Texte zu Klasse & Partei
Bloch / Benjamin

Parteitheorie in geschichtlicher Darstellung (Teil 7)

Diskussionsvorlage des ZK der KPD (1979)   

09/2016

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Ernst Bloch analysierte bereits 1932 in ,,Erbschaft dieser Zeit" Aas Phänomen derUn-gleichzeitigkeit im Bewußtsem der Mittelschichten und Bauern und forderte die Entwick­lung einer ,,mehrschichtigen Dialektik", um diese Reserve der Reaktion den fortschrittli­chen Kräften zuzuführen. Gerade Deutschland sah er als ein Paradebeispiel der Un-gleichzeitigkeit:

,,Deutschland überhaupt, dem bis 1918 keine bürgerliche Revolution gelungen war, ist zum Unterschiede von England, gar Frankreich das klassische Land der Ungleichzeitig -keit, das ist der unüberwundene Rest älteren ökonomischen Seins und Bewußtseins. " (Erbschaft dieser Zeit, S. 113 f.)

Bloch sah also die den Rechten zuströmenden Schichten nicht einfach demagogisch ge­täuscht, sondern versuchte, die objektiven Grundlagen dafür zu analysieren.

Bisher in der Rubrik Texte zu Klasse & Partei erschienen:

Die Ungleichzeitigkeit macht, daß das Verhältnis Sein/Bewußtsein kein direktes, adä­quates, mechanisch-promptes ist, mit anderen Worten, daß dem proletarisierten Sein der Bauern und Kleinbürger das proletarische Bewußtsein keineswegs auf dem Fuße folgt. Es bildet sich vielmehr ein falsches Bewußtsein eigner Art, eine Art Innenraum, der an die proletarisch-großkapitalistische Wirklichkeit und ihre Dialektik nicht direkt an­grenzt, der folglich den sozialistischen Wahrheiten über diese Wirklichkeit gar keine oder nur verzerrte Resonanz gibt. " (Bloch, Vom Hasard zur Katastrophe, S. 107)

Die kommunistische Propaganda nahm auf diese Widersprüche keine Rücksicht und re­dete so gradeaus von Enteignung, daß diese Schichten, die nach rückwärts, auf ihre alte etwas privilegierte Stellung vor dem Kriege schielten, den Sozialismus mit dem Gerichts­vollzieher verwechselten, wie sich Bloch sarkastisch ausdrückte. Bloch gab Anstöße für die notwendige Untersuchung der Bewußtseinslage der Massen und die nötige weitere Entwicklung der Theorie, wenn er schreibt:

,,Es gibt keine vermummte, ja es gibt keine wirkliche Revolution in Deutschland, die nicht mit einem Tropfen irrationalen Öls gesalbt ist." (zit. nach Negt, Kein Sozialismus..., S. 241)

Walter Benjamin schließlich ging in seinen wenigen Äußerungen zum Faschismus von ei­nem anderen Ansatzpunkt aus als die, die die Massen als von Demagogie getäuscht ansa­hen, den Widerspruch also als einen ihnen äußerlich bestimmten (und später mit der Kollektivschuldthese das genaue Gegenteil) produzierten. Er versuchte, aus den inneren Widersprüchen der Massen, aus ihren Interessen und Bedürfnissen heraus, die er auch in den Nazi-Aufmärschen zu erkennen suchte, die Ursachen der faschistischen Massenbewe­gung zu ergründen. Benjamin ging dabei auch von Gramscis folgendem Gedankengang aus:

Ideologie ist nicht nur falsches, sondern aufgrund der mit der Warenproduktion einher­gehenden Verkehrungen notwendig falsches Bewußtsein, d.h. der Überbau darf nicht als Schein, sondern muß als Erscheinung begriffen werden. Der Begriff der Erscheinung ist der Ausdruck der Hinfälligkeit eines jeden ideologischen Systems und rechtfertigt zu­gleich dessen geschichtliche Gültigkeit und Notwendigkeit. " (Kramer, a.a.O., S. 11)

In diesem Sinne versucht er — entgegen der These der Manipulation und Täuschung — eine Erklärung für die Zuwendung von Teilen der Massen zum Faschismus zu geben:

,,Der Faschismus versucht, die neu entstandenen proletarischen Massen zu organisieren, ohne die Eigentumsverhältnisse, auf deren Beseitigung sie hindrängen, anzutasten. Er sieht sein Heil darin, die Massen zu ihrem Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kom­men zu lassen. Die Massen haben ein Recht auf Veränderung der Eigentumsverhältnisse; der Faschismus sucht ihnen einen Ausdruck in deren Konservierung zu geben, " (Benja­min, Illuminationen, S. 167 f.)

Die Bedeutung dieser These Benjamins besteht darin, daß sie versucht, aus dem Dilem­ma herauszukommen, in die uns eine Bestimmung der Bewußtseinslage der Massen durch Warenfetischismus, Produktion falschen Bewußtseins, politischer Spaltung und bürgerlicher Beeinflussung führt. Daraus folgt, daß wir an den Bruchpunkten dieser „Integrationsmechanismen" ansetzen müssen, die sich aus der objektiven Entwicklung ergeben. Dies ist solange einseitig, wie deren Widerspiegelung in den Köpfen nur als Re­flex und nicht auch als eigener Produktionsprozeß aufgefaßt wird.

Für den Marxismus ,,kann das Sein nicht vom Denken, der Mensch nicht von der Natur, die Tätigkeit nicht von der Materie, das Subjekt nicht vom Objekt losgelöst werden; führt man diese Trennung ein, so verfällt man in eine der vielen Formen der Religion oder in sinnlose Abstraktion. " (Gramsci, Philosophie der Praxis, S. 176)

Die Blochsche Kategorie der „mehrschichtigen Dialektik" versucht innerhalb dieser To­talität der gesellschaftlichen Verhältnisse in Ungleichzeitigkeiten und vorkapitalistischen Rückständen in Basis und Überbau, in der Entwicklung der Produktivkräfte und den Produktionsverhältnissen in den Griff zu bekommen.

Die Niederlagen der Arbeiterbewegung gegenüber dem Faschismus vernichteten alle Hoffnungen, Reformismus und bürgerliche Vorstellungen seien der Klasse nur äußerli­che Attribute, die in der Entwicklung der objektiven Widersprüche automatisch abge­worfen werden.

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus:  Parteitheorie in geschichtlicher Darstellung, in: Theorie und Praxis 2/1979, Köln 1979, S.45-47