KLASSE & PARTEI
Öffentlichkeit und Einheitsfrontstrategie bei Lenin, Mao Tsetung und Gramsci

von Willi Jaspers (1979)

02/2016

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Vorbemerkung: In dieser und in den nächsten Ausgaben werden wir einige ausgewählte Texte zur Frage der Organisierung der Klasse als Partei veröffentlichen, die überwiegend aus der Zeit der bundesrepublikanischen K-Gruppen stammen. Dazu wurden wir auf unserem Veranstaltungswochenende 20 Jahre TREND durch den Vortrag von Frank Braun angeregt, der sich kritisch mit der programmatischen Entwicklung der DKP vermittelt über ihren 21. Parteitag auseinandersetzte.

Anknüpfen an einen Debattenstand der 1970er/80er Jahre, was soll das bringen?

Dieser Vorschlag wurde in der Diskussion mit Frank Braun von einem Genossen gemacht, der die Auflösung der maoistischen KPD 1980 als Mitglied erlebt hatte. Mit Bezug auf die damalige Debatte führte er aus, dass die KPD viele Jahre davon ausgegangen ist, dass eine Kommunistische Partei mit der Arbeiter*innenklasse identisch sei. Die daraus abgeleitete Avantgarderolle gegenüber der Klasse verstellte den Blick darauf, das Partei und Klasse eben nicht interessenidentisch sind, sondern dass, wenn sie die Kämpfe der Klasse vorwärts treiben will, von einer widersprüchlichen Nichtidentität ausgegangen werden muss.

Damit sprach er einen Punkt an, der in der DKP-Debatte bisher überhaupt nicht zur Sprache gekommen ist. Vielmehr erscheint deren Rückgriff auf den Marxismus-Leninismus nur als eine Umetikettierung, die den Zusammenhang zwischen der Klasse und ihrer inneren widersprüchlichen Entwicklung sowie den anderen Klassenbeziehungen - geschuldet den kapitalistischen Produktion- und Reproduktionsbedingungen vermittelt durch bürgerliche Öffentlichkeit - im Hinblick auf die Rolle und Funktion einer kommunistischen Partei beharrlich ausblendet.

Der nachfolgende Text - ein Auszug aus einem Debattenbeitrag zur KPD-Parteidiskussion  von 1979 - soll diesen Zusammenhang im Hinblick auf das politische Agieren der Partei im öffentlichen Raum aufzeigen und Schlußfolgerungen für die aktuelle Debatte anbahnen helfen. /khs

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"Wir betrachten die Theorie von Marx keineswegs als etwas Abgeschlossenes und Unantastbares; wir sind im Gegenteil davon überzeugt, daß sie nur die Ecksteine der Wissenschaft gelegt hat, die die Sozialisten nach allen Richtungen weiterentwickeln müssen, wenn sie nicht hinter dem Leben zurückbleiben wollen." (Lenin)

Ich will die Beiträge von Lenin, Mao Tsetung und Gramsci zum Thema bewußt in einen Zusammenhang stellen, da alle drei, wenn auch mit unterschiedlicher Bedeutung und unter unterschiedlichen Bedingungen, die marxistische Revolu­tionstheorie weiterentwickelt haben und dabei ähnliche erkenntnistheoretische Methoden verfolgten. Lenin hat als die „drei Quellen und drei Bestandteile" des Marxismus die drei geistigen Hauptströmungen des 19. Jahrhunderts be­nannt: die klassische deutsche Philosophie, die klassische englische politische Ökonomie und den französischen Sozialismus. Er selbst hat dann erfolgreiche Anstrengungen unternommen, den Marxismus auf die russischen Bedingungen im besonderen und auf die Epoche des Imperialismus im allgemeinen schöpfe­risch anzuwenden und weiterzuentwickeln. Gramsci hat zu Recht gesagt, daß Lenin „zutiefst national und zutiefst europäisch"sei. Obwohl es Stalins schema­tische Fassung der „Grundlagen des Leninismus" war, die 2 Generationen der kommunistischen Arbeiterbewegung auf den Weg des Dogmatismus brachte, hatte Stalin gegenüber Trotzki, Bucharin und Sinowjew Recht, wenn er „den organischen Zusammenhang des Leninismus mit der Marxschen Lehre "hervor­hob und ihn als „den Marxismus der Epoche des Imperialismus "kennzeichnete, „im Gegensatz zu gewissen Kritikern des Leninismus, die diesen nicht für eine Weiterentwicklug des Marxismus halten, sondern nur für eine Wiederherstel­lung des Marxismus und dessen Anwendung auf die russische Wirklichkeit. " (20) Die Pervertierung der Begrifflichkeit des Marxismus-Leninismus durch die reaktionären Bürokraten des „real (nicht) existierenden Sozialismus" hat z.T. eine Gegenbewegung hervorgerufen, die sich zum Seminarmarxismus ohne gesellschaftliche Praxis bekennt.

