Die Position Rosa
Luxemburgs ist für uns aus zwei Gründen bedeutsam:
Einmal ist sie innerhalb der Sozialdemokratie und der
2. Internationale eine der bedeutendsten
Theoretikerinnen gerade auch in der Organisationsfrage,
scharfe und hellsichtige Kritikerin der
verbürgerlichten, bürokratischen Apparate, der
,,Schulmeister der Revolution", denen sie die
ausschlaggebende Rolle und die Selbständigkeit der
Massen entgegenstellt.
Zweitens aber wird Rosa häufig — gerade in ihrer
Polemik gegen Lenin — als demokratische Alternative
zum bürokratisch-zentralistischen Leninismus
gesehen oder gar für Organisation -konzepte in
Beschlag genommen, die mit Rosas Auffassungen
nichts zu tun haben. |
Bisher in der Rubrik
Texte zu
Klasse & Partei
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Der Ausgangspunkt ihrer
organisationstheoretischen Vorstellungen ist die
Sozialdemokratie, deren Führung und Apparat zunehmend
starrer, bürokratischer wurde. Gegenüber einer
Vorstellung, die in der deutschen Sozialdemokratie die
Einheit der Klasse als verwirklicht ansah, auf den
graden Weg des Parlamentarismus und „ordentlicher"
Verhandlungen statt „chaotischer" Massenstreiks und
Massenkämpfe zum Sozialismus hoffte, setzte Rosa die
Arbeiterklasse und die Massen als Schöpfer ihrer
Geschichte ins Recht. Die Verbindung zum Denken Lenins
(„Alle Macht den Räten.'") und Mao Tsetungs
(„Die wahren Helden sind die Massen") ist
offensichtlich. Gegenüber der Kritik von Seiten der
modernen Revisionisten, aber auch gegenüber der
Verurteilung des „Luxemburgismus"durch die KI
und die KPD als spontaneistisch, gilt es gerade, an
dieser Position Rosas festzuhalten und von ihr zu
lernen. Denn die modernen Revisionisten kritisieren
Rosa aus einer Position, die in der Partei die Klasse
aufgehoben sieht und die Klasse zum Objekt der
Behandlung durch das revisionistische Politbüro
degradiert.
Rosa Luxemburg läßt sich
aber auch nur durch Zurechtstutzen von SB-Theoretikern
wie Negt zur historischen Zeugin einer „Struktur
revolutionärer Praxis" erheben, die „Züge einer
dezentralisierten Praxis" (Negt, Sozialismus..., S.
203) angenommen hätte. Schließlich war der Bezugsrahmen
Rosas, die sozialdemokratische Partei, sogar zu stark,
denn einer ihrer schwersten Fehler bestand ja darin,
angesichts der Verbürgerlichung den revolutionären
Flügel nicht früh genug aus der organisatorischen
Umklammerung in der Sozialdemokratie herausgelöst zu
haben. Der Kern des Denkens von Rosa läßt sich auch
deshalb nicht für das Negtsche Konzept reklamieren (der
natürlich auch auf die weit veränderten Bedingungen
gegenüber Rosas Zeiten hinweist), weil die
strategischen Vorstellungen Rosa Luxemburgs zwar
gegenüber dem gradualistischen und reformistischen
Konzept der SPD-Führung auf einen revolutionären
Prozeß bauten, aber insgesamt sich doch im Rahmen der
revolutionsstrategischen Vorstellungen der 2.
Internationale bewegten, über die erst Lenin
hinausging.
Die Debatte zwischen Rosa
Luxemburg und Lenin entzündet sich an den
Auseinandersetzungen auf dem 3. Parteitag der SDAPR
1904, wo es um die Frage ging, ob jeder Streikende,
Professor o.a. ohne Mitarbeit Mitglied werden konnte
(wie es die Menschewiki wollten), oder ob eine Pflicht
zur Mitarbeit bestehen sollte (Lenins Position). Lenin
stellt diese Kontroverse in seiner Schrift „Ein
Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück" (Werke Bd.
