Kapitalismus und Lebenswelt
Zur Theorie des bürgerlichen Individuums bei Marx Teil 9

von Günter Jacob
10/05

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Lebenswelt-Theorien

Die Lebenswelt-Theorien gehen auf Edmund Husserl zurück. Ihn interessiert, wie die Welt den Menschen erscheint, d.h. es geht um die Welt als Phänomen. Husserl nähert sich diesem Thema durch eine spezifische Kritik an der Wissenschaft. Er wollte einer "bodenlos" gewordenen Wissenschaft einen neuen Ausgangspunkt verschaffen, indem er die Frage nach dem "Anfang" der Forschung etwa so beantwortete: Was ganz fraglos und ständig vorhanden und daher untersuchbar ist, das ist die Welt der "natürlichen Einstellungen", der vorwissenschaftliche "gesunde Menschenverstand" der sozialen Alltagswelt (119). Der ganze philosophische Streit, ob es diese Welt überhaupt gibt, ob man sie erkennen kann, ob sie in den idealen Welten der Wissenschaft richtig wiedergegeben wird, etc. sollte durch Bezugnahme auf die "common-sense-world" beendet werden. Damit ist durchaus kein platter Empirismus gemeint. Die Lebenswelttheoretiker sind Phänomenologen. Die Phänomenologie ist nicht einfach eine deskriptive Blickschule. Ihr geht es nicht geradewegs um die "Anschauung", sondern darum, wie sich etwas gibt. Husserls "Analyse der Wahrnehmung" und des "inneren Zeitbewußtseins" gehören wohl zu den exaktesten Analysen der in so vielen Theorien geleugneten Bewußtseinsleistungen, z.B. "Blicke ich auf einen Gegenstand, so habe ich ein Bewußtsein meiner Augenstellung ... und zugleich ein Bewußtsein des ganzen Systems möglicher, mir frei zu Gebote stehenden Augenstellungen." (120) Der "Sinn" ist für die Phänomenologen nicht einfach die "sinnliche Wahrnehmung", sondern ausdrücklich Resultat abstrakten Denkens. Sinn ist Vorstellung, Vorgriff, Erinnerung, Vermutung, Absicht etc. und nicht das "ungeformte" wie bei den Empiristen (121). Die Welt der "natürlichen Einstellung", das ist für Husserl und seine Nachfolger die Welt der Sachen und die Welt der zwischenmenschlichen Beziehungen. Diese Welt ist sozusagen fraglos gegeben. "Unter den vielen Wirklichkeiten gibt es eine, die sich als Wirklichkeit par ex-cellence darstellt. Das ist die Wirklichkeit der Alltagswelt. (...) In ihrer imperativen Gegenwärtigkeit ist sie unmöglich zu ignorieren, ja, auch nur abzuschwächen. Ich erlebe die Alltagswelt im Zustande voller Wachsamkeit. Dieser vollwache Zustand des Existierens in und des Erfassens der Wirklichkeit der Alltagswelt wird als normal . angesehen, das heißt, er bestimmt meine normale, "natürliche" Einstellung. Ich erfahre die Wirklichkeit der Alltagswelt als eine Wirklichkeitsordnung. (...) Die Wirklichkeit der Alltagswelt erscheint bereits objektiviert, das heißt konstituiert durch die Anordnung der Objekte, die schon zu Objekten deklariert waren, längst bevor ich auf der Bühne erschien . Die Sprache, die ich im alltäglichen Leben gebrauche, versorgt mich unaufhörlich mit den notwendigen Objektivationen und setzt mir die Ordnung, in welcher diese Objektivationen Sinn haben und in der Alltagswelt mir sinnhaft erscheint. Ich lebe an einem Ort, der geographisch festgelegt ist. Ich verwende Werkzeuge, deren Bezeichnung zum technischen Wortschatz meiner Gesellschaft gehören. Ich lebe in einem Geflecht menschlicher Beziehungen ... die ebenfalls mit Hilfe eines Vokabulars geregelt werden. (...) Die Wirklichkeit der Alltagswelt ist um das "Hier" meines Körpers und das "Jetzt" meiner Gegenwart herum geordnet. Dieses "Hier" und "Jetzt" ist der Punkt, von dem aus ich die Welt wahrnehme .(...) Die Wirklichkeit des Alltags erschöpft sich jedoch nicht in so unmittelbaren Gegenwärtigkeiten, sondern umfaßt Phänomene, die "hier" und "jetzt" nicht gegenwärtig sind. Das heißt, ich erlebe die Alltagswelt in verschiedenen Graden von Nähe und Ferne, räumlich wie zeitlich. Am nächsten ist mir die Zone der Alltagswelt, die meiner direkten körperlichen Handhabung erreichbar ist. Diese Zone ist die Welt meiner Reichweite, die Welt, in der ich mich betätige, deren Wirklichkeit ich modifizieren kann, die Welt, in der ich arbeite. In dieser Welt ist mein Bewußtsein meistens pragmatisch .(...) Mein Interesse an den fremden Zonen ist meistens geringer, weniger drängend. (...) Die Wirklichkeit der Alltagswelt stellt sich mir ferner als intersubjektive Welt dar, die ich mit anderen teile." (122)

