Texte zu Klasse & Partei
Lenins Auffassungen zur politischen Partei
Parteitheorie in geschichtlicher Darstellung (Teil 2)

Diskussionsvorlage des ZK der KPD (1979) 

04/2016

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Der Fortschritt bei Lenin besteht gerade darin, daß er über Marx hinausgegan­gen ist. Lenin hat seine theoretischen Auffassungen über die Partei nicht allein auf dem rückständigen gesellschaftlichen Boden Rußlands begründet. In seiner Analyse von Imperialismus und Opportunismus war der rückständige' Lenin in Wirklichkeit der modernste Theoretiker.

Es war Lenin, der im imperialistischen ersten Weltkrieg und danach diese neu­en Erscheinungen untersuchte und theoretisierte. Hier geht er über die frühen Schriften zur Partei wie Was tun"hinaus, die noch weitgehend von den russi­schen Verhältnissen geprägt sind, und führt den Kampf auf internationaler Ebene.

Bisher in der Rubrik Texte zu Klasse & Partei erschienen:

Aber bereits die Begründung einer allseitig politisch arbeitenden Partei in „ Was tun" weist Lenin als einen marxistischen Theoretiker aus. Denn dort geht er von dem marxistischen Anspruch aus, die Totalität der gesellschaftli­chen Verhältnisse in ihrer Bewegung zu erfassen und sie zu verändern. „Das politische Klassenbewußtsein kann dem Arbeiter nur von außen gebracht werden, d.h. aus einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außer­halb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern. Das Gebiet, aus dem allein dieses Wissen geschöpft werden kann, sind die Beziehun­gen aller Klassen und Schichten zum Staat und zur Regierung, sind die Wech­selbeziehungen zwischen allen Klassen... Um den Arbeitern politisches Wissen zu vermitteln, müssen die Sozialdemokraten in alle Klassen der Bevölkerung ge­hen, müssen sie die Abteilungen ihrer Armee in alle Richtungen aussenden. " (Lenin Werke Bd.5, S.436)

Lenin selbst macht in ,,Was tun" eine Bemerkung, warum er dieses „von außen " so betont:

Wir wählen absichtlich eine so schroffe Formulierung, drücken uns absichtlich vereinfacht kraß aus, nicht aus dem Wunsch heraus, Paradoxa zu sagen, son­dern um die Ökonomisten gehörig auf die Aufgaben zu stoßen, die sie in unver­zeihlicher Weise vernachlässigen, auf den Unterschied zwischen trade-unionistischer und sozialdemokratischer Politik, den sie nicht verstehen wollen. " (dgl.)

Solche „Paradoxa" wirft Rossana Rossanda z.B. Lenin vor, wenn sie sagt, Le­nin würde damit behaupten, „das Bewußtsein des Proletariats sei ein Produkt des Bewußtseins der Intellektuellen"(statt des gesellschaftlichen Seins des Prole­tariats, d. Verf.), (Rossanda, Dialektik von Kontinuität und Bruch, S. 118). Der Kampf gegen den Ökonomismus in Rußland und die besonderen Bildungsbe­dingungen einer marxistischen Partei dort erklären sicher die Überspitztheit und zu starken Anleihen bei Kautsky, die Lenin in der Betonung des von außen und der Rolle bürgerlicher Intelligenz nimmt. Aber es wäre falsch zu meinen, Lenin verlege den Ort der Herausbildung, Entwicklung und Anwendung des Marxismus außerhalb der Arbeiterbewegung. Zum einen betont er, daß natür­lich auch Arbeiter an der Ausarbeitung der Theorie teilhaben, aber nicht als Arbeiter, sondern als „Theoretiker des Sozialismus" (Lenin Werke Bd. 5, S. 395). Diese Trennung begründet Lenin gerade mit der autonomen und eigenen Bedeutung des theoretischen Kampfes und bezieht sich dabei auf Engels, der neben ökonomischem und politischem den theoretischen Kampf als dritte Form des Kampfes bestimmte (dgl., S.381). Auch die Betonung, „daß die Rolle des Vorkämpfers nur eine Partei erfüllen kann, die von einer fortgeschrittenen The­orie geleitet wird" (dgl., S.380), knüpft an Marx, an dessen Bestimmung der Aufgaben der Kommunisten, an.

