Jedes Jahr werden es weniger. Doch noch immer leben
Zehntausende Menschen in Deutschland,
die zwischen 1933 und 1945 von den Nazis verfolgt und
terrorisiert wurden. Über die sozialen Rechte der
Überlebenden und ihrer Angehörigen wird
jedoch bis heute gestritten. Von einem über Generationen
schwelenden Erbe, das die Nachkommen der Opfer und
Täter prägt und das nicht vergehen
wird, ob man es will oder nicht, schrieb einst die
österreichisch-israelische Widerstandskämpferin,
Schriftstellerin und Psychotherapeutin
Anna Maria Jokl (1911–2001).
Leider ist Jokls Erkenntnis noch nicht überall angekommen. Dabei
ist die Verbesserung der
Existenzbedingungen der Überlebenden außerordentlich
wichtig. Nicht nur für die Opfer selbst, sondern auch für
die Weiterentwicklung der Demokratie im
Land der Täter. Ein erster Schritt wäre,
die sozialen Rechte jener Menschen zu sichern, die von den Nazis
wegen ihres Glaubens, ihrer Herkunft oder
ihrer politischen Überzeugungen verfolgt
wurden. Eine angemessene Diskussion über Möglichkeiten der
Vergangenheitsbewältigung sollte allerdings nicht auf der
Ebene des Sozialrechts geführt werden.
Auch die verbreitete Tendenz, die Überlebenden
zu bevormunden, ist wenig hilfreich.
Zum 70. Jahrestag der Reichspogromnacht, am 9. November 2008,
hat der Autor deshalb gemeinsam mit
seiner Mutter Dora Dick, einer verfolgten Jüdin und
aktiven Widerstandskämpferin, eine Gesetzesinitiative zu
Schutz und Förderung von Verfolgten des
Naziregimes und ihrer Nachkommen beim Bundestag
eingebracht. Vorbild für die Initiative bilden die
gesetzlichen Regelungen, die die DDR bei
NS-Verfolgten getroffen hatte. Die Forderungen reichen vom
Kündigungsschutz für Wohnung und Arbeit über die
Unterstützung für pflegebedürftige
Überlebende bis hin zu Fragen des Rechtsschutzes. Besonders
dringend ist die Behandlung der schweren psychischen
Traumata, unter denen Tausende Nachkommen
der Holocaust-Opfer noch immer leiden. Schließlich geht
es um die Einrichtung eines staatlich geförderten Fonds,
der Stipendien für die Opfer des
Faschismus vergibt, mit denen ein Rechtsanspruch auf die
wissenschaftliche, publizistische und künstlerische
Aufarbeitung dieser Epoche sichergestellt
werden kann.
Die dafür notwendigen Gesetze sollten schnell beschlossen
werden. Sind doch die bisherigen
Bestimmungen keineswegs ausreichend, da sie nichts an der
prekären Lage vieler Überlebender ändern. So schreibt
beispielsweise das
Pflegeversicherungsgesetz vor, daß auf die religiösen
Bedürfnisse derPflegebedürftigen Rücksicht zu nehmen sei, die
psychosozialen Versorgungsbedürfnisse der
Opfer des Faschismus werden jedoch ignoriert. Ein
anderes Beispiel: Das Sozialgesetz der Bundesrepublik
sieht eine spezielle Arbeitsförderung
für sogenannte Berufsrückkehrer vor. In der Regel sind das
Menschen, die aus verschiedenen Gründen schwarz
gearbeitet haben. Für Rückkehrer, die
während des Faschismus aus Deutschland fliehen mußten, gibt
es dagegen keine spezielle Arbeitsförderung.
Die Fraktionen des Bundestages haben bisher unterschiedlich auf
die Parlamentsvorlage reagiert. So
kündigte Max Stadler (FDP), stellvertretender
Vorsitzender des Innenausschusses und zuständig für
Entschädigungsfragen von NS-Verfolgten,
an, sich erst »gründlich mit dem Inhalt auseinandersetzen« zu
wollen, bevor er antworte. Gert Wiegel, Referent für
Rechtsextremismus in der
Bundestagsfraktion der Partei Die Linke, sicherte dem Antrag
sofort die volle Unterstützung seiner
Fraktion zu. Die Grünen wandten sich umgehend an
den Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte
und baten darum, ein Thesenpapier zur
Lebenssituation der Angehörigen der »zweiten
Generation« zu erarbeiten. Weniger eindeutig war die
Antwort der SPD. Zunächst versicherte der
Bundestagsabgeordnete Gert Weisskirchen die beiden
Autoren seiner Solidarität. Darüber hinaus beauftragte er
den Justitiar der SPD-Bundestagsfraktion
Klaus Uwe Benneter mit der Prüfung des
Gesetzentwurfs. Dessen Reaktion war jedoch enttäuschend.
In seiner Ablehnung verwies Benneter auf das seit 2006 geltende
Antidiskriminierungsgesetz. Eine Reihe von Vorschriften
schütze in Deutschland bereits den
einzelnen vor Benachteiligung, betonte er.
»Stellvertretend möchte ich hier das Allgemeine
Gleichbehandlungsgesetz nennen, das einen
umfassenden Schutz vor Diskriminierung aus Gründen der
Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des
Geschlechts, der Religion oder der
Weltanschauung bietet«, behauptete Benneter weiter. Seine
Argumentation ist nur auf den ersten
Blick plausibel. Denn das Gleichbehandlungsgesetz
soll vor einer drohenden Diskriminierung schützen. Die
Opfer des Faschismus sind indes bereits
benachteiligt. »Trotz oft ehrlicher oder gewollter
Bemühungen mancher Kreise blieb eine weitgehende
Erbschaft anscheinend unberührt
respektive wurde umfunktioniert«, schrieb Anna Maria Jokl 1968
in ihrem Buch »Zwei Fälle zum Thema
›Bewältigung der Vergangenheit‹«. Mit
seiner Reaktion will sich Benneter anscheinend auch über vierzig
Jahre später dem Erbe der deutschen
Geschichte entziehen.
Editorische Anmerkungen
Den Artikel erhielten wir vom
Autor. Erstveröffentlicht wurde der Artikel am 28.1.09 in der
JUNGEN WELT.
|