Es war Alfred Schütz, der Husserls Konzept in die Sozialforschung einführte. Schütz und der oben zitierte Luckmann fragen nach den universellen Strukturen, die den Alltagswelten (den "alltäglichen Lebenswelten") zu Grunde liegen. Schütz und Luckmann gehen bei ihrer Analyse der Lebenswelt von folgendem aus: "Die Lebenswelt in ihrer Totalität als Natur-und Sozialwelt verstanden, ist sowohl der Schaupunkt als auch das Zielgebiet meines und unseres wechselseitigen Handelns. Um unsere Ziele zu verwirklichen, müssen wir ihre Gegebenheiten bewältigen und sie verändern. Wir handeln und wirken folglich nicht nur innerhalb der Lebenswelt, sondern auch auf sie zu. Unsere leiblichen Bewegungen greifen in die Lebenswelt ein und verändern ihre Gegenstände und deren wechselseitige Beziehungen. Zugleich leisten diese Gegenstände unseren Handlungen Widerstand, den wir entweder überwinden oder dem wir weichen müssen. Die Lebenswelt ist also eine Wirklichkeit, die wir durch unsere Handlungen modifizieren und die andererseits unsere Handlungen modifiziert." (123)

Der Grund für das praktische Tun ist das "pragmatische Motiv", das die "natürliche Einstellung" gegenüber der Lebenswelt bestimmt. Die bürgerlichen Individuen sind deshalb zur Deutung der Lebenswelt gezwungen, aber nur in dem Maße, wie sie auf sie wirken wollen oder müssen, daher pragmatisch. Schütz beschreibt vollkommen neutral und ohne auf die Zwänge der Konsensbildung und der "Sachen" inhaltlich einzugehen. Die soziale Verteilung des Wissens und die "Relevanz" hängen jedoch eng mit den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen zusammen. Was geschieht mit der abweichenden Meinung und dem Atypischen? Dazu findet man bei Schütz nichts und daran wird deutlich, daß die Lebenswelttheorie als Ganzes keinen wirklichen Anschluß an das "System" findet (124). Die Leistungen dieser Theorie sind trotzdem beeindruckend, denn sie hat erstmals (formal) detailliert untersucht, wie die bürgerlichen Individuen (ohne diese als bürgerliche aufzufassen) pragmatisch aus dem vorhandenen Wissen aussuchen, was sie glauben gebrauchen zu können, wie sie ihre Deutungen produzieren, ihre Strategien entwickeln und auf diese Weise auch Realität konstituieren. Der Mangel ist, daß die Lebenswelttheorie "Gesellschaft" auf das Verhalten und das Handeln der bürgerlichen Individuen reduziert! Es ist deshalb m.E. nicht möglich Marxismus und Lebenswelttheorie über die soziale Bestimmung der Sinnlichkeit, über den Begriff der Charaktermaske und über sogenannte strukturbedingte Relevanzverschiebungen miteinander zu kombinieren (125). Dazu müßte die Lebenswelttheorie sicherlich zuerst umgearbeitet werden, d.h. die Autonomie der Individuen müßte als relative herausgearbeitet werden!