In Deutschland und Europa ist Lenin über mehr als 50 Jahre dogmatisch rezi­piert worden. Wenn man das erkannt hat, sollte man mit der Abkehr von schematischer Interpretation zunächst versuchen, den Leninismus zu rekon­struieren, bevor man grundsätzlich antileninistische Positionen bezieht. Das Theoriedefizit der kommunistischen Bewegung muß ab dem historischen Punkt aufgearbeitet werden, wo der „organische Zusammenhang des Leninis­mus mit der Marxschen Lehre" zerrissen wurde. Wenn Claudin und seine An­hänger der historischen Entwicklung die Formel „Dogmatismus = Komintern = KPdSU = Stalin = Lenin"überstülpen, dann ist das unmaterialistisch. Man kann Lenin nicht als schematischen Zusammenbruchstheoretiker abtun.(21) Gramsci hat zu Recht auf das umfassende politisch-strategische Konzept von Lenins „Formel von der Einheitsfront'" als einen lang andauernden ökonomi­schen, politischen und ideologischen „Stellungskrieg"einer breiten Volksbewe­gung unter Führung der Arbeiterklasse gegen das imperialistische System hingewiesen.

Es ist das ungeheure Verdienst Lenins, die Bedeutung der ideologischen Sphäre und des umfassenden politischen und ideologischen Kampfes für die Ära des Imperialismus theoretisch und praktisch begründet zu haben. Denn alles das, was Marx und Engels über die Bedeutung des Überbaus im allgemeinen und der ideologischen Sphäre im besonderen gesagt haben, muß dreimal unterstrichen werden unter den Bedingungen des entwickelten Imperialismus. In Was tun?" hat Lenin bekanntlich gegen die „Anbetung der Spontaneität" polemisiert, hat die Notwendigkeit der Herausbildung eines umfassend politischen Klassen­bewußtseins der Arbeiter betont, hat die Aufgaben des Kampfes gegen den Ein­fluß der bürgerlichen Ideologie beschrieben und konstatiert, daß das revolutio­näre Bewußtsein „von außen" in die Arbeiterbewegung getragen werden muß — also von außerhalb der rein ökonomischen Beziehungen. Auch wenn Lenin selbst darauf hingewiesen hat, daß „ Was tun?" in seiner zugespitzten Form nur für Rußland (und dabei auch nur für eine bestimmte historische Phase) gültig sei, halte ich gerade die Betonung des gesamtgesellschaftli­chen Zusammenhangs für den Prozeß der Herausbildung der Klasse „für sich" für grundlegend. Nur so ist auch das Konzept der Leninschen Kaderpartei über die russischen Bedingungen hinaus vertretbar.