Die Erarbeitung der marxistischen Theorie wird von Lenin in den Rahmen der Arbeiterbewegung und der drei Quellen des Marxismus (englische politische Ökonomie, französischer (utopischer) Sozialismus, klassische deutsche Philoso­phie) gestellt, also auch in den geschichtlichen Rahmen der bürgerlichen Revo­lution und der sich entwickelnden Arbeiterbewegung in Westeuropa. Über­blickt man das ganze Werk Lenins, so geht dies klar hervor. Die Ausgangsbedingungen der Leninschen Auffassungen zur Partei waren außerdem eine be­reits in örtlichem Maßstab relativ entwickelte Arbeiterbewegung, die im ge­samtstaatlichen Maßstab aber natürlich noch zersplittert war, die ideologisch heterogen war und der gegenüber Lenin seine Vorstellungen entwickelte und durchkämpfte. Es waren außerdem die Jahre vor der ersten russischen Revolu­tion von 1905, in denen die Parteifrage im Zentrum der ideologischen Ausein­andersetzung stand. D.h. Lenins Konzept der Partei fußte auf einer entwickel­ten Situation des spontanen Drangs zum wissenschaftlichen Sozialismus, einer Klassenkampfsituation, die kurz vor revolutionären Erhebungen stand. Ohne diesen historischen Zusammenhang wäre Lenins Konzept der Organisation von Berufsrevolutionären abenteuerliche Spielerei. Die Entwicklung der Theorie, die Analyse der Wechselbeziehungen aller Klassen und Schichten geschieht im Rahmen — theoretisch der Parteilichkeit, praktisch des Kampfes und auf die geschichtlichen Erfahrungen gestützt — der Arbeiterbewegung und ist der Klasse nicht einfach äußerlich. Sie ist aber umgekehrt kein automatischer Pro­zeß, sie ist nicht identisch mit dem Bewußtwerdungsprozeß der ganzen Klasse und entwickelt sich nicht spontan in der Dialektik von ökonomischem und poli­tischem Kampf. Dies herausgearbeitet zu haben, darin liegt das Verdienst der Kritik Lenins an Rosa Luxemburg und seine weitere Entwicklung der Parteithe­orie über Marx hinaus. Es geht Lenin nicht darum, die Rolle des Proletariats bei der Umwälzung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse durch die Dia­lektik von Partei und Klasse zu ersetzen und dadurch eigentlich die Partei zum Schöpfer der Geschichte zu erheben. Es geht vielmehr um die Frage, in welcher Weise sich das Proletariat seiner geschichtlichen Aufgaben bewußt wird und sich als Partei politisch äußert. In dieser eingegrenzten Fragestellung findet das Verhältnis von Partei und Klasse seinen Platz. Der Verweis darauf, daß revolu­tionäres Bewußtsein und parteiliche Theorie im gesellschaftlichen Sein des Pro­letariats wurzeln müssen, ist zwar allgemein richtig; nur gibt er keinen konkre­ten Gang der Entwicklung dieses Bewußtseins an.

Gegenüber oberflächlichen Erklärungsversuchen ist es Lenin, der konkret und in aller Schärfe das Problem des Reformismus aufwarf und die Tiefe dieses Pro­blems überhaupt erschloß. Er verweist auf die Schichtungen in der Arbeiter­klasse, ihre Teilung in fortschrittliche, mittlere und rückständige (,Eine rück­läufige Richtung in der Sozialdemokratie'), den Einfluß katholischer und ande­rer Gewerkschaftsvereine in der Klasse (a.a.O., S. 396f), die ältere Herkunft und die größeren Verbreitungsmittel bürgerlichen Ideologie (S. 397) und auf die Tatsache, daß ,,Trade-Unionismus ideologische Versklavung durch die Bourgeoisie"(S. 396) bedeutet. D.h., er zeigt eine Situation nicht allein in Ruß­land, sondern auch in westeuropäischen Ländern auf, die eben nicht nur die Einheit, sondern auch die politische Spaltung und Zersplitterung der Klasse im Auge hat und einen ganzen Schritt konkreter ist als die Behauptung, die politi­sche Partei sei „die eigene Bewegung" der Klasse. Dies sind wichtige Schritte, um den Reformismus konkret und aus den materiellen Existenzbedingungen er­klären zu können, auch wenn Lenin dabei noch zu einseitig und zu stark auf äu­ßere Faktoren wie ideologische Versklavung und Beeinflussung setzt. Seine Ana­lyse aber zeigt, daß es ihm um die ganze Klasse geht und er die Partei gerade als Mittel sieht, die vorgefundene Zersplitterung und Spaltung der Klasse bewußt zu behandeln und mit der Partei für die Einheit der Klasse zu kämpfen.

Ein weiteres historisches Verdienst Lenins, wo er an Marx anknüpft und über ihn hinausgeht, liegt darin, daß er die politische Sphäre als Ort des Handelns Her Partei und ihrer Strategie betont und versucht, eine Theorie der Politik zu begründen. Während Marx' „Manifest"die historischen Aufgaben des Proleta­riats bestimmt, legt Lenin einen strategischen Plan auf gesamtnationaler Ebene vor der die internationalen Beziehungen berücksichtigt, die Klassenkräfte gruppiert und seine Spitze auf die zaristische Staatsmaschine richtet („Zwei Taktiken...").