Die Verselbständigung der gesellschaftlichen Verhältnisse gegenüber dem Verhalten der Individuen müßte so berücksichtigt werden, daß erklärbar wird, wieso freies Handeln und Denken auch zu unbeabsichtigten und unbegriffenen Resultaten fuhrt, wieso also letztlich die Summe der Lebensentwürfe "zufällig" deckungsgleich ist mit dem Angebot an Jobs und "Chancen", die eine hierarchisch strukturierte Wirtschaft sowie der Staat bieten. Zu kritisieren ist auch die Tendenz, soziales Handeln auf Deutungsprozesse zu reduzieren und die gegenständliche Tätigkeit weitgehend unbeachtet zu lassen.

Dies geschieht auch in der Ethnome-thodologie. Auch in diesem Konzept geht es um die Sinnproduktion, wobei jedoch der Schwerpunkt darauf liegt, zu zeigen, wie sich die Menschen den jeweils gemeinten Sinn gegenseitig anzeigen, z.B. durch Kommentare, Gesten, Begründungen bzw. durch eine interpretierende Bezugnahme auf das erfahrungsgemäß gemeinte. Der Ethnomethodologie geht es dabei ausdrücklich nur um die formalen Strukturen. Interessant ist ihr Gedanke der Kontextabhängigkeit, d.h. die Ab-hängigigkeit der Deutungen von Ort, Zeitpunkt und spezifischen äußeren Umständen. (Eine Verbeugung kann "turnen" oder "Begrüßung" bedeuten, der Sinn ergibt sich aus der Situation). Harold Garfinkel zeigt etwa, wie im Alltag von Dingen gesprochen wird, ohne sie zu erwähnen. Wenn die Frau des Arbeitslosen von der Nachbarin gefragt wird: "Ihr Mann ist ja so oft zu Hause?", dann weiß die Angesprochene was gemeint ist: l . ein Mann muß "auf der Arbeit" sein, 2 . es sei denn er hat im Lotto gewonnen, 3 . wochentags viel freie Zeit zu haben, gehört sich nicht für normale Leute. Das wissend, wird die Frau sich rechtfertigen, obwohl das alles nicht ausgesprochen wurde.

Was hier zum Ausdruck kommt, ist die Gewalt gesellschaftlicher (oder milieuspezifischer) Konsensbildung. Wer diesen Konsens nicht kennt, wird die Frage nicht oder falsch verstehen. Wer ihn kennt, aber ablehnt, wird sich isolieren. Es fehlt die "gemeinsame Sprache" . So aufschlußreich diese Beobachtungen sind, so gilt auch hier, daß sie "in der Luft" hängen. Nicht nur, daß die Inhalte der Diskurse offen bleiben - das könnte man methodisch rechtfertigen - es wird auch so getan, als könnte der Inhalt der Konsensbildungsprozesse beliebig sein.

Der Wille zur Anpassung

"Der Begriff des Handelns", so schreibt Giddens, ist "mit dem der Macht logisch verknüpft" (126). Die Fähigkeit des Handelnden, in die Ereignisse einzugreifen, ist abhängig von seiner gesellschaftlichen Macht. Geld ist eine solche Macht (die Macht Reichtum und Leute zu kommandieren), aber auch die politische Massenbewegung ist eine. "Kommunikatives Handeln" oder "Interaktion" finden deshalb nicht in einem machtfreien Raum unter lauter Gleichen statt. "Was sich als gesellschaftliche Realität durchsetzt, steht in unmittelbarer Beziehung zur Machtverteilung, nicht nur auf den Ebenen alltäglicher Interaktion, sondern auch auf der Ebene umfassender Kulturen und Ideologien, deren Einfluß tatsächlich in jedem Winkel des Alltagslebens gespürt werden kann."