Aus der für das zaristische Rußland (und auch für Westeuropa) vorgenommene Analyse der Wechselbeziehung von „materieller"und „geistiger Macht "(Marx) formuliert Lenin das strategische Konzept der Volksrevolution, als Verbindung der ideologischen und im engeren Sinn politischen Aufgaben. Die Leninsche Revolutionsstrategie geht dabei von der zu erringenden Hegemonie des Proleta­riats innerhalb der Wechselbeziehungen sämtlicher Klassen und Schichten des Volkes aus. Das Arbeiter-Bauern-Bündnis entsprach den konkreten histori­schen Bedingungen Rußlands. In der Schrift „Zwei Taktiken der Sozialdemo­kratie in der bürgerlichen Revolution" (1905) begründet Lenin die Hegemonie des Proletariats zunächst im strategisch-taktischen Sinn, bezogen auf die Füh­rung in der bürgerlich-demokratischen Revolution: „ Werden wir von der Rich­tigkeit unserer sozialdemokratischen Lehre und von unserer Verbindung mit der einzigen bis zu Ende revolutionären Klasse, dem Proletariat, so Gebrauch machen können, daß wir der Revolution den proletarischen Stempel auf­drücken. ..?"(22)

Lenins Appell an die Kommunisten Westeuropas, „dort (zu) arbeiten, wo die Massen sind", ist ja mehr als eine Aufforderung zur konspirativen Fraktionsar­beit, ist schon die Forderung nach öffentlicher Massenagitation. Seine Vorstel­lungen von Einheitsfrontpolitik waren eng verknüpft mit der Arbeit in der ideo­logische Sphäre, im „verschlossenen Raum" der bürgerlichen Öffentlichkeit. Die Charakterisierung „verschlossener Raum"ist dabei Ausdruck der besonde­ren russischen Verhältnisse. Die Aussage des folgenden Zitats ist erst recht zu­treffend für westeuropäische Verhältnisse, wo die bürgerliche Öffentlichkeit auch historisch weniger „verschlossen" war: „Die Kommunisten dürfen nicht im eigenen Saft schmoren, sondern müssen so handeln, daß sie ohne vor gewis­sen Opfern haltzumachen, ohne die beim Beginn eines jeden neuen und schwie­rigen Werkes unvermeidlichen Fehler zu scheuen, in den verschlossenen Raum eindringen, in dem die Vertreter der Bourgeoisie auf die Arbeiter einwirken. Kommunisten, die das nicht verstehen wollen und das nicht lernen wollen, können nicht darauf hoffen, unter der Arbeiterschaft die Mehrheit zu erlangen... Um diesen Massen im Kampf gegen das Kapital zu helfen, die 'knif­felige Mechanik' der zwei Fronten in der ganzen internationalen Politik zu be­greifen um dessentwillen haben wir die Taktik der Einheitsfront aufgegriffen und werden sie zu Ende führen."(23)

In der Epoche des Imperialismus kann eine Dialektik von proletarischer und bürgerlicher Öffentlichkeit nur wirksam werden, wenn sie in Beziehung steht zu den „historisch wirksamen Kräften aller Klassen, unbedingt ausnahmslos aller Klassen der gegebenen Gesellschaft."(24)

Als Ausdruck einer falschen Trennung von Ökonomie und Politik polemisierte Lenin gegen die engstirnige und isolierte „reine Arbeiterpolitik". Im Sinne seiner erkenntnistheoretischen Methode berücksichtigte Lenin bei allen Unter­suchungen die, wie er sagte, „öffentliche Meinung der revolutionären Kreise".(25)

Später, im Kampf für die Festigung der jungen Sowjetmacht, definierte Lenin das Fortwirken der bürgerlichen Ideologie als „beträchtlichen Druck der alten öffentlichen Meinung der Bourgeoisie".(26) Hier wird deutlich, daß auch in Ruß­land mit der Zerschlagung des alten Staatsapparates durch die Oktoberrevolu­tion das Problem der bürgerlichen Gesellschaft nicht beseitigt war, das Ringen um die ideologische Hegemonie weiterging.

