Im
Sommersemester 1967 gehörte ich dem AStA der Pädagogischen
Hochschule in Westberlin an. Ich war Mitglied eines
selbstorganisierten bildungspolitischen Arbeitskreises, der an den
Konventswahlen erfolgreich teilgenommen hatte und die Mehrheit des
AStA stellte.
In der
Woche der Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967
brachte zu unserem wöchentlichen Arbeitskreistreffen am Mittwoch
Rainer Knirsch, damals Student der Publizistik an der FU, den
offenen "Brief
von Ulrike Meinhof an Farah Diba" aus der aktuellen "konkret"
mit. Er schlug vor, daraus ein Flugblatt zu machen, das am folgenden
Freitag, den 2. Juni beim Staatsbesuch des despotische Schahs von
Persien und seiner Gattin Farah Diba entlang von deren
Besichtigungstour durch die Stadt verteilt werden könnte. Wir
stimmten dem zu und erarbeiteten folgenden Begleittext:
Hausfrauen
und Rentner!
Angestellte und Beamte!
Arbeiter und Freischaffende!
Schüler und Studenten!
Dieser „Offene
Brief an Farah Diba" soll beitragen zum Verständnis von Protesten
gegen unmenschliche Daseinsbedingungen, gleich, ob sie in
Deutschland, Vietnam, Griechenland, Persien oder in einem anderen
Teil der Welt bestehen.
Menschen, denen es um Demokratie und Humanität Ernst ist, können
nicht den lächelnden Unterdrückern eines hungernden Volkes
zujubeln.Menschen, denen es um Demokratie und Humanität Ernst ist,
schämen sich für die Presse und die Repräsentanten dieser Stadt,
die über das Lächeln eines Kaiserpaares Hunger und Unterdrückung
eines Volkes vergessen.
Menschen wollen nicht nur in Westberlin sondern auch in Persien
leben. Die persische Monarchie hält das Volk in Unwissenheit, weil
es in Schulen lernen könnte, wie man Hunger und Durst, Krankheit
und Tod bekämpft: indem man den Tyrannen verjagt, indem man sich
selbst regiert.
85 Prozent der persischen Bevölkerung können weder lesen noch
schreiben. Lesen Sie diesen Brief und klären Sie Ihre Umwelt auf.
Erzählen Sie Ihren Kindern, Ihrer Frau, Ihrem Mann, Ihren Eltern
von den unmenschlichen Verhältnissen im Iran, damit sie nicht aus
Dummheit lächelnden Ausbeutern applaudieren.
Erziehung zum Demokraten setzt Kritik voraus an unmenschlichen
Verhältnissen, die in ungerechter Besitzverteilung begründet sind.
Erziehung zum Demokraten setzt voraus, daß die Erzieher
glaubwürdig sind, daß sie Ernst machen mit Demokratie und
Humanität.
Mit dem selbst finanzierten Druck dieses „Offenen Briefes an Farah
Diba", veröffentlicht in der Zeitschrift „konkret" vom Juni dieses
Jahres, wollen Studenten der Pädagogischen Hochschule und der
Freien Universität Berlin, die sich zu „Aktion Demokratische
Erziehung" zusammengeschlossen haben, die Berliner Bevölkerung
über die undemokratischen Verhältnisse in Persien informieren.
Die „Aktion
Demokratische Erziehung" trifft sich jeden Mittwoch um 20 Uhr im
„Club Ca-ira", Berlin 31, Münstersche Str. 4
[Quelle: Freie Universität 1948-1973, Hochschule
im Umbruch, Teil V, S.175f]
Am 2.
Juni wurden dann in den Räumen des AStA Kleingruppen zur
Flugblattverteilung in der Stadt zusammengestellt, mit Flugblättern
ausgerüstet und auf die verschiedenen Örtlichkeiten in der Stadt,
die der Schah und seine Frau besuchen wollten, verteilt. Da ich zu
diesem Organisationsteam gehörte, konnte ich an Aktionen, die
tagsüber stattfanden, nicht teilnehmen, sondern erst am Abend an der
Oper in der Bismarckstr. dazu stoßen.
Von
Lankwitz mit öffentlichen Verkehrsmitteln kommend erreicht ich aus
der Richtung Wilmersdorfer Straße den Bürgersteig, der der Oper
gegenüberlag. Dort hatte zu diesem Zeitpunkt die Polizei bereits die
Situation wieder gezielt eskaliert, so wie sie von der politischen
Führung der Stadt für alle Einsatzorte des Tages instruiert
worden war.
Das
Dokument wurde entnommen aus: Uwe
Soukup, Wie starb Benno Ohnesorg?
Wie
viele Studierende meiner Generation wurde ich sozusagen über
Nacht Teil einer Bewegung, die dann in wenigen Monaten "1968" hervorbrachte.
Das besondere an dieser Bewegung war, dass wir davon überzeugt
waren, "Geschichte zu machen". Aber noch eine zweite
Besondertheit prägte diese Bewegung, nämlich dass wir im
Verlaufe einer sprunghaft breiter werdenden Praxis uns ebenso
spontan das theoretische Rüstzeug erarbeiten mussten, das uns in den
Stand versetzte, die erlebte Unmittelbarkeit auf ihre
gesellschaftliche Vermittlung zurückzuführen.
Spätestens ab dem Scheitern des Kampfes gegen die Notstandsgesetze
im Sommer 1968 bedeutete dies, das Praxis-Theorie-Verhältnis neu zu
justieren. Das führte im Sommer 1969 dazu, die Gründung
revolutionärer Organisationen auf die Agenda zu setzen. Und damit
beförderte die in der Bewegung diskutierte Frage von Bruch & Kontinuität
eine Weichenstellung in der eigenen persönlichen
Geschichte. Rückblickend mag es daher nicht verwundern, dass für die meisten "68er" der persönliche
Lebensweg ab 1970 da fortgesetzt wurde, wo er 1967 unterbrochen
worden war.
Meine
kleine Materialsammlung will anläßlich des 50zigsten Jahrestages ein
wenig dazu beitragen, die Bedeutung von Bruch und
Kontinutät im subjektiven Erleben unserer Generation verständlich
werden zu lassen. Ansonsten möchte ich auf die zahlreichen Dokumente
verweisen, die in den vergangenen Jahren bei Infopartisan dazu
veröffentlicht wurden (siehe dazu weiter unten).
Berlin
im Mai 2017
Karl-Heinz Schubert
Materialien zur Geschichte
der außerparlamentarischen Opposition in Westberlin und der BRD bei
INFOPARTISAN - Eine Auswahl
in alphabetischer Reihenfolge
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