Lebenswelt-Theorien
Die Lebenswelt-Theorien gehen auf Edmund Husserl zurück. Ihn
interessiert, wie die Welt den Menschen erscheint, d.h. es geht
um die Welt als Phänomen. Husserl nähert sich diesem Thema durch
eine spezifische Kritik an der Wissenschaft. Er wollte einer
"bodenlos" gewordenen Wissenschaft einen neuen Ausgangspunkt
verschaffen, indem er die Frage nach dem "Anfang" der Forschung
etwa so beantwortete: Was ganz fraglos und ständig vorhanden und
daher untersuchbar ist, das ist die Welt der "natürlichen
Einstellungen", der vorwissenschaftliche "gesunde
Menschenverstand" der sozialen Alltagswelt (119). Der ganze
philosophische Streit, ob es diese Welt
überhaupt gibt, ob man sie erkennen kann, ob sie in den idealen
Welten der Wissenschaft richtig wiedergegeben wird, etc. sollte
durch Bezugnahme auf die "common-sense-world" beendet werden.
Damit ist durchaus kein platter Empirismus gemeint. Die
Lebenswelttheoretiker sind Phänomenologen. Die Phänomenologie
ist nicht einfach eine deskriptive Blickschule. Ihr geht es
nicht geradewegs um die "Anschauung", sondern darum, wie sich
etwas gibt. Husserls "Analyse der Wahrnehmung" und des "inneren
Zeitbewußtseins" gehören wohl zu den exaktesten Analysen der in
so vielen Theorien geleugneten Bewußtseinsleistungen, z.B.
"Blicke ich auf einen Gegenstand, so habe ich ein Bewußtsein
meiner Augenstellung ... und zugleich ein Bewußtsein des ganzen
Systems möglicher, mir frei zu Gebote stehenden
Augenstellungen." (120) Der "Sinn" ist für die Phänomenologen
nicht einfach die "sinnliche Wahrnehmung", sondern ausdrücklich
Resultat abstrakten Denkens. Sinn ist Vorstellung, Vorgriff,
Erinnerung, Vermutung, Absicht etc. und nicht das "ungeformte"
wie bei den Empiristen (121). Die Welt der "natürlichen
Einstellung", das ist für Husserl und seine Nachfolger die Welt
der Sachen und die Welt der zwischenmenschlichen Beziehungen.
Diese Welt ist sozusagen fraglos gegeben. "Unter den vielen
Wirklichkeiten gibt es eine, die sich als Wirklichkeit par
ex-cellence darstellt. Das ist die Wirklichkeit der Alltagswelt.
(...) In ihrer imperativen Gegenwärtigkeit ist sie unmöglich zu
ignorieren, ja, auch nur abzuschwächen. Ich erlebe die
Alltagswelt im Zustande voller Wachsamkeit. Dieser vollwache
Zustand des Existierens in und des Erfassens der Wirklichkeit
der Alltagswelt wird als normal . angesehen, das heißt, er
bestimmt meine normale, "natürliche" Einstellung. Ich erfahre
die Wirklichkeit der Alltagswelt als eine Wirklichkeitsordnung.
(...) Die Wirklichkeit der Alltagswelt erscheint bereits
objektiviert, das heißt konstituiert durch
die Anordnung der Objekte, die schon zu Objekten
deklariert waren, längst bevor ich auf der Bühne erschien . Die
Sprache, die ich im alltäglichen Leben gebrauche, versorgt mich
unaufhörlich mit den notwendigen Objektivationen und setzt mir
die Ordnung, in welcher diese Objektivationen Sinn haben und in
der Alltagswelt mir sinnhaft erscheint. Ich lebe an einem Ort,
der geographisch festgelegt ist. Ich verwende Werkzeuge, deren
Bezeichnung zum technischen Wortschatz meiner Gesellschaft
gehören. Ich lebe in einem Geflecht menschlicher Beziehungen ...
die ebenfalls mit Hilfe eines Vokabulars geregelt werden. (...)
Die Wirklichkeit der Alltagswelt ist um das "Hier" meines
Körpers und das "Jetzt" meiner Gegenwart herum geordnet. Dieses
"Hier" und "Jetzt" ist der Punkt, von dem aus ich die Welt
wahrnehme .(...) Die Wirklichkeit des Alltags erschöpft sich
jedoch nicht in so unmittelbaren Gegenwärtigkeiten, sondern
umfaßt Phänomene, die "hier" und "jetzt" nicht gegenwärtig sind.