Zunächst erscheint es absurd, Mao Tsetungs Äußerungen zur Bedeutung der "Öffentlichen Meinung" in die Diskussion bei uns einzuführen. Denn, wie man weiß, hat in China bürgerliche Öffentlichkeit in unserem Sinn nie existiert. Das konfuzianische Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten ließ seit Jahr­hunderten eine solche Entwicklung nicht zu. Gegenüber feudalistischen Struk­turen und konfuzianischen Autoritätsregeln konnten sich auch die basisdemo­kratischen Verhältnisse der dörflichen Grundeinheit nicht behaupten. Selbst die neudemokratische Revolution und der Kampf für den Sozialismus haben in weiten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens Chinas bis heute konfuzianische Verkehrsformen nicht außer Kraft setzen können. Typisch für die Kommunika­tionsstrukturen sind die großen Wandzeitungen (Dazibaos). Wie mittelalterlich die Öffentlichkeitsstruktur zuweilen noch ist, wurde vor einiger Zeit in der von westlicher Presse übermittelten Szene deutlich: Ein amerikanischer Journalist verkündet auf einem Platz in Peking gegenüber versammelten Einwohnern der Hauptstadt, daß er bei Deng Xiaoping angemeldet sei, man solle auf seine Rückkehr warten. Die Menschen harrten dann bis zum Abend aus. Der Journa­list erschien, kletterte auf einen Baum und übermittelte den Wartenden eine Botschaft Deng Xiaopings. Die Chinesen schrieben sich die Neuigkeit auf — und auch anwesende westliche Pressevertreter waren sehr zu ihrem Verdruß auf die gleiche Methode angewiesen. Inzwischen gibt es zwar in China auch die Ein­richtung von Pressekonferenzen nach westlichem Muster, doch das Problem bleibt: Trotz aller Bemühungen der chinesischen Kommunisten, im Verlauf der sozialistischen Revolution die überkommenen Autoritätsstrukturen abzubauen und das „Denken zu befreien", sind auch durch das Uberspringen einer ganzen geschichtlichen Entwicklungsetappe die feudalistischen „Muttermale" allent­halben spürbar. Von der Kritik dieser Erscheinungsformen her sind die Zielset­zungen der heutigen Führung der KP Chinas für die sozialistische Modernisie­rung des Landes besonders verständlich. Ohne das Leben und Werk Mao Tsetungs wäre die Einleitung einer solchen Entwicklung undenkbar. Welches ist nun der leninistische Ansatz bei Mao? Was heißt bei ihm Öffentlichkeit? In einer Definition des Leninismus betont Mao — anders als bei Stalin — die Bedeutung der Philosophie:

Die Lehren des Leninismus haben den Marxismus weiterentwickelt. In wel­cher Hinsicht? Erstens im Bereich der Weltanschauung, das heißt im Hinblick auf den Materialismus und die Dialektik; zweitens auf dem Feld der Theorie und Taktik der Revolution, insbesondere hinsichtlich der Fragen des Klassen­kampfes, der Diktatur des Proletariats. Und dann sind da noch Lenins Lehren zum sozialistischen Aufbau."(27)

Mao Tsetung kritisierte bereits 1956 unverblümt den revisionistischen Weg der Sowjetunion unter Chruschtschow. In diesem Zusammenhang deckte er auch Fehler Stalins auf: ,, Stalin war stark in Metaphysik befangen, und er lehrte viele, sich der Metaphysik hinzugeben."(28)

Vlao Tsetungs Richtlinie „aus den Massen schöpfen, in die Masen tragen" ist die schöpferisch auf China angewandte erkenntnistheoretische Methode von Marx und Lenin. In politischer Hinsicht bedeutet das ein theoretisches Aufgrei­fen und schöpferisches Weiterentwickeln der Bestimmung von Kampf um ideo-ogische Hegemonie und Einheitsfront.