7) dar. Rosa Luxemburg wendet sich in ihrer Schrift
„Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie"
von 1904 gegen Lenins Position und wirft ihm vor:
„Die Aufrichtung der Zentralisation in der
Sozialdemokratie auf diesen zwei Grundsätzen — auf der
blinden Unterordnung aller Parteiorganisationen mit
ihrer Tätigkeit bis ins kleinste Detail unter eine
Zentralgewalt, die allein für alle denkt, schafft und
entscheidet — sowie auf der schroffen Abgrenzung des
organisierten Kerns der Partei von dem ihn umgebenden
revolutionären Milieu, wie sie von Lenin verfochten
wird — erscheint uns deshalb als eine mechanische
Übertragung der blanquistischen Bewegung von
Verschwörerzirkeln auf die sozialdemokratische
Bewegung der Arbeitermassen. " (Luxemburg Werke Bd.
1/2, S. 429)
Rosa Luxemburgs
Gegenargument gegen diese Abgrenzung lautet:
"Tatsächlich ist die Sozialdemokratie aber nicht mit der
Organisation der Arbeiterklasse verbunden, sie ist die
eigene Bewegung der Arbeiterklasse. " (dgl.) Der
Kern der Polemik ist die Frage, ob die politische
Partei mit der Bewegung der Klasse identisch, „ihre
eigene Bewegung"ist, wie Rosa meint, ob man
wie-Lenin davon ausgeht, daß die politische Partei
sowohl Teil der Klasse, wie etwas Besonderes mit ihr
nur Verbundenes darstellt. Es geht also um die Rolle
der Partei und ihre Beziehung zur Klasse.
Wenn Rosa sagt, „daß
zwischen dem bereits in feste Parteikader organisierten
Kern des klassenbewußten Proletariats und der bereits
vom Klassenkampf ergriffenen, im Prozeß der
Klassenaufklärung befindlichen Schicht nie eine
absolute Scheidewand aufgerichtet werden kann.
"(a.a.O., S. 428f), so hat sie damit recht. Nur trifft
dieser Hinweis Rosas das eigentliche Problem — und
damit Lenins Position — gar nicht. Denn Lenin will
keine „absolute Scheidewand"zwischen der Partei
und der Klasse aufbauen. Ihm geht es um das Verhältnis
zwischen der politischen Partei als selbständiger und
gegenüber der Klasse besonderer Organisation und
andererseits als Ausdruck der Klasse, in der sich die
grundlegenden Interessen des Proletariats
manifestieren. Lenin faßt dies als widersprüchliches
Verhältnis, weil es in der Wirklichkeit mit den
Schichtungen im Proletariat und anderen Faktoren so
ist, während Rosa die Partei nur als unmittelbaren,
direkten Ausdruck der (ganzen) Klasse sieht. Das
entspricht aber nicht der Wirklichkeit und ist
spontaneistisch.
1910
entwickelte Rosa Luxemburg die strategische Vorstellung
der Verbindung des Proletariats mit dem demokratischen
Kleinbürgertum, wobei der Massenstreik, die Verbindung
des ökonomischen mit dem politischen Kampf dem
Proletariat die Initiative sichern sollte.
Die Forderungen nach
gleichem Wahlrecht (gegendas
preußische Dreiklassenwahlrecht) und nach der
demokratischen Republik mit dem
Kampfmittel Massenstreik als Unterpfand — dies sah Rosa
Luxemburg als Weg des Herankommens an die
sozialistische Revolution in Deutschland
„Die
Losung der Republik ist also in Deutschland heute
unendlich viel mehrmals der Ausdruck eines schönen
Traums vom demokratischen , Volksstaat'.. .sie ist ein
praktischer Kriegsruf gegen Militarismus, Marinismus,
Kolonialpolitik, Weltpolitik, Junkerherrschaft,
Verpreußung Deutschlands...Die besten demokratischen
Reformen sind aber nur kleine Etappen auf dem großen
Marsch des Proletariats zur Eroberung der politischen
Macht. " (nach „Ein anderes Deutschland", S. 232)
Mit dieser Strategie kämpfte sie gegen die
Revisionisten wie Bernstein, aber auch gegen Kautskys
Zentrismus, der auf eine „Ermattungsstrategie"
über Wahlen und immer weitere Vergrößerung von
Wählerpotential und Mitgliedschaft baute (bis
schließlich die SPD-Führung .ermattete'). Rosa erkannte
den Revisionismus und Opportunismus auf der politischen
Ebene und kämpfte gegen ihn, sie ging allerdings davon
aus, daß die Verschärfung der Widersprüche diesen im
revolutionären Prozeß beiseite drängen würde, und sie
fühlte sich im Einklang mit der revolutionären
Entwicklung, der sozialdemokratischen Massenbewegung.