Das heißt, ich erlebe die Alltagswelt in verschiedenen Graden
von Nähe und Ferne, räumlich wie zeitlich. Am nächsten ist mir
die Zone der Alltagswelt, die meiner direkten körperlichen
Handhabung erreichbar ist. Diese Zone ist die Welt meiner
Reichweite, die Welt, in der ich mich betätige, deren
Wirklichkeit ich modifizieren kann, die Welt, in der ich
arbeite. In dieser Welt ist mein Bewußtsein meistens pragmatisch
.(...) Mein Interesse an den fremden Zonen ist meistens
geringer, weniger drängend. (...) Die Wirklichkeit der
Alltagswelt stellt sich mir ferner als intersubjektive Welt dar,
die ich mit anderen teile." (122)
Es war Alfred Schütz, der Husserls Konzept in die
Sozialforschung einführte. Schütz und der oben zitierte Luckmann
fragen nach den universellen Strukturen, die den Alltagswelten
(den "alltäglichen Lebenswelten") zu Grunde liegen. Schütz und
Luckmann gehen bei ihrer Analyse der Lebenswelt von folgendem
aus: "Die Lebenswelt in ihrer Totalität als Natur-und Sozialwelt
verstanden, ist sowohl der Schaupunkt als auch das Zielgebiet
meines und unseres wechselseitigen Handelns. Um unsere Ziele zu
verwirklichen, müssen wir ihre Gegebenheiten bewältigen und sie
verändern. Wir handeln und wirken folglich nicht nur innerhalb
der Lebenswelt, sondern auch auf sie zu. Unsere leiblichen
Bewegungen greifen in die Lebenswelt ein und verändern ihre
Gegenstände und deren wechselseitige Beziehungen. Zugleich
leisten diese Gegenstände unseren Handlungen Widerstand, den wir
entweder überwinden oder dem wir weichen müssen. Die Lebenswelt
ist also eine Wirklichkeit, die wir durch unsere Handlungen
modifizieren und die andererseits unsere Handlungen
modifiziert." (123)
Der Grund für das praktische Tun ist das "pragmatische
Motiv", das die "natürliche Einstellung" gegenüber der
Lebenswelt bestimmt. Die bürgerlichen Individuen sind deshalb
zur Deutung der Lebenswelt gezwungen, aber nur in dem Maße, wie
sie auf sie wirken wollen oder müssen, daher pragmatisch. Schütz
beschreibt vollkommen neutral und ohne auf die Zwänge der
Konsensbildung und der "Sachen" inhaltlich einzugehen. Die
soziale Verteilung des Wissens und die "Relevanz" hängen jedoch
eng mit den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen zusammen. Was
geschieht mit der abweichenden Meinung und dem Atypischen? Dazu
findet man bei Schütz nichts und daran wird deutlich, daß die
Lebenswelttheorie als Ganzes keinen wirklichen Anschluß an das
"System" findet (124). Die Leistungen dieser Theorie sind
trotzdem beeindruckend, denn sie hat erstmals (formal)
detailliert untersucht, wie die bürgerlichen Individuen (ohne
diese als bürgerliche aufzufassen) pragmatisch aus dem
vorhandenen Wissen aussuchen, was sie glauben gebrauchen zu
können, wie sie ihre Deutungen produzieren, ihre Strategien
entwickeln und auf diese Weise auch Realität konstituieren. Der
Mangel ist, daß die Lebenswelttheorie "Gesellschaft" auf das
Verhalten und das Handeln der bürgerlichen Individuen reduziert!
Es ist deshalb m.E. nicht möglich Marxismus und
Lebenswelttheorie über die soziale Bestimmung der Sinnlichkeit,
über den Begriff der Charaktermaske und über sogenannte
strukturbedingte Relevanzverschiebungen miteinander zu
kombinieren (125). Dazu müßte die Lebenswelttheorie sicherlich
zuerst umgearbeitet werden, d.h. die Autonomie der Individuen
müßte als relative herausgearbeitet werden!