Dehnt man diese Argumentation auf alle materiellen Machtstrukturen aus, so könnte man von "struktureller Macht" sprechen: Die Reproduktion des Individuums in der bürgerlichen Gesellschaft ist ein Moment der Reproduktion des Kapitals. Mehr noch: Sie ist auch abhängig von einer in das Kapitalverhältnis regulierend eingreifenden Staatsmacht. Wo sich die bürgerlichen Individuen positiv auf diese Voraussetzungen ihrer Reproduktion beziehen, reproduzieren sie diese, obgleich sie sie auf lange Sicht zugleich auch modifizieren.

Den bürgerlichen Individuen sind diese Bedingungen ihrer Existenz bekannt, ohne daß sie wissen, worauf sie beruhen. Der Zwang der von ihnen selbst täglich erneuerten Verhältnisse tritt ihnen wie eine Naturgegebenheit gegenüber und dieser Eindruck wird gerade verstärkt durch ihre Freiheit, d.h. dadurch, daß es ihnen überlassen bleibt, "das Beste" aus der jeweiligen Situation zu machen. Die objektiven Zwänge erscheinen ihnen als Zufall und letztlich als "einfach vorhandene" Voraussetzungen ihres freien Willens. Sie betrachten die Welt daher als Material ihrer Lebensentwürfe.

Zu ihrem Alltagswissen gehören Selbstauslegungen des Lebens, die sich u.a. in umgangssprachlichen Wendungen, "Spruchweisheiten", Moralsätzen oder in einer trivialen Lebensphilosophie niederschlagen, deren Wahrheitsgehalt sich für ihre Anwender aus der jeweiligen Situation ergibt. Diese Selbstauslegungen, sofern sie massenhaft auftreten und daher "idealen Durchschnitt" repräsentieren, benennen den üblichen Umgang der bürgerlichen Individuen mit den von ihnen vorgefundenen Verhältnissen und wirken wiederum - meist befestigend - auf diese Verhältnisse zurück.

Es handelt sich hierbei um mit Willen und Bewußtsein ausgeführte Handlungen, allerdings um solche, bei denen der einmal gefaßte Entschluß, sich z.B. den Fakten zu beugen, im weiteren nur noch als Routine erneuert wird. In Spruchweisheiten, wie etwa "Das Leben geht weiter" oder "Jeder ist seines Glückes Schmied" werden wirkliche oder wenigstens beabsichtigte Handlungsmuster auf den Punkt gebracht und nur deshalb ist es gerechtfertigt, wenn wir diese Lebensweisheiten befragen, um etwas über die Konstitution dieser Gesellschaft in Erfahrung zu bringen.

Die relative Autonomie solcher Deutungsmuster gegenüber dem "System", ihre Stabilität wie auch ihre Eigendynamik erzwingen und ermöglichen ihre spezielle Erforschung und Kritik. In diese handlungsrelevanten Sinninterpretationen sind schließlich nicht nur kulturelle Überlieferungen und materielle Sachzwänge aller Art eingegangen, sondern sie werden täglich erneuert, auch modifiziert, und das kann nur auf der Basis aktueller sozialer Tatbestände geschehen. Wo es um solche Kategorien wie Fleiß, Sparsamkeit, Bescheidenheit, Opferbereitschaft, Gerechtigkeit, Optimismus usw. geht, könnte man erwarten, daß der Zusammenhang von Not und Tugend, von unangenehmen Umständen und deren Idealisierung, noch herausgehört wird.

Doch der alltägliche praktische Vorgang der Relativierung der eigenen Lebensentwürfe an denen anderer hat sich längst zu einem Deutungsmuster befestigt, das seinerseits integriert ist in andere, übergeordnete, gesamtgesellschaftliche Deutungsmuster . Moral, Tugend etc . erscheinen daher als selbständige Gestalten, die das praktische Leben scheinbar konstituieren.

