Verdrängte Vergangenheit
Fast 65 Jahre nach dem Ende des Faschismus in der Bundesrepublik gibt es noch immer kein Gesetz zum Schutz der Opfer des Naziregimes

von Antonin Dick

02/09

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Jedes Jahr werden es weniger. Doch noch immer leben Zehntausende Menschen in Deutschland, die zwischen 1933 und 1945 von den Nazis verfolgt und terrorisiert wurden. Über die sozialen Rechte der Überlebenden und ihrer Angehörigen wird jedoch bis heute gestritten. Von einem über Generationen schwelenden Erbe, das die Nachkommen der Opfer und Täter prägt und das nicht vergehen wird, ob man es will oder nicht, schrieb einst die österreichisch-israelische Widerstandskämpferin, Schriftstellerin und Psychotherapeutin Anna Maria Jokl (1911–2001).  

Leider ist Jokls Erkenntnis noch nicht überall angekommen. Dabei ist die Verbesserung der Existenzbedingungen der Überlebenden außerordentlich wichtig. Nicht nur für die Opfer selbst, sondern auch für die Weiterentwicklung der Demokratie im Land der Täter. Ein erster Schritt wäre, die sozialen Rechte jener Menschen zu sichern, die von den Nazis wegen ihres Glaubens, ihrer Herkunft oder ihrer politischen Überzeugungen verfolgt wurden. Eine angemessene Diskussion über Möglichkeiten der Vergangenheitsbewältigung sollte allerdings nicht auf der Ebene des Sozialrechts geführt werden. Auch die verbreitete Tendenz, die Überlebenden zu bevormunden, ist wenig hilfreich.  

Zum 70. Jahrestag der Reichspogromnacht, am 9. November 2008, hat der Autor deshalb gemeinsam mit seiner Mutter Dora Dick, einer verfolgten Jüdin und aktiven Widerstandskämpferin, eine Gesetzesinitiative zu Schutz und Förderung von Verfolgten des Naziregimes und ihrer Nachkommen beim Bundestag eingebracht. Vorbild für die Initiative bilden die gesetzlichen Regelungen, die die DDR bei NS-Verfolgten getroffen hatte. Die Forderungen reichen vom  Kündigungsschutz für Wohnung und Arbeit über die Unterstützung für pflegebedürftige Überlebende bis hin zu Fragen des Rechtsschutzes. Besonders dringend ist die Behandlung der schweren psychischen Traumata, unter denen Tausende Nachkommen der Holocaust-Opfer noch immer leiden. Schließlich geht es um die Einrichtung eines staatlich geförderten Fonds, der Stipendien für die Opfer des Faschismus vergibt, mit denen ein Rechtsanspruch auf die wissenschaftliche, publizistische und künstlerische Aufarbeitung dieser Epoche sichergestellt werden kann.  

Die dafür notwendigen Gesetze sollten schnell beschlossen werden. Sind doch die bisherigen Bestimmungen keineswegs ausreichend, da sie nichts an der prekären Lage vieler Überlebender ändern. So schreibt beispielsweise das Pflegeversicherungsgesetz vor, daß auf die religiösen Bedürfnisse derPflegebedürftigen Rücksicht zu nehmen sei, die psychosozialen Versorgungsbedürfnisse der Opfer des Faschismus werden jedoch ignoriert. Ein anderes Beispiel: Das Sozialgesetz der Bundesrepublik sieht eine ­spezielle Arbeitsförderung für sogenannte Berufsrückkehrer vor. In der Regel sind das Menschen, die aus verschiedenen Gründen schwarz gearbeitet haben. Für Rückkehrer, die während des Faschismus aus Deutschland fliehen mußten, gibt es dagegen keine spezielle Arbeitsförderung.  

Die Fraktionen des Bundestages haben bisher unterschiedlich auf die Parlamentsvorlage reagiert. So kündigte Max Stadler (FDP), stellvertretender Vorsitzender des Innenausschusses und zuständig für Entschädigungsfragen von NS-Verfolgten, an, sich erst »gründlich mit dem Inhalt auseinandersetzen« zu wollen, bevor er antworte. Gert Wiegel, Referent für Rechtsextremismus in der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke, sicherte dem Antrag sofort die volle Unterstützung seiner Fraktion zu. Die Grünen wandten sich umgehend an den Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte und baten darum, ein Thesenpapier zur Lebenssituation der Angehörigen der »zweiten ­Generation« zu erarbeiten. Weniger eindeutig war die Antwort der SPD. Zunächst versicherte der Bundestagsabgeordnete Gert Weisskirchen die beiden Autoren seiner Solidarität. Darüber hinaus beauftragte er den Justitiar der SPD-Bundestagsfraktion Klaus Uwe Benneter mit der Prüfung des Gesetzentwurfs. Dessen Reaktion war jedoch enttäuschend.   

In seiner Ablehnung verwies Benneter auf das seit 2006 geltende Antidiskriminierungsgesetz. Eine Reihe von Vorschriften schütze in Deutschland bereits den einzelnen vor Benachteiligung, betonte er. »Stellvertretend möchte ich hier das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz nennen, das einen umfassenden Schutz vor Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder der Weltanschauung bietet«, behauptete Benneter weiter. Seine Argumentation ist nur auf den ersten Blick plausibel. Denn das Gleichbehandlungsgesetz soll vor einer drohenden Diskriminierung schützen. Die Opfer des Faschismus sind indes bereits benachteiligt. »Trotz oft ehrlicher oder gewollter Bemühungen mancher Kreise blieb eine weitgehende Erbschaft anscheinend unberührt respektive wurde umfunktioniert«, schrieb Anna Maria Jokl 1968 in ihrem Buch »Zwei Fälle zum Thema ›Bewältigung der Vergangenheit‹«. Mit seiner Reaktion will sich Benneter anscheinend auch über vierzig Jahre später dem Erbe der deutschen Geschichte entziehen.

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir vom Autor. Erstveröffentlicht wurde der Artikel am 28.1.09 in der JUNGEN WELT.