Die Verselbständigung der gesellschaftlichen Verhältnisse
gegenüber dem Verhalten der Individuen müßte so berücksichtigt
werden, daß erklärbar wird, wieso freies Handeln und Denken auch
zu unbeabsichtigten und unbegriffenen Resultaten fuhrt, wieso
also letztlich die Summe der Lebensentwürfe "zufällig"
deckungsgleich ist mit dem Angebot an Jobs und "Chancen", die
eine hierarchisch strukturierte Wirtschaft sowie der Staat
bieten. Zu kritisieren ist auch die Tendenz, soziales
Handeln auf Deutungsprozesse zu reduzieren und die
gegenständliche Tätigkeit weitgehend unbeachtet zu lassen.
Dies geschieht auch in der Ethnome-thodologie. Auch in diesem
Konzept geht es um die Sinnproduktion, wobei jedoch der
Schwerpunkt darauf liegt, zu zeigen, wie sich die Menschen den
jeweils gemeinten Sinn gegenseitig anzeigen, z.B. durch
Kommentare, Gesten, Begründungen bzw. durch eine
interpretierende Bezugnahme auf das erfahrungsgemäß gemeinte.
Der Ethnomethodologie geht es dabei ausdrücklich nur um die
formalen Strukturen. Interessant ist ihr Gedanke der
Kontextabhängigkeit, d.h. die Ab-hängigigkeit der Deutungen von
Ort, Zeitpunkt und spezifischen äußeren Umständen. (Eine
Verbeugung kann "turnen" oder "Begrüßung" bedeuten, der Sinn
ergibt sich aus der Situation). Harold Garfinkel zeigt etwa, wie
im Alltag von Dingen gesprochen wird, ohne sie zu erwähnen. Wenn
die Frau des Arbeitslosen von der Nachbarin gefragt wird: "Ihr
Mann ist ja so oft zu Hause?", dann weiß die Angesprochene was
gemeint ist: l . ein Mann muß "auf der Arbeit" sein, 2 . es sei
denn er hat im Lotto gewonnen, 3 . wochentags viel freie Zeit zu
haben, gehört sich nicht für normale Leute. Das wissend, wird
die Frau sich rechtfertigen, obwohl das alles nicht
ausgesprochen wurde.
Was hier zum Ausdruck kommt, ist die Gewalt
gesellschaftlicher (oder milieuspezifischer) Konsensbildung. Wer
diesen Konsens nicht kennt, wird die Frage nicht oder falsch
verstehen. Wer ihn kennt, aber ablehnt, wird sich isolieren. Es
fehlt die "gemeinsame Sprache" . So aufschlußreich diese
Beobachtungen sind, so gilt auch hier, daß sie "in der Luft"
hängen. Nicht nur, daß die Inhalte der Diskurse offen bleiben -
das könnte man methodisch rechtfertigen - es wird auch so getan,
als könnte der Inhalt der Konsensbildungsprozesse beliebig sein.
Der Wille zur Anpassung
"Der Begriff des Handelns", so schreibt Giddens, ist "mit dem
der Macht logisch verknüpft" (126). Die Fähigkeit des
Handelnden, in die Ereignisse einzugreifen, ist abhängig von
seiner gesellschaftlichen Macht. Geld ist eine solche Macht (die
Macht Reichtum und Leute zu
kommandieren), aber auch die politische Massenbewegung ist eine.
"Kommunikatives Handeln" oder "Interaktion" finden deshalb nicht
in einem machtfreien Raum unter lauter Gleichen statt. "Was sich
als gesellschaftliche Realität durchsetzt, steht in
unmittelbarer Beziehung zur Machtverteilung, nicht nur auf den
Ebenen alltäglicher Interaktion, sondern auch auf der Ebene
umfassender Kulturen und Ideologien, deren Einfluß tatsächlich
in jedem Winkel des Alltagslebens gespürt werden kann."
Dehnt man diese Argumentation auf alle materiellen
Machtstrukturen aus, so könnte man von "struktureller Macht"
sprechen: Die Reproduktion des Individuums in der bürgerlichen
Gesellschaft ist ein Moment der Reproduktion des Kapitals. Mehr
noch: Sie ist auch abhängig von einer in das Kapitalverhältnis
regulierend eingreifenden Staatsmacht. Wo sich die bürgerlichen
Individuen positiv auf diese Voraussetzungen ihrer Reproduktion
beziehen, reproduzieren sie diese, obgleich sie sie auf lange
Sicht zugleich auch modifizieren.