Hier, in dieser politischen Sphäre, begründet Lenin vor allem die Partei und ih­re Vorhutrolle gerade gegenüber mechanischem Denken, die Rolle der Initiati­ve und Aktion in der Geschichte betonend:

Eifrige Marschierer, aber schlechte Führer, würdigen sie die materialistische Geschichtsauffassung dadurch herab, daß sie außer acht lassen, welche wirksa­me, führende und leitende Rolle in der Geschichte die Parteien spielen können und müssen, die die materiellen Bedingungen der Umwälzung erkannt und sich an die Spitze der fortgeschrittenen Klassen gestellt haben. "(Werke Bd. 9, S. 30) Dabei legte er auch die Beziehung zwischer der Klassenaktion als ganzer, die nicht .planbar' ist, und dem organisierten und bewußten Vorgehen gegen die Staatsmaschinerie dar.

Daß dies Lenin als Marxist in einem relativ zurückgebliebenen Land und nicht westeuropäische Marxisten zur Parteitheorie beitrugen, lag gerade an den be­sonderen russischen Bedingungen. Die Betonung der Sphäre des Politischen und eines gesamtnationalen strategischen Plans wurde hier in einer Situation entwickelt, in der es sehr differenzierte Wechselbeziehungen der Klassen gab, die gruppiert werden mußten.

Die Verknüpfung mit Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution und die Besonderheiten der zaristischen bürokratischen Staatsmaschine, auf der an­deren Seite eine kleine, stark konzentrierte Arbeiterklasse und eigene imperiali­stische Tätigkeit des Zarismus — diese weit auseinanderklaffenden Pole beweg­ten sich objektiv in eine günstige revolutionäre Richtung; dies konnte aber nur genutzt werden, wenn diese Pole durch Betonung der bewußten politischen Ak­tion und in einem strategischen Plan zusammengebracht wurden. Demgegen­über gingen westeuropäische Marxisten wie Rosa Luxemburg von einem relativ einheitlichen, schon in die richtige Richtung laufenden Prozeß aus. Die enge Verbindung mit Aufgaben der bürgerlichen Revolution führten Lenin dazu, auch organisatorisch an ihr anzuknüpfen. Lenins Betonung der technischen Fä­higkeiten bei der Unterwühlung der zaristischen Staatsmaschine sind sicher den besonderen russischen Verhältnissen geschuldet und nicht übertragbar. Sein strategischer Plan — den er in „Zwei Taktiken... "entwickelte — bestand gera­de darin, bürgerliche Revolution und Kampf des Proletariats unter bürgerlich­kapitalistischen Bedingungen „zu verflechten" (Bd.9, S.74), der bürgerlichen Revolution von 1905 eine „demokratische Führung zu geben" (dgl., S. 40) und ihr „seinen proletarischen, richtiger gesagt, proletarisch-bäuerlichen Stempel aufzudrücken" (dgl., S. 47).

Lenin beansprucht hier eine führende Rolle und keine der „äußersten Opposi­tion ", wie es das Proletariat nach 1848 in Deutschland war, für die Arbeiterklas­se, die Hegemonie in der bürgerlichen Revolution und eine Rolle als Führerin der Nation. Dies ist der glatte Gegensatz einer beschränkten reinen Arbeiterpolitik und steuert direkt auf Klassenbündnisse und die Perspektive der Volksrevo­lution los, auch dies in Anknüpfung an Marx, der davon sprach, daß das Prole tariat sich nur befreien kann, indem und wenn es die ganze Menschheit befreit. ,,Ja, der Volksrevolution. Die Sozialdemokratie kämpfte und kämpft mit vollem Recht gegen den bürgerlich-demokratischen Mißbrauch des Wortes Volk. Sie verlangt, daß mit diesem Wort nicht das Unverständnis für die Klassenantago­nismen innerhalb des Volkes bemäntelt wird. Sie besteht kategorisch darauf daß es für die Partei des Proletariats notwendig ist, ihre volle Klassenselbstän digkeit zu bewahren. Sie teilt aber das , Volk' nicht in ,Klassen' ein, damit die fortgeschrittenste Klasse sich abkapselt, sich auf ein enges Maß beschränkt... sondern damit die fortgeschrittenste Klasse, unbehindert von der Halbschläch-tigkeit, Unbeständigkeit und Unentschlossenheit der Mittelklassen, mit umso größerer Energie... an der Spitze des ganzen Volkes für die Sache des ganzen Volkes kämpft. " (dgl., S. 102)

Diese strategische Perspektive einer Volksrevolution muß gerade zu einer ver­stärkten Betonung der Partei und ihrer Rolle führen, geht es doch darum, die Beziehungen zwischen den Klassen, die Widersprüche im Volke richtig zu beur­teilen und zu behandeln. Dies zusammengenommen mit Lenins Ausführungen über die Spaltung und Schichtung des Proletariats verweist auch zwingend auf eine Politik der Einheitsfront, die auf die Mehrheit bzw. die ganze Klasse zielt und nichts anderes als ein Lernprozeß der Klasse anhand eigener Erfahrungen sowie Vermittlungsglied zwischen Partei, ihrer Theorie und der Klasse sein kann. Diese Bedeutung der Einheitsfrontpolitik hat Lenin gerade gegenüber linken Strömungen in anderen kommunistischen Parteien herausgearbeitet (s.u.).