Die Tatsache, daß ein Spruch, wie "Ohne Fleiß kein Preis" schon empirisch nicht eindeutig zutrifft (trotz Fleiß erhalten viele nur einen bescheidenen Preis), führt deshalb auch nicht notwendig zur Kritik dieser Selbstauslegungen, sondern u.U. zu zusätzlicher Moralität (z.B. "Sparsamkeit"). Mit der Herausbildung "üblicher" Deutungsmuster erhält dieser Vorgang starke, die Verhältnisse stabilisierende Momente. Ein Aufbrechen dieser "Macht der Gewohnheit" setzt wenigstens massive Erschütterungen der wirklichen Welt voraus.

"Der mytische .. Respekt der Völker vor dem Gegebenem, das sie doch immerzu schaffen, wird schließlich zur positiven Tatsache, zur Zwingburg, der gegenüber noch die revolutionäre Phantasie sich als Utopismus vor sich selber schämt und zum fügsamen Vertrauen auf die objektive Tendenz der Geschichte entartet." (127) Dem bürgerlichen Indidivuum stehen die

Wahl von Beruf, Wohnort und vieles mehr frei. Angesichts dieser Möglichkeit zur Willkür erscheint ihm jede Verfehlung seiner Lebensziele (und die damit verbundene Ausgrenzung durch andere) als eigene Unfähigkeit oder als Resultat der Hinterlist anderer, denen gegenüber man "zu dumm" war. Ein "richtiger" Umgang mit Erfolg und Mißerfolg erfordert eine entsprechende psychologische Ausstattung, Tugenden etc. (128) Aber diese Feststellung ist sofort einzuschränken. Widersprüche zu ertragen, statt sie zu lösen, erfordert immer einen Entschluß zum Psychologisie-ren, Moralisieren usw. Dies gilt insbesondere dann wenn die wissenschaftliche Erklärung des wirklichen Zusammenhangs bereits vorliegt, denn die wissenschaftlichen Resultate sind für das Alltagsbewußtsein nicht unerreichbar (siehe die massenhafte Berufung auf die Psychologie).

Die Frage, warum sich Individuen gegen eine kritische Behandlung von Ereignissen entscheiden, die sie als widersprüchliche erfahren, führt uns unvermeidlich zur Geschichte gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Denn obwohl der Irrationalismus (129) zweifellos eine objektive Basis in der kapitalistischen Struktur selbst hat, sind die Individuen nicht dazu verdammt und sie zeigen ja auch in abgegrenzten Bereichen, in denen es nicht um ihren gesellschaftlichen Zusammenhang geht, z.B. bei der sachgerechten Ausführung technischer Arbeiten, wozu sie fähig sind. Außerhalb dieser Bereiche macht es jedoch "Sinn", sich gegen partielle Erkenntnisse geradezu zu wehren, den eigenen Verstand zu mißbrauchen und sich zu zwingen, "positiv" zu denken (130). Dieser Sachverhalt ist mit der Verkehrung von Subjekt und Objekt alleine nicht zu erklären. Die Möglichkeit zur Erkenntnis der wirklichen Zusammenhänge ist vorhanden (131). Wenn daraus keine Wirklichkeit wird, so hängt das mit der häufigen Gegenfrage "Was bringt mir die Mühe der Kritik?" zusammen, und diese Frage wird eben umso häufiger gestellt, je "steinerner" die Verhältnisse sich für den Einzelnen darstellen, d.h. je weniger die gesellschaftlichen Verhältnisse im Fluß sind und je schwieriger es daher für Einzelne ist, sich an verändernd wirkenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu beteiligen. Dieser Zusammenhang von Denkformen und Machtverhältnissen wird in den phänomenologischen Theorien, wie gesagt, unterschlagen. Behandelt wird er vor allem in den strukturalistischen Diskurstheorien, aber dort erscheint die Macht als unüberwindlich und der Einzelne als ihr Gefangener. Gegenwärtig war dieser Zusammenhang immer jenen Theoretikern, die mit politischen Massenkämpfen direkt in Berührung kamen, etwa Lukacs oder Adorno und Horkheimer. Letztere wissen immerhin, daß die "Machtungeheuer" den vereinzelten Individuen "alle Poren des Bewußtseins verstopfen", daß sie sich von der Macht "imponieren" lassen, die erst durch die "Passivität der Massen" ermöglicht wird (132).