Den bürgerlichen Individuen sind diese Bedingungen ihrer
Existenz bekannt, ohne daß sie wissen, worauf sie beruhen. Der
Zwang der von ihnen selbst täglich erneuerten Verhältnisse tritt
ihnen wie eine Naturgegebenheit gegenüber und dieser Eindruck
wird gerade verstärkt durch ihre Freiheit, d.h. dadurch, daß es
ihnen überlassen bleibt, "das Beste" aus der jeweiligen
Situation zu machen. Die objektiven Zwänge erscheinen ihnen als
Zufall und letztlich als "einfach vorhandene" Voraussetzungen
ihres freien Willens. Sie betrachten die Welt daher als Material
ihrer Lebensentwürfe.
Zu ihrem Alltagswissen gehören Selbstauslegungen des Lebens,
die sich u.a. in umgangssprachlichen
Wendungen, "Spruchweisheiten",
Moralsätzen oder in einer trivialen Lebensphilosophie
niederschlagen, deren Wahrheitsgehalt sich für ihre Anwender aus
der jeweiligen Situation ergibt. Diese Selbstauslegungen, sofern
sie massenhaft auftreten und daher "idealen Durchschnitt"
repräsentieren, benennen den üblichen Umgang der bürgerlichen
Individuen mit den von ihnen vorgefundenen Verhältnissen und
wirken wiederum - meist befestigend - auf diese Verhältnisse
zurück.
Es handelt sich hierbei um mit Willen und Bewußtsein
ausgeführte Handlungen, allerdings um solche, bei denen der
einmal gefaßte Entschluß, sich z.B. den Fakten zu beugen, im
weiteren nur noch als Routine erneuert
wird. In Spruchweisheiten, wie etwa "Das Leben geht weiter" oder
"Jeder ist seines Glückes Schmied" werden wirkliche oder
wenigstens beabsichtigte Handlungsmuster auf den Punkt gebracht
und nur deshalb ist es gerechtfertigt, wenn wir diese
Lebensweisheiten befragen, um etwas über die Konstitution dieser
Gesellschaft in Erfahrung zu bringen.
Die relative Autonomie solcher Deutungsmuster gegenüber dem
"System", ihre Stabilität wie auch ihre Eigendynamik erzwingen
und ermöglichen ihre spezielle Erforschung und Kritik. In diese
handlungsrelevanten Sinninterpretationen sind schließlich nicht
nur kulturelle Überlieferungen und materielle Sachzwänge aller
Art eingegangen, sondern sie werden täglich erneuert, auch
modifiziert, und das kann nur auf der Basis aktueller sozialer
Tatbestände geschehen. Wo es um solche Kategorien wie Fleiß,
Sparsamkeit, Bescheidenheit, Opferbereitschaft, Gerechtigkeit,
Optimismus usw. geht, könnte man erwarten, daß der Zusammenhang
von Not und Tugend, von unangenehmen Umständen und deren
Idealisierung, noch herausgehört wird.
Doch der alltägliche praktische Vorgang der Relativierung der
eigenen Lebensentwürfe an denen anderer hat sich längst zu einem
Deutungsmuster befestigt, das seinerseits integriert ist in
andere, übergeordnete, gesamtgesellschaftliche Deutungsmuster .
Moral, Tugend etc . erscheinen daher als selbständige Gestalten,
die das praktische Leben scheinbar konstituieren.
Die Tatsache, daß ein Spruch, wie "Ohne Fleiß kein Preis"
schon empirisch nicht eindeutig zutrifft (trotz Fleiß erhalten
viele nur einen bescheidenen Preis), führt deshalb auch nicht
notwendig zur Kritik dieser Selbstauslegungen, sondern u.U. zu
zusätzlicher Moralität (z.B. "Sparsamkeit"). Mit der
Herausbildung "üblicher" Deutungsmuster erhält dieser Vorgang
starke, die Verhältnisse stabilisierende Momente. Ein Aufbrechen
dieser "Macht der Gewohnheit" setzt wenigstens massive
Erschütterungen der wirklichen Welt voraus.