Die Oktoberrevolution selbst war ein praktischer Beweis für Lenins theoretische Darlegungen zum Verhältnis von Strategie und Taktik, von Partei und Klasse usw. Sie demonstrierte, wie ein Erfahrungs- und Lernprozeß der Massen selbst ablief und von der Partei bewußt auch so organisiert wurde. In dieser Revolu­tion war die bolschewistische Partei nicht allein Vorhut der Klasse, sondern auch Lernende; Lenin entwickelte hier die Beziehungen zwischen der Partei und den Räten als politischen Organen, in denen sich die Klasseninteressen der Arbeiterklasse politisch Bahn brechen konnten. Und diese Revolution zeigte, wie die Partei Katalysator des Klassenkampfes war, durch ihre Arbeit in der La­ge war, den Umschlagspunkt von der Februar- zur notwendigen Oktoberrevolu­tion zu bestimmen.

Lenins Analyse des Imperialismus ist eine theoretische Kritik der Zusammen­bruchstheorien der 2. Internationale und eine schöpferische marxistische Ant­wort auf die neuen ökonomischen Entwicklungen. Durch diese Analyse werden auch die internationalistischen Aufgaben des Proletariats und der politischen Partei neu bestimmt, v.a. in der Unterstützung des Kampfes der Kolonialvöl­ker. Die ökonomische Grundlage der Bestechung aus Extraprofiten ist eine Er­klärung für die Herausbildung von Arbeiteraristokratie und Bürokratie als Grundlage des Übergangs von SPD- und Gewerkschaftsspitze z.B. in Deutsch­land zur Bourgeoisie, als materialistische Erklärung des Einflusses des Reformis­mus aber zu eng. Lenin wies zwar auf die Wirkung des ideologischen Einflusses der Bourgeoisie und die Schichtungen innerhalb der Klasse hin, aber eine allsei­tige und materialistisch nachgewiesene Erklärung für die Grundlage des Refor­mismus ist dies beides nicht. Es war allerdings für Lenin auch schwierig, diese Frage, die ja in ihrer ganzen Komplexität auf dem Boden des entwickelten Ka­pitalismus und Imperialismus angepackt werden muß, als jemand zu lösen, des­sen eigene gesellschaftliche Bedingungen in Rußland sich von denen der westeuropäischen Länder doch stark unterschieden.

Die ungleichzeitige Entwicklung des Kapitalismus, die Bestimmung der Epoche des Imperialismus als einer von Kriegen und Revolutionen ist einer mechani­schen Betrachtung ganz entgegengesetzt und betont die notwendige Analyse und Aktion des Proletariats und seiner Partei. Wenn nicht die Partei, welcher kollektive Theoretiker soll sonst herausfinden, an welchem schwächsten Ketten­glied die Kette des Imperialismus reißen könnte, welcher kollektive Theoreti­ker wenn nicht eine revolutionäre Partei, soll nicht nur die Wechselbeziehun­gen der Klassen innerhalb eines Landes, sondern die inneren und äußeren Wi­dersprüche in den Griff bekommen und daraus eine gesamtnationale Strategie ableiten?

Nach den Kampferfahrungen der Jahre 1918-23, deren Ergebnis Niederlagen im revolutionären Ansturm in Deutschland, Italien, Ungarn waren und 1922 in Italien sogar die Machtergreifung des Faschismus, hat Lenin selbst 1922 auf dem IV. Weltkongreß der KI die offenen Probleme der kommunistischen Bewe­gung angesprochen:

,, Auf dem III. Kongreß 1921 haben wir eine Resolution angenommen über den organisatorischen Aufbau der kommunistischen Partei und über die Methoden und den Inhalt ihrer Arbeit. Diese Resolution ist ausgezeichnet, aber sie ist fast ausgesprochen russisch, d.h. es ist alles den russischen Verhältnissen entnom­men. Das ist das Gute an der Resolution, aber das ist auch das Schlechte. Das Schlechte deshalb, weil ich überzeugt bin, daß fast kein Ausländer sie lesen kann. — Ich habe diese Resolution noch einmal durchgelesen, bevor ich das sa­ge. Erstens ist sie zu lang, sie hat 50 oder mehr Paragraphen. So etwas können Ausländer gewöhnlich nicht lesen. Zweitens, wenn sie doch gelesen wird, so kann kein Ausländer sie verstehen, eben weil sie zu russisch ist. Nicht als ob sie russisch geschrieben wäre — sie ist ausgezeichnet in alle Sprachen übersetzt — sondern weil sie durch und durch von russischem Geist durchdrungen ist. Und drittens, wenn ein Ausländer sie auch ausnahmsweise versteht, so kann er sie nicht durchführen... Mein Eindruck ist, daß wir mit dieser Resolution einen großen Fehler gemacht haben, nämlich daß wir uns selbst den Weg zu weiterem Fortschritt versperrt haben. Wie gesagt, die Resolution ist ausgezeichnet, ich unterschreibe alle ihre 50 oder mehr Paragraphen. Aber wir haben nicht ver­standen, wie wir mit unserer russischen Erfahrung an die Ausländer heranzuge­hen haben. Alles, was in der Resolution gesagt wird, ist toter Buchstabe geblie­ben. Und wenn wir das nicht begreifen, werden wir nicht weiterkommen. Ich glaube, für uns alle, sowohl für die russischen als auch für die ausländischen Ge­nossen, ist das wichtigste, daß wir jetzt, nach fünfJahren russischer Revolution, lernen müssen. " (Lenin, Werke Bd. 33. S. 416 f.)

Wie sehr Lenin das Lernen unterstreicht, deutet daraufhin, welche Bedeutung er der weiteren Untersuchung und Entwicklung der marxistischen Theorie zu­maß. In seiner Auseinandersetzung mit ultralinken Tendenzen, die im Gefolge der Räterepubliken in verschiedenen Ländern auftauchten und von einem di­rekten Zugang zur Machtergreifung durch Boykott der Institutionen, Aufrütteln der Massen durch Entlarvung der Sozialdemokratie ausgingen, in seiner Schrift „Der 'linke'Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus"'ent­wickelte Lenin seine Vorstellungen über den revolutionären Prozeß in ent­wickelten Ländern, die Struktur der Klasse und der Massen und die Aufgaben der Partei auf der politischen und z.T. auch auf der theoretischen Ebene weiter. Dabei sah er als „Hauptaufgabe des heutigen Kommunismus in Westeuropa und Amerika", die Fähigkeit zu entwickeln, „den konkreten Weg oder den be­sonderen Wendepunkt der Ereignisse, der die Massen an den wirklichen, ent­scheidenden letzten, großen revolutionären Kampf heranführt, herauszufin­den, herauszufühlen, richtig zu bestimmen." („Linker Radikalismus," Dietz, S. 93) Lenin bekräftigt noch einmal seinen Grundsatz aus „ Was tun ", als er da­von spricht, daß die Taktik der Partei „auf einer nüchternen, streng objektiven Einschätzung aller Klassenkräfte des betreffenden Staates (und der ihn umge­benden Staaten sowie aller Staaten der ganzen Welt) sowie auf der Berücksichti­gung der von allen revolutionären Bewegungen gesammelten Erfahrungen auf­gebaut werden" (S. 54) muß. Nicht aus dem engen Blickwinkel des Kampfes Lohnarbeiter gegen Kapitalist, sondern vom nationalen, übergreifenden Stand­punkt, dem es „um die Gruppierung aller Klassenkräfte einer gegebenen Ge­sellschaft zum letzten und entscheidenden Kampf'" (S. 89) geht, läßt sich ein Re­volutionskonzept erarbeiten.

Ohne dies genau und differenziert auszuarbeiten, geht doch Lenin in der Dar­stellung der Schichtung innerhalb der Massen weiter als in seinen Schriften 1902-05:

Der Kapitalismus wäre nicht Kapitalismus, wenn das 'reine' Proletariat nicht von einer Masse außerordentlich mannigfaltiger Übergangstypen vom Proleta­rier zum Halbproletarier (der seinen Lebensunterhalt zur Hälfte durch Verkauf seiner Arbeitskraft erwirbt), vom Halbproletarier zum Kleinbauern (und klei­nen Handwerker, Hausindustriellen, Kleinbesitzer überhaupt), vom Kleinbau­ern zum Mittelbauern usw. umgeben wäre; wenn es innerhalb des Proletariats selbst nicht Unterteilungen in mehr oder minder entwickelte Schichten, Gliede­rungen nach Landsmannschaften, nach Berufen, manchmal nach Konfessio­nen usw. gäbe. "(S. 66)

Deshalb betont Lenin, daß man sich nicht absondern dürfe, sondern dort arbei­ten müsse, wo die Massen sind (S. 42 f.), daß man nicht für die Massen erledigt erklären dürfe, was für die Kommunisten überholt sei (S. 48), daß man die Ris­se unter den Feinden nutzen müsse (S. 62).

