die Bombenangriffe. Und wir
durften uns nicht im Freien sehen lassen, die Nazis
haben nur darauf gewartet. Wir wurden
von der Druckwelle auf die Bäume geschleudert, sind
unter Bänke gekrochen, die vor dem Heim standen, oder
in den erstbesten Keller geflüchtet.
Obendrein mußten wir aufpassen, daß sich keine Nazis
unter uns mischten, deutsche Spitzel, die unsere
Unterschlupfe ausfindig machen
sollten.«
Die Angst vor »The Blitz« ging um. Die Londoner stellten sich
auf ein Leben in Bunkern ein. In
Hampstead Heath, dem armen Teil des Viertels, gab es kaum
Bunker. Die Emigranten gruben sich selber welche. Unter
den niedrigen Kellern alter Häuser oder
im Freien. »Da unten sind wir dann
zusammengerückt, deutsche Emigranten und Engländer«, berichtet
meine Mutter. »Hast eine Decke um den
Körper gewickelt und bist da eingeschlafen. Und
mitten im Schlaf hast du einen Hieb gekriegt, hat dich
jemand geweckt, weil es weiterging, du
konntest da nicht bleiben, weil diese Strecke gerade stark
bombardiert wurde und die Bunker trotz unseres Fleißes
nicht tief genug gegraben waren. Wie
verrückt sind wir dann raus und um unser Leben gerannt.
Etlichen Menschen hat diese Flucht ins Freie das Leben
gekostet. Verletzte wanden sich
stöhnend und schreiend am Boden. Wir mußten sie auf den
mit Trümmern übersäten und
qualmenden Straßen zurücklassen.«
Die antifaschistischen Künstler Kurt Lade und Oskar Kokoschka
hielten das Leben in den Londoner
Bunkern in realistischen Bildern fest. Letzterer und
seine tschechische Freundin Olda Palkowská
demonstrierten den Überlebenswillen der
Nazibombardierten, indem sie in einem Bunker
heirateten. In den Monaten der Bombenangriffe auf die
Millionenstadt 1940 und 1941 wurde der
Bildhauer Henry Moore vom War Artist Committee
beauftragt, die in die U-Bahn-Schächte Geflohenen zu
zeichnen. »Unter der Erde machte ich
nie irgendwelche Skizzen«, sagte Moore. »Es wäre so gewesen,
als machte man Skizzen im Laderaum eines
Sklavenschiffes.« Mit diesem Bild hat
Moore, ohne daß er es hätte wissen können, den Kern der
Strategie hinter den mörderischen
Bombardements getroffen, die Planungen zur »Neuordnung«
Großbritanniens. Es sollte tatsächlich versklavt
werden. Vorgesehen war die Deportation
aller wehrfähigen Männer im Alter zwischen 17 und 45 Jahren
zur Zwangsarbeit auf den Kontinent.
Bereits am 15. Juli 1940, einen Tag vor »Weisung Nr. 16«,
plante die »Volkswirtschaftliche
Abteilung« der IG Farben mit den Anlagen der
chemischen Industrie, die nach der Besetzung unter
Konzernkontrolle kommen sollten. Am 30.
Juli 1940 bildeten Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt des
Oberkommandos der Wehrmacht den »Stab England«, der
sich daranmachte, Managementstrukturen
für ein besetztes Großbritannien auszuarbeiten. Das
gesamte britische Wirtschafts- und
Arbeitskräftepotential sollte den
Erfordernissen der deutschen Kriegswirtschaft unterworfen
werden. Unterstützung kam von den
Ministerialbeamten im
Reichswirtschaftsministerium. In dessen Auftrag erstellte der
frühere Präsident der Deutschen
Handelskammer in London, Karl E. Markau, ein
Fachgutachten, das er im September 1940 vorlegte. Darin
heißt es: »Endziel dieser Maßnahmen ist
die Verlagerung von Erfahrungen, Handelswegen und des
gesamten Einflusses, der bisher in englischen Händen
war, nach Deutschland, und zwar
zeitlich auf dem kürzesten und wirkungsvollsten Wege.« Die
Führung der Luftwaffe setzte Ende
September 1940 beim Generalflugzeugmeister einen
»Industrieerfassungsstab für England« ein, der mit dem
Raub der gesamten Entwicklungs- und
Forschungsarbeiten der britischen Luftfahrt beauftragt
war.
Um die Unterdrückung des englischen Volkes hatten sich die
Eliten Nazideutschlands natürlich schon
vor dem »Adlertag« gesorgt. Die zwangsweise
Einführung des deutschen Strafrechts war bereits etwas
länger als eine der
ersten Maßnahmen geplant. Göring hatte am 1. August 1940
Reichsführer SS Himmler beauftragt,
»Einsatzgruppen« für Großbritannien aufzustellen. Eine
vom Reichssicherheitshauptamt angelegte
»Sonderfahndungsliste Großbritannien«
enthielt Namen von 2700 prominenten Persönlichkeiten und
Adressen demokratischer Institutionen, die verhaftet bzw.
überwacht oder verboten werden sollten.
Zu letzteren gehörten alle
Emigrantenorganisationen, auch die von meiner Mutter
mitbegründete, zahlenmäßig stärkste und
politisch einflußreichste, »The Free German League
of Culture in Great Britain«.
Editorische Anmerkung
Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese
Ausgabe. Er wurde erstveröffentlicht in
der Jungen Welt am 13.8.2010
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