Mao Tsetungs Analyse der „ Widersprüche im Volk", die Gewinnung der Volks­massen (einschließlich großer Teile der nationalen Bourgeoisie) für den Unab-längigkeitskampf und schließlich den sozialistischen Weg sind Ausdruck der revolutionären Einheitsfrontpolitik. Diese Politik war verbunden mit einem un­unterbrochenen ideologischen Kampf gegen falsche und rückschrittliche Auf-assungen. In der Theorie von der Fortführung des Klassenkampfs unter der Diktatur des Proletariats trägt Mao Tsetung der Wechselwirkung von Basis und Überbau, der immensen Bedeutung der „geistigen Macht"und der Notwendig­keit der Hegemonie Rechnung. In diesem Zusammenhang sind für uns die Aus-uhrungen über die Arbeit in der „öffentlichen Meinung" in den späten Werken Mao Tsetungs von großer aktueller Bedeutung. Bekannt war bisher vor allem das Zitat aus dem Jahre 1962: „ Um eine politische Macht zu stürzen, ist es notwendig, vor allem eine öffentliche Meinung zu schaffen und in der ideologi­schen Sphäre zu arbeiten. Das trifft für die revolutionären wie für die konterre­volutionären Klassen zu. " In der Auseinandersetzung mit Hu Feng formuliert Vlao Tsetung seine These gegen die „Gleichförmigkeit der öffentlichen Mei­nung", die von grundsätzlicher (also über die damalige Situation Chinas hinaus­gehende) Bedeutung ist:

"In der Gesellschaft gibt es zu allen Zeiten zwei Arten von Menschen und zwei Arten von Ansichten, die fortschrittlichen und rückständigen, die im Gegensatz zueinander stehen und einander bekämpfen, wobei die fortschrittlichen Ansich­ten unvermeidlich die Oberhand über die rückständigen gewinnen, eine Gleichförmigkeit' der öffentlichen Meinung ist also weder möglich noch gerechtfertigt."(29)

Mit der Initiative zur Kulturrevolution hat Mao Tsetung bewußt an die großen Ausrichtungsbewegungen der neudemokratischen Revolution angeknüpft, an Jewegungen, die das Verhältnis von Partei und Massen im Sinne einer revolu­tionären Öffentlichkeit und als erkenntnistheoretischen Prozeß jeweils neu gestalten wollten.

Die Kulturrevolution muß als Versuch betrachtet werden, mit einer großen Vlassenmobilisierung in die Wechselwirkung von Basis und Uberbau der chine­sischen Ubergangsgesellschaft aktiv einzugreifen, um revolutionäre Öffentlich­keit im gesamtgesellschaftlichen Bereich zu schaffen. In der Vergangenheit war auch unser Bewußtsein von einem idealistischen Bild der Kulturrevolution geprägt, einem Bild, das Erscheinungsformen einer radikalen antibürokratischen Bewegung versuchte von der konkreten Ausprägung der Basis-Überbau­beziehung in China zu abstrahieren, um sie beliebig übertragen zu können. Im historischen Rückblick auf die Ereignisse in China müssen wir heute zwischen dem, was Mao Tsetung intendiert hatte, und dem, was dann real ab­lief, unterscheiden.

Tatsache scheint mir zu sein, daß die Kulturrevolution kaum zur Revolutionie­rung des Bewußtseins breiter Massen Chinas beigetragen hat. Mitarbeiter einer Hongkonger Zeitung erhielten letztes Jahr als erste Ausländer die Genehmigung zu einer Meinungsumfrage in Peking. Trotz aller aus westlicher Erfahrung gespeister Vorbehalte gegenüber Meinungsumfragen müssen die Ergebnisse doch sehr nachdenklich stimmen: 88 Prozent der Befragten erklärten, daß sie mit ihrem kulturellen Leben „unzufrieden" -wären, und 76 Prozent waren der Meinung, daß die in der Verfassung verankerten Rechte „nicht verwirklicht" wären (und das nach der langen Ausrichtung gegen das System der Vierer­bande). Weit verbreitet war eine kritische Haltung zu dem Werk Mao Tsetungs und ebenso weit verbreitet war die Übereinstimmung mit dem gegenwärtigen Kurs der chinesischen Regierung.(30)

Ganz offensichtlich hat die Kulturrevolution das Gegenteil von dem erreicht, was Mao Tsetung theoretisch und praktisch wollte. Aus den Schriften und Auf­rufen Mao Tsetungs geht eindeutig hervor, daß er alle Kampagnen zur Massen­mobilisierung stets mit dem Ziel der Stärkung der sozialistischen Demokratie verbunden hat, das Ergebnis der Kulturrevolution aber Abbau von Demokratie und Verschärfung der ideologischen Repression war. Hunderttausende wurden in der Kulturrevolution getötet, verfolgt und eingekerkert. Über die Fragen „ Wie hätte das verhindert werden können?" — Welche Feh­ler hat die KP-Führung im allgemeinen, Mao Tsetung im besonderem zu ver­antworten?" — „ Wie verliefen die Fraktionskämpfe in Wirklichkeit?" — muß nicht nur in China diskutiert werden.