Die Ausführungen im 'linken' Radikalismus zeugen auch davon, daß Lenin nicht im blanquistischen Sinne für die und anstelle der Massen die Revolution durch eine minoritäre Vorhutpartei wollte. „Ohne eine Änderung in den An­schauungen der Mehrheit der Arbeiterklasse ist die Revolution unmöglich" (S.78), aber „diese Änderung wird... durch die politische Erfahrung der Mas­sen, niemals durch Propaganda allein erreicht. "(S. 78) Die Aufgabe der Partei soll gerade darin bestehen, „der Mehrheit der Arbeiterklasse (zu) helfen", sich „durch eigene Erfahrung davon zu überzeugen"(S. 79), daß die reformistischen Führungen der Sozialdemokratie z.B. nicht dem Kampfe der Arbeiter nutzen. Die Taktik der Einheitsfront, die auf dem III. Kongreß der KI durch entschie­denen Einsatz Lenins (der dort nach eigener Aussage völlig zu Recht auf dem rechten Flügel stand) beschlossen wurde, sollte helfen, den Erfahrungsprozeß der Arbeitermassen zu organisieren.

"Wälzt euren Doktrinarismus nicht auf die Massen ab!" (S. 83) Unter diesem Motto verwies Lenin mehrfach auf die notwenige Ausarbeitung einer nationa­len Strategie, die auf die besonderen Verhältnisse jedes Landes zugeschnitten war Aus diesem Grunde kritisierte Lenin die Resolution des III. Weltkongresses als 'russisch'. Er betonte, daß:

hier wie stets die Aufgabe darin (liegt), daß man es versteht, die allgemeinen und grundlegenden Prinzipien des Kommunismus auf jene Eigenart der Bezie­hungen zwischen den Klassen und Parteien, auf jene Eigenart in der objektiven Entwicklung zum Kommunismus anzuwenden, die jedes einzelne Land aufweist und die man zu studieren, zu erforschen, zu erraten fähig sein muß. " (S. 84)

Das national Besondere, das national Spezifische beim konkreten Herangehen jedes Landes an die Lösung der einheitlichen internationalen Aufgaben..." (S. 87) — das hielt Lenin für „die Hauptaufgabe des historischen Augenblicks, den alle fortgeschrittenen Länder (und nicht allein die fortgeschrittenen Län­der) gegenwärtig durchmachen. " (S. 87)

Es war Lenin wohl bewußt, daß dies eine langwierige Arbeit war, die auch Wei­terentwicklung des Marxismus und seiner eigenen Auffassungen bedeuten wür­de. Seine Hinweise zeigten deshalb bewußt nur allgemein einen richtigen Weg. Lenin ging davon aus, daß die Revolution in Westeuropa schwerer zu beginnen ist (S. 55). Er formulierte als Grundgesetz der Revolution: „Erst dann, wenn die Unterschichten das Alte nicht mehr wollen und die Ober­schichten in der alten Weise nicht mehr können, erst dann kann die Revolution siegen. Mit anderen Worten kann man diese Wahrheit so ausdrücken: die Revo­lution ist unmöglich ohne eine gesamtnationale, (Ausbeuter wie Ausgebeutete erfassende) Krise. " (S. 79)

Und er verwies nochmal auf die Komplexität der Aufgaben, in denen eine Par­tei auch nur eine relative Bedeutung annehmen kann:

Die Geschichte im allgemeinen und die Geschichte der Revolutionen im be­sonderen ist stets inhaltsreicher, mannigfaltiger, vielseitiger, lebendiger, 'ver­trackter', als die besten Parteien, die klassenbewußtesten Avantgarden der fort­geschrittensten Klassen es sich vorstellen. " (S. 91)

Die anstehenden Aufgaben konnte Lenin nicht anstelle der westeuropäischen Marxisten-Leninisten lösen. Seine eigenen Erklärungsmuster — z.B. in der Schichtung der Arbeiterklasse und der Massen — lassen noch theoretische Pro­bleme in der Struktur der kapitalistischen Gesellschaft, der materiellen Grund­lagen der Vorherrschaft des Reformismus offen und zeigen, daß Lenin hier nicht qualitativ über seine Analyse der sozialökonomischen Wurzeln des Revi­sionismus und Opportunismus hinausgegangen ist.

Weil Lenin dies selbst bewußt ist, daß die Probleme offen daliegen, formuliert er auf dem IV. Weltkongreß, daß „das Wichtigste in der jetzt anbrechenden Periode das Lernen ist. " (Werke 33, S.418)

Eine „gesamtnationale Krise" als Bedingung der Revolution, die Bestimmung der Aufgabe der Partei, „alle Klassenkräfte des Landes zu gruppieren" — dies formulierte den richtigen Anspruch, führende Kraft auf gesamtstaatlichem Ni­veau zu werden.

Die Einheitsfronttaktik, die Aufgabe, die „Form des Übergehens zur proletari­schen Revolution oder des Herangehens an sie ausfindig zu machen" (S.87) und die nationalen Besonderheiten zu untersuchen — dies bot einen richtigen An­satzpunkt, um die Beziehungen der politischen Partei zur Klasse und Nation ge­nauer zu bestimmen.

Lenin wirft auch theoretisch klar die Frage auf, wo der kollektive Erkenntni­sprozeß der Klasse ohne Partei an seine Grenzen stößt. Es ist eine Fehlinterpre­tation Lenins, wenn man wie die modernen Revisionisten behauptet, Lenin ha­be die Arbeiter nur eines ökonomistischen Bewußtseins für fähig gehalten. Der Kern der Leninschen Argumentation liegt vielmehr darin, daß er einen Begriff gesellschaftlicher Praxis konstituiert, der von der gesamten Gesellschaft aus­geht, von allen Klassenkräften auf gesamtnationalem Niveau. Die Schranke des spontanen Erkenntnisprozesses der Klasse liegt darin, daß sie in der Sphäre Lohnarbeit — Kapital nur einen Ausschnitt dieser gesamtgesellschaftlichen Si­tuation erkennen kann. Es geht aber gerade um die Erkenntnis der Totalität der Produktionsverhältnisse.

Dabei liegt der Unterschied der proletarischen Vorhutpartei gegenüber den Parteien der bürgerlichen Revolutionen darin, daß die bürgerlichen Parteien in Mystifikationen befangen waren und ihre Revolution teils in historischen Kostü­men machten, als Ausdruck ihres durch bürgerliche Klasseninteressen be­schränkten Erkenntnishorizonts; während das Proletariat und seine Partei prin­zipiell keiner Erkenntnisschranke unterliegen und gerade deshalb Vorhut der ganzen Gesellschaft sein können. Die Partei ist so Form des Erkenntnisprozesses und der Entwicklung des Selbstbewußtseins der Klasse.

In der Einschätzung Lenins wird heute einmal versucht, ihn für die Fehlent­wicklung der Folgezeit in der Sowjetunion bis zum Sieg des Revisionismus ver­antwortlich zu machen und dies aus seinem Werk „nachzuweisen", andererseits ihn zu einem rein russischen Theoretiker zu stempeln, von dem wir nichts lernen können.

Wir meinen, daß sowohl seine Analyse des Imperialismus als auch seine theore­tischen Aussagen zur Rolle und Stellung der Partei allgemeine Aussagen sind, die für uns heute zentrale Bedeutung haben. Beides entstammt nicht allein rückständigen russischen Verhältnissen,-sondern hat ja gerade die neuen sozial­ökonomischen und politischen Veränderungen des und im Kapitalismus, in den entwickelten Ländern zum Thema.

Lenin stellt die Partei nicht allein in Bezug zur Arbeiterklasse, sondern in das ganze Geflecht der Wechselbeziehungen aller Klassen und Schichten in ihrem Verhältnis zum Staat. Deshalb läßt sich eine Kritik an Lenin nicht halten, wo­nach er die Partei gegenüber der Klasse verabsolutiere, deshalb läßt sich auch ein „Leninismus" der modernen Revisionisten nicht halten, in der genau diese platte Identität zwischen Partei und Klasse als leninistisch ausgegeben wird, um einen Herrschaftsanspruch der revisionistischen Parteiführung zu legitimieren. Man wird Lenin nur gerecht, wenn man über die starre Antinomie nur Partei : nur Klasse hinausgeht und sich — wie Lenin — voll einläßt auf die komplizier­ten Verhältnisse der Einheit und der Spaltung der Klasse, der Partei als Aus­druck der Klasse und als ihr separat gegenüberstehende Organisation, auf die Schichtungen in der Klasse selbst, die die Grundlage von Lenins Theorien sind und die er sowohl aus den rückständigen russischen wie aus den höchstent­wickelten imperialistischen Bedingungen entwickelte.

Diese Begründung der Stellung einer Kommunistischen Partei, seine Betonung der gesamtnationalen Strategie, der Rolle der Partei in der politischen Sphäre, ein Begriff der Hegemonie im Rahmen einer Strategie von Klassenbündnissen halten wir für uns weiter für wesentliche Grundlagen unserer Arbeit und für im­itier noch gültige, bzw. durch die weitere Entwicklung sogar noch verstärkt gel-de Aussagen. Denn die Wechselbeziehungen zwischen den Klassen, die Spal­tung innerhalb der Klasse und der Arbeiterbewegung haben sich als nicht nur dauerhafte, sondern eher komplizierter werdende Tatsachen erwiesen, denen gegenüber eine einfache „Rückkehr zu Marx" sich als realitätsblind erweist. Wenn wir uns also weiter an diesen Punkten auf Lenin beziehen wollen, so müs­sen wir andererseits die Veränderungen, auch die Geschichte des Leninismus und den anderen Ausgangspunkt als Lenin, an dem wir uns befinden, sehen. Ein einfacher Bezug auf Lenins „Organisation der Berufsrevolutionäre" wäre tödlich, denn wir organisieren und arbeiten nicht in einem spontan zum wissen­schaftlichen Sozialismus und zu revolutionären Klassenaktionen drängenden Milieu, sondern in einer Situation, wo es eine äußerst scharfe Trennung zwi­schen wissenschaftlichem Sozialismus und Arbeiterbewegung gibt. Ebenso we­nig läßt sich das von Lenin befürwortete Fraktionsverbot auf dem X. Parteitag ablösen davon, daß für Lenin Einheit der Partei und ihrer Aktion, ideologischer Kampf und Öffentlichkeit zum Grundbestand des Lebens der Kommunisti­schen Partei gehörte. Dabei waren Fraktionen Zusammenschlüsse von Partei­mitgliedern, die ihre Anschauungen (Plattformen) zum Gegenstand eines eige­nen Fraktionszwanges machten, Gruppen mit einem eigenen inneren demokra­tischen Zentralismus aufbauten und es dadurch überhaupt unmöglich mach­ten, offen in der Partei über die verschiedenen Positionen zu diskutieren und ein demokratisches Meinungsbild zustande zu bekommen (denn jeder stimmte un­ter Fraktionszwang ja für das, was vorher ausgemacht war, unabhängig von der Diskussion). Weil Fraktionsbildung dieses Leben zerstörte, befürwortete er ein Verbot der Fraktionsbildungen.

Sollte ein Bezug auf wichtige Theoretiker des Marxismus sowieso historisch-materialistisch, d.h. auch kritisch sein, so gilt dies in bezug auf Lenin vor allem deswegen, weil von der Beschädigung des Leninismus, vor allem durch die mo­dernen Revisionisten, aber auch durch die schweren Fehlentwicklungen in der Sowjetunion nach Lenins Tod auszugehen ist.

Die modernen Revisionisten haben den Leninismus zu ihrer Magd gemacht, zu einer hohlen Legitimations,,Wissenschaft", die im Zeichen einer scheinhaften ,,Objektivität" des geschichtlichen Prozesses und der Verabsolutierung der Rol­le der Partei ein Arsenal zur Begründung ihrer reaktionären Interessen bildet. Der Bezug auf Lenin kann auch deshalb nicht 'unschuldig' oder 'naiv' gesche­hen, weil in der Geschichte der Arbeiterbewegung die Prägung des Begriffs „Leninismus" in der Bolschewisierung der Parteien der KI der Ausgangspunkt einer Entwicklung war, in der Lenins Auffassungen zunehmend auf ein hand­habbares, starres System gebracht wurden, in der in einer Umkehrung von Le­nins Absichten das Fraktionsverbot zur Waffe der Erstickung innerparteilichen Lebens und eines freien ideologischen Klimas gemacht wurde. Wir können uns auch deshalb nicht 'naiv' auf Lenin beziehen, weil sich die ml-Bewegung in Westdeutschland durch flache Übertragung und eklektische An­eignung der Theorien Lenins in öden Antinomien des „ Was tun "Leninismus (Theorie/Praxis, Führung der Arbeiter/Intellektuellen) erging, oder wie wir, ihn organisationsborniert aneigneten.

Unserer Meinung nach ist ein Bezug auf Lenin heute nur möglich, wenn diese historischen und theoretischen Fehler kritisch berücksichtigt werden. Ohne be wüßt die Klasse ins Zentrum und ihr historisches Recht zu setzen, den Zusam menhang von Einheit der Partei, Öffentlichkeit und ideologischem Leben zu bekräftigen, ohne Mao Tsetungs Weiterentwicklung gerade in der Parteifrage voll aufzunehmen, ist ein Bezug auf Lenin und den Leninismus unhistorisch und erleidet Schiffbruch.

Umgekehrt zeigt sich der ganze Reichtum der Gedanken Lenins für uns, wenn wir eine Analyse der heutigen Bedingungen, des Verhältnisses von Partei und Klasse, des Problems der Hegemonie in der Volksrevolution usw. vornehmen wollen. Deshalb führt eine historisch-materialistische Einschätzung Lenins heu­te unserer Meinung nach gerade auf ihn zurück.

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus:  Parteitheorie in geschichtlicher Darstellung, in: Theorie und Praxis 2/1979, Köln 1979, S. 14-24