Während diese Autoren vor allem die institutionelle Macht im Auge haben, kommt es aber ebenso auf die Macht der üblichen Deutungsmuster an - oder wie Foucault sagt auf die "diskursive Polizei". Nicht nur Tugend und Moral sind ohne psychische und physische Kosten nicht zu haben, sondern auch die Kritik daran. Diese "körperdurchdringenden" Machtverhältnisse sind jedoch nicht zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort gleich massiv, eben weil es sich um jeweils konkrete Macht-Verhältnisse handelt.

Anmerkungen:

(119) Vgl. B. Wadenfels, Phänomenologie und Marxismus, S.Band, Frankfurt 1978, S.19.

(120) Vgl. Husserl, S.67

(121) Vgl. die ausgezeichnete Kritik am Empirismus bei H.D. Bahr, Theorie und Empirie, in: Gesellschaft - Beiträge zurMarxschen Theorie, Band 4, Frankfurt 1975, S. 159.

(122) Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt 1986, S.24ff, auch Husserl, S.80 und 166ff.

(123) Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Neuwied 1975,5.25.

(124) Ähnlich auch Giddens, Die Klassenstruktur fortgeschrittener Gesellschaften, Frankfurt 1979, S.39 und Wadenfels, S.25.

(125) Siehe J. Strubar, Konstruktion sozialer Lebenswelten bei Marx, in: Wadenfels u.a.. S.182.

(126) Giddens, S.133

(127) Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1984, S.40

(128) Vgl. A. Heller, Instinkt, Aggression, Charakter, Hamburg 1977, S.47. Dieser Ausleseprozeß trifft z.Z. viele Leute in der Ex-DDR, die noch nicht alle Psycho-Tricks und Rationalisierungsmuster drauf haben, die im Westen Standard sind.

(129) Vgl. das Buch von Gerd Göckenjan, Kurieren und Staat machen - Gesundheit und Medizin in der bürgerlichen Welt. Zum bürgerlichen Irrationalismus vgl. Marx, Kapital, S.Band, S.826.

(130) Die Forderung "Seelisch gesund durch Illusionen" gilt unter heutigen Psychologen als seriös.

(131) Vgl. Marx, Grundrisse, S.77 über "Donquichoterie".

(132) Vgl. Horkheimer/Adorno S. 183 und Lukacs, Die Zerstörung der Vernunft, Darmstadt 1980, S.88 und 96.

 

Editorische Anmerkungen

Der vorliegende Text erschien in der Hannoveranischen Zeitschrift SPEZIAL links & radikal, Nr. 96, 1993, S. 28ff, OCR-Scan by red. trend
Die SPEZIAL-Säzzer schreiben in dieser Ausgabe als Anmerkung:

Wir setzen an dieser Stelle den (in diesem Abschnitt ungekürzten) Abdruck der längeren Arbeit von Günther Jacob aus Hamburg „ Zur Theorie des bürgerlichen Individuums bei Marx" fort. In diesem 9. Teil - es werden noch andere folgen - befasst sich G. Jacob zunächst weiterhin mit den Auswirkungen der Verdinglichung auf die 'Gefühlswelt' des bürgerlichen Individuums.

Daran anschließend wendet er sich der Frage zu, wie sich das einzelne Individuum aus den umlaufenden Deutungen seinen 'persönlichen Sinn' heraussucht und dazu kommt, eine 'Lebensstrategie' zu entwerfen.

Am Ende dieser Folge untersucht G. Jacob als zentrale Determinanten die zwei Welten des Individuums: Seine sozialen Existenzbedingungen sowie die bereits vorhandenen Deutungsmuster.

Wir danken der Zeitschrift 17°C für die Genehmigung zum Abdruck.