Ihr Fehler dabei war, die sozialökonomischen
Veränderungen und auch die politischen Veränderungen in
der Klasse hin zum Reformismus nicht analysiert zu
haben. Den Revisionismus und Opportunismus begründete
sie nur aus dem bürgerlichen Parlamentarismus und der
Disziplinlosigkeit der Akademiker (Luxemburg, a.a.O.,
S. 437)
Die wirkliche Entwicklung
zeigt Rosas Analyse der Lage in der Sozialdemokratie
als Fehleinschätzung, weil die
reformistisch-revisionistische Strömung sich als
Hauptstrom erwies.
Rosa Luxemburgs Polemik
mit Lenin über die Organisationsfrage muß einmal vor
dem Hintergrund ihrer grundlegenden Gemeinsamkeit des
Kampfes gegen die Führung der 2. Internationale, wie
sie im 1. Weltkrieg sich praktisch manifestiert,
gesehen werden; zweitens aber auch im historischen
Bezugsrahmen ihrer eigenen Vorstellungen. Für Rosa
Luxemburg ist dies die Auseinandersetzung mit der
bürokratischen Führungsschicht der Sozialdemokratie,
die sie gegen „ Ultrazentralismus"etc. wettern
läßt. Für Lenin ist dies die russische Situation, wo
die Revolutionäre der gegenüber Westeuropa in ihrer
Entfaltung — ökonomisch, politisch und kulturell —
zurückgebliebenen Arbeiterbewegung politische und
Bildungselemente zuführen mußten, einer sich
entwickelnden, aber unreifen Arbeiterbewegung die
marxistische Theorie zuführen mußten und damals konkret
immer noch die Aufgabe anstand, aus zersprengten,
ideologisch heterogenen marxistischen oder
revolutionären Zirkeln eine einheitliche Organisation
zusammenzuschweißen. Die Kritik aneinander wird so von
Rosa und Lenin jeweils mit dem Blick auf ihre
Bedingungen geführt, weshalb Lenin z.B. in seiner
Antwort auch mehr von Mißverständnissen Rosas schreibt,
als ihr widerspricht. Es ist deshalb auch ganz falsch,
innerhalb dieser Polemik die Position einzunehmen, daß
die Geschichte gezeigt hätte, daß Rosa doch recht
hatte, und Rosa damit zu einer überhistorischen Figur
des antibürokratischen Kampfes zu erklären.
Bereits der konkrete
historische Zusammenhang steht quer zu diesem Versuch.
Denn dieselbe Rosa, die den „Ultrazentralismus"
Lenins angreift, befürwortet in der deutschen
Sozialdemokratie ein Statut und
Organisationsprinzipien, die weit zentralistischer sind
als die Lenins von 1904. Der eigentliche und bis heute
wichtige Kern der Kontroverse mit Lenin sind die
organisationstheoretischen Vorstellungen zum Verhältnis
Partei und Klasse, zur Einheit und zu den
Spaltungstendenzen der Arbeiterklasse. Rosa erweist
sich hier als die „orthodoxere Marxistin", und gerade
deshalb hat sie ihm gegenüber unrecht, weil es in der
Arbeiterbewegung nach 1900 angesichts der neuen
Veränderungen darauf ankam, über Marx ebenso
hinauszugehen wie über den theoretischen und
revolutionsstrategischen Rahmen der 2. Internationale.
Lenin faßt dies als
widersprüchliches Verhältnis, während Rosa einseitig
die Faktoren betont, die gegenüber der Partei den
Vorrang der Klasse betonen und die Partei nur als
unmittelbaren und direkten Ausdruck der Klasse
begreifen. Ein historischer Rückbezug auf Rosa im Sinne
des Lernens kann sich deshalb nur auf den grundlegend
richtigen Blick „von unten", auf die Klasse und die
Massen, die die Geschichte vorantreiben, beziehen,
nicht aber auf ihre Fehler und Einseitigkeiten, ihr
Verhaftetbleiben im Organisationsmilieu der
Sozialdemokratie und den theoretischen Vorstellungen
der 2. Internationale.
Editorische Hinweise
Der Text
wurde entnommen aus: Parteitheorie in geschichtlicher
Darstellung, in: Theorie
und Praxis 2/1979, Köln 1979, S. 24-27

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