Maos Kritik der Ereignisse in Ungarn 1956 in der Rede „Über die richtige Behandlung der Widersprüche im Volk "oder seine Thesen in der Schrift „ Über die 10 großen Beziehungen" beweisen, daß Mao eine Revolutionierung der Überbauverhältnisse im Sinne der Erringung der ideologischen Hegemonie im Marxschen und Leninschen Verständnis von Volkseinheit wollte. Die Kulturre­volution war als „Überbaurevolution" gegen den Revisionismus intendiert, konnte aber nicht auf den Bereich des Überbaus reduziert bleiben, angesichts der großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die sich aus dem Scheitern des „großen Sprungs"ergeben hatten. Kampf um Öffentlichkeit in einem sozialisti­schen Entwicklungsland wie China muß gerade auch Kampf für Veränderung der Produktions- und Verkehrsformen insgesamt beinhalten. Das große Problem, vor dem wir heute als Kommunisten stehen, ist die Tat­sache, daß es die gültige, endlich gefundene Form"zur Befreiung der Produk­tivkräfte noch nicht gibt, wohl auch als Schema nicht geben wird. Das offen­kundige Scheitern wesentlicher Ziele der chinesischen Kulturrevolution macht deutlich, daß eine sozialistische Form der Organisierung der Wechselwirkung von Basis und Überbau in Abgrenzung vom sowjetischen Weg, der ja schließlich zur imperialistischen Restauration führte, historisch neu begründet werden muß. Unbestritten ist aber, daß die Beiträge Mao Tsetungs zur Frage der Öffentlichkeit im Verhältnis von Demokratie und Sozialismus den Marxismus und den Leninismus schöpferisch weiterentwickelt haben und Baustein weiterer Diskussionen sein müssen.

Nicht zu Unrecht hat man Antonio Gramsci erkenntnistheoretische Methode und seine Einheitsfrontstrategie (in dem ja auch die Bauernfrage eine große Rolle spielte) mit dem Denken Mao Tsetungs verglichen. Das für uns Interes­sante an Gramsci ist, daß er das Verhältnis von Staat und bürgerlicher Gesell­schaft unter den Bedingungen eines industriell entwickelten Landes Westeuro­pas untersucht hat und dabei theoretisch an Marxens Bestimmung des Verhält­nisses von „materieller" und „geistiger" Produktion sowie Lenins Hegemonie­begriff anknüpfte.(31) Zentral für seine Analyse westeuropäischer Verhältnisse steht das Zitat: „Im Osten war der Staat alles, die bürgerliche Gesellschaft steckte in ihren Anfängen, und ihre Konturen waren fließend — im Westen herrschte zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft ein ausgewogenes Ver­hältnis und erzitterte der Staat, so entdeckte man sofort die kräftige Struktur der bürgerlichen Gesellschaft. Der Staat war ein vorgeschobener Schützengra­ben, hinter dem eine robuste Kette von Befestigungswerken und Kasematten lag..."(32)

Gramsci bekämpfte diejenige vulgärmarxistische Auffassung, die davon aus­geht, daß eine revolutionäre Umwälzung der kapitalistischen Verhältnisse „automatisch" erfolge, wenn die objektiven ökonomischen Voraussetzungen gegeben seien. „Eine angemessene politische Initiative ist immer notwendig, um den ökonomischen Impuls aus der Fessel der traditionellen Politik zu befreien."(33)

Nach Gramsci muß die Auffassung, daß für jede Veränderung des Überbaus eine unmittelbare Erklärung in der Basis zu finden sei, als „primitiver Infanti­lismus" bekämpft werden. Gramsci führt in seiner Polemik gegen den „ökono­mischen Determinismus " die von mir vorne bereits zitierten Briefe von Engels an Bloch und Starkenburg an, in denen die Rede von der „ Wechselwirkung" von Basis und Überbau ist, „auf Grundlage der in letzter Instanz sich stets durchset­zenden ökonomischen Notwendigkeit."

Gramsci definierte sich zwar immer im Rahmen der Kommunistischen Interna­tionale, überwand aber die schematischen Positionen der KI hinsichtlich der strategischen Bestimmung des Verhältnisses von Partei, Klasse und Massen. Er definierte die ideologische und politische Führungsrolle der Kommunistischen Partei als proletarische Klassenpartei in einem System von Bündnissen, das der konkreten gesellschaftlichen und nationalen Entwicklung entsprach. Gramsci entwickelte seine Theorie des „historischen Blocks" als „Einheit des Prozesses der Wirklichkeit", als Einheit von „ökonomisch-sozialem Inhalt"und „ethisch­politischer Form". Für Gramsci bedeutete der „historische Block" im politi­schen Sinn eine Strategie der Volkseinheit, die Begrifflichkeit leitete er aus einer marxistisch-philosophischen Analyse ab. Basis und Überbauten bilden für ihn einen „realen dialektischen Prozeß", einen Prozeß, der zum „historischen Block" als Einheit von Widersprüchen führt.

Wie Lenin ging auch Gramsci von der Notwendigkeit der „Hegemonie" der Arbeiterklasse innerhalb einer Volksbewegung aus, konkret vom Bündnis der Arbeiter und Bauern, von der revolutionären Volkseinheit der Proletarier des entwickelten Nordens mit den armen Bauern des katholischen Südens Italiens. Im Unterschied zum zaristischen Rußland analysiert Gramsci für Westeuropa die kräftige Struktur der bürgerlichen Gesellschaft" — eine Struktur, die sich durch eine lange Tradition von ideologischer und kultureller Hegemonie aus­drückt.

Man wirft Gramsci vor, daß er im Gegensatz zu Marx die „bürgerliche Gesell­schaft" zum Überbau zählt. Ich habe im entsprechenden Abschnitt schon dar­gelegt, daß Marx unter dem Begriff „bürgerliche Gesellschaft"die Produktion und die aus dieser sich ergebenden Verkehrsformen, d.h. die „Gesamtheit der Produktionsverhältnisse" faßt. Gleichzeitig betonen er und Engels aber — wie ausgeführt — die Wechselwirkung von Basis und Uberbau. „Man kann Gramsci nur dann als 'antimarxistisch' bezeichnen, wenn man von einer schematischen Trennung von Basis und Uberbau ausgeht und übersieht, daß Marx und Engels z.B. auch die 'politischen Formen des Klassenkampfes' als Moment des Überbaus und der Wechselwirkung begreifen."(34) Der Staat ist nach Gramsci eine Einheit im Sinne „Diktatur plus Hegemonie" oder „Hegemoniegepanzert mit Zwang". Zur ideologischen Hegemoniestruktur der Bourgeoisie, d.h. zum „Komplex von Schützengräben und Befestigungen" rechnet Gramsci alles, was die Vorstellungen der Menschen, die öffentliche Meinung direkt und indirekt beeinflußt. Im folgenden ein ausführliches Zitat Gramscis zur Organisationsstruktur der "Öffentlichen Meinung" im damaligen Italien:

Die sogenannte 'öffentliche Meinung' ist eng mit der politischen Hegemonie verknüpft. Sie ist der Berührungspunkt zwischen 'Gesellschaft'und 'Staat', zwi­schen Konsensus und Macht. Wenn der Staat eine wenig populäre Aktion ein­leiten will, so schafft er präventiv die angemessene öffentliche Meinung, das heißt, er organisiert und zentralisiert gewisse Elemente der Gesellschaft. Geschichte der 'öffentlichen Meinung': natürlich hat es immer Elemente öffent­licher Meinung gegeben, auch in den asiatischen Setrapien; aber die öffentliche Meinung nach heutigem Verständnis ist am Vorabend des Untergangs der abso­lutistischen Staaten entstanden, das heißt während des Kampfes der neuen bür­gerlichen Klasse um die politische Hegemonie und um die Eroberung der Macht. Die öffentliche Meinung ist der politische Inhalt des öffentlichen politi­schen Willens, der auch uneinig sein kann; deshalb gibt es den Kampf um das Monopol der Organe der öffentlichen Meinung: Zeitungen, Parteien, Parla­ment, so daß eine einzige Kraft die Meinung und folglich den nationalen politi­schen Willen formt und die Uneinigkeit zu einem unorganischen, individuellen feinen Staub zerstreut wird.

Unter den Elementen, die neuerdings die normale Ausübung der öffentlichen Meinung durch die Parteien mit definierten Programmen gestört haben, sind in erster Linie die Boulevard-Presse und das Radio (da, wo es sehr verbreitet ist) zu nennen. (...)

Die Presse ist zwar der dynamischste Teil dieser ideologischen Struktur, aber nicht der einzige: alles was auf die öffentliche Meinung direkt oder indirekt ein­wirken kann, gehört dazu: die Bibliotheken, die Schulen, die verschiedenen Zirkel und Clubs, bis hin zur Architektur, der Anlage von Straßen und deren Namen. Man könnte sich nicht die von der Kirche in der modernen Gesellschaft behauptete Stellung erklären, wüßte man nicht von den täglichen geduldigen Anstrengungen, die sie unternimmt, um ständig ihren besonderen Sektor dieser materiellen Struktur der Ideologie weiter zu entwickeln. Eine solche ernsthaft durchgeführte Untersuchung hätte eine gewisse Bedeutung: außer ein lebendi­ges historisches Modell einer solchen Struktur abzugeben, würde sie an eine vor­sichtigere und genauere Einschätzung der in der Gesellschaft wirksamen Kräfte gewöhnen.

Was kann eine Neuererklasse dem großartigen Komplex von Schützengräben und Befestigungen der herrschenden Klasse entgegenstellen? Den Geist der Abspaltung, die progressive Erwerbung des Bewußtseins der eigenen histori­schen Persönlichkeit: den Geist der Abspaltung, der dahin tendieren muß, sich von der führenden Klasse bis auf die potentiell verbündeten Klassen auszudeh­nen: all das erfordert eine komplexe ideologische Arbeit, deren erste Bedingung die genaue Kenntnis des Gebietes ist, das von seinem menschlichen Massenele­ment befreit werden muß." (35)

Anmerkungen

20) Josef Stalin, Fragen des Leninismus, Ber­lin 1971, S. 134
21) Vergl. Fernando Claudin, Die Krise der kommunistischen Bewegung, Bd. 1, Ber­lin 1977, S. 49 f.
22) Lenin, Zwei Taktiken der Sozialdemokra­tie in der demokratischen Revolution, Peking 1972, S. 3
23) Lenin, Werke, Bd. 33, S. 319-320
24) Lenin, Der linke Radikalismus, die Kin­derkrankheit im Kommunismus, Peking 1973, S. 101
25) Lenin, Werke, Bd. 7, S. 185
26) Lenin, Werke, Bd. 27, S. 194
27) Mao Tsetung, AW, Bd. 5, S. 385
28) a.a.O., S. 415
29) a.a.O., S. 197
30) Nach: China Aktuell, März 1979, S. 219
31) Hier sei verwiesen auf die Aufsätze in Rote Fahne Nr. 21 und 24/79
32) Antonio Gramsci, Philosophie der Praxis, Frankfurt/Main 1967, S. 347
33) a.a.O., S. 315
34) Gramsci-Diskussion, Rote Fahne 21/79
35) Antonio Gramsci, Philosophie der Praxis a.a.O., S. 423 und 429

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Willi Jasper, Öffentlichkeit, Klassenbewußtsein und kommunistische Politik, in Theorie und Praxis 3/1979, Köln 1979, S. 35-43