Es war zu still
Am 5.2.2011 wurde die Berliner Antifaschistin Dora Dick 100 Jahre alt

von Peter Sonntag

02/11

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Es ist der Lebensweg einer jüdischen Frau aus dem Berliner Proletariat. Dora Dick wurde am 5. Februar 1911 als eines von vier Kindern einer strenggläubigen jüdischen Einwandererfamilie im Berliner Scheunenviertel geboren. Ihr Vater ist Schneidermeister und stirbt im Ersten Weltkrieg. Sie lernt Modellschneiderin, findet aber keine Arbeit, wie so viele in der Weltwirtschaftskrise von 1929/30. Zusammen mit anderen Arbeitslosen geht sie demonstrieren. Sie besucht die Marxistische Arbeiterschule, an der auch Albert Einstein lehrt, und nimmt an den Aufführungsdebatten der Volksbühne teil. Eine Schauspielerin, für die sie Kleider entwirft und näht, führt sie in die linksintellektuellen Kreise Berlins ein.


Dora Dick am 15.11.2011


Als mehrfach ausgezeichnete Arbeitersportlerin spielt sie bei den Massenszenen im Film »Kuhle Wampe« mit, den Slatan Dudow dreht – unter anderem in Doras Wohnung. Das Drehbuch stammt von Bertolt Brecht und die Musik von Hanns Eisler. Sie beteiligt sich auch an einem antifaschistischen Agitationstrupp, der der KPD nahesteht. Als Hitler im Januar 1933 an die Macht kommt, taucht sie unter, von Mitstreitern vor einer drohenden Verhaftung gewarnt.

Im August 1933 flieht Dora nach Paris. Man bietet ihr die Weiterreise nach Palästina an, doch sie lehnt ab. Anderthalb Jahre später kehrt sie nach Berlin zurück. Durch Vermittlung ihrer Schwester bezieht sie eine Wohnung im noch sicheren Moabiter Viertel begüterter Juden und nimmt Kontakt zur Widerstandsgruppe auf, die aus dem Agitationstrupp hervorgegangenen ist. Im April 1935 flieht sie erneut aus Deutschland, im Nachtzug, schweigsam am Fenster sitzend, zurechtgemacht als reiche Ausländerin auf geschäftlicher Durchreise, in einem der beiden edel gearbeiteten Koffer gefährliche Fracht: marxistische Literatur und Parteiunterlagen für die Genossen in Prag.

Angeregt durch exilierte Künstler und Schriftsteller wie John Heartfield, Werner Ilberg, Kurt Lade, Max Zimmering und Hedda Zinner beginnt sie mit journalistischen Arbeiten für antifaschistische Exilblätter. Als Hitler im März 1939 in Prag einmarschiert, muß sie erneut untertauchen. Sie wird steckbrieflich gesucht. Als Mitglied der Gruppe Schmidt, die vom British Committee for Refugees Trust Fund mit Geld und Pässen versorgt wird, gelingt ihr die Flucht, erst nach Polen und dann nach England.

In London ist sie 1939 Mitbegründerin der Flüchtlingsorgansation Freier Deutscher Kulturbund, zusammen mit Luise Dornemann, John Heartfield, Kurt Hiller, Alfred Kerr,Oskar Kokoschka, Jürgen Kuczynski, Stefan Zweig und anderen.. Dora arbeitet als Näherin in einer Textilfabrik und wird Assistentin von Oskar Kokoschka. Sie heiratet in der mittelenglischen Stadt Leamington Spa den deutsch-tschechischen Widerstandskämpfer Albin Dick, ihr Sohn Antonín wird geboren. Nach Rückkehr in das zerstörte Berlin wird sie leitende Modellschneiderin, bildet Lehrlinge aus und wird Vorsitzende des Westberliner Frauenausschusses der Industriegewerkschaft Textil und Bekleidung. Ihre gesamte jüdische Familie ist verschollen, ermordet.

Ihr Sohn berichtet von einer geplanten Buchpublikation noch in diesem Jahr. Auf dem Manuskript des Exilberichts prangt ein Originalzitat der Autorin: »Es war mir in Deutschland zu still.«

Editorische Anmerkungen

Der Artikel wurde am 5.2. in der Jungen Welt erstveröffentlicht. Das Foto von Dora Dick bekamen wir von Ihrem Sohn Antonin Dick.