"Der mytische .. Respekt der Völker vor dem Gegebenem, das
sie doch immerzu schaffen, wird schließlich zur positiven
Tatsache, zur Zwingburg, der gegenüber noch die revolutionäre
Phantasie sich als Utopismus vor sich selber schämt und zum
fügsamen Vertrauen auf die objektive Tendenz der Geschichte
entartet." (127) Dem bürgerlichen Indidivuum stehen die
Wahl von Beruf, Wohnort und vieles mehr frei. Angesichts
dieser Möglichkeit zur Willkür erscheint ihm jede Verfehlung
seiner Lebensziele (und die damit verbundene Ausgrenzung durch
andere) als eigene Unfähigkeit oder als Resultat der Hinterlist
anderer, denen gegenüber man "zu dumm" war. Ein "richtiger"
Umgang mit Erfolg und Mißerfolg erfordert eine entsprechende
psychologische Ausstattung, Tugenden etc. (128) Aber diese
Feststellung ist sofort einzuschränken. Widersprüche zu
ertragen, statt sie zu lösen, erfordert immer einen Entschluß
zum Psychologisie-ren, Moralisieren usw. Dies gilt insbesondere
dann wenn die wissenschaftliche Erklärung des wirklichen
Zusammenhangs bereits vorliegt, denn die wissenschaftlichen
Resultate sind für das Alltagsbewußtsein nicht unerreichbar
(siehe die massenhafte Berufung auf die Psychologie).
Die Frage, warum sich Individuen gegen eine kritische
Behandlung von Ereignissen entscheiden, die sie als
widersprüchliche erfahren, führt uns unvermeidlich zur
Geschichte gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Denn obwohl
der Irrationalismus (129) zweifellos eine objektive Basis in der
kapitalistischen Struktur selbst hat, sind die Individuen nicht
dazu verdammt und sie zeigen ja auch in abgegrenzten Bereichen,
in denen es nicht um ihren gesellschaftlichen Zusammenhang geht,
z.B. bei der sachgerechten Ausführung technischer Arbeiten, wozu
sie fähig sind. Außerhalb dieser Bereiche macht es jedoch
"Sinn", sich gegen partielle Erkenntnisse geradezu zu wehren,
den eigenen Verstand zu mißbrauchen und sich zu zwingen,
"positiv" zu denken (130). Dieser Sachverhalt ist mit der
Verkehrung von Subjekt und Objekt alleine nicht zu erklären. Die
Möglichkeit zur Erkenntnis der wirklichen Zusammenhänge ist
vorhanden (131). Wenn daraus keine Wirklichkeit wird, so hängt
das mit der häufigen Gegenfrage "Was bringt mir die Mühe der
Kritik?" zusammen, und diese Frage wird eben umso häufiger
gestellt, je "steinerner" die Verhältnisse sich für den
Einzelnen darstellen, d.h. je weniger die gesellschaftlichen
Verhältnisse im Fluß sind und je schwieriger es daher für
Einzelne ist, sich an verändernd wirkenden gesellschaftlichen
Auseinandersetzungen zu beteiligen. Dieser Zusammenhang von
Denkformen und Machtverhältnissen wird in den phänomenologischen
Theorien, wie gesagt, unterschlagen. Behandelt wird er vor allem
in den strukturalistischen Diskurstheorien, aber dort erscheint
die Macht als unüberwindlich und der Einzelne als ihr
Gefangener. Gegenwärtig war dieser Zusammenhang immer jenen
Theoretikern, die mit politischen Massenkämpfen direkt in
Berührung kamen, etwa Lukacs oder Adorno und Horkheimer.
Letztere wissen immerhin, daß die "Machtungeheuer" den
vereinzelten Individuen "alle Poren des Bewußtseins verstopfen",
daß sie sich von der Macht "imponieren" lassen, die erst durch
die "Passivität der Massen" ermöglicht wird (132).
Während diese Autoren vor allem die institutionelle Macht im
Auge haben, kommt es aber ebenso auf die Macht der üblichen
Deutungsmuster an - oder wie Foucault sagt auf die "diskursive
Polizei". Nicht nur Tugend und Moral sind ohne psychische und
physische Kosten nicht zu haben, sondern auch die Kritik daran.
Diese "körperdurchdringenden" Machtverhältnisse sind jedoch
nicht zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort gleich massiv, eben
weil es sich um jeweils konkrete Macht-Verhältnisse handelt.
Anmerkungen:
(119) Vgl. B. Wadenfels,
Phänomenologie und Marxismus, S.Band, Frankfurt 1978, S.19.
(120) Vgl. Husserl, S.67
(121) Vgl. die ausgezeichnete Kritik am Empirismus bei H.D.
Bahr, Theorie und Empirie, in: Gesellschaft - Beiträge
zurMarxschen Theorie, Band 4, Frankfurt 1975, S. 159.
(122) Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der
Wirklichkeit, Frankfurt 1986, S.24ff, auch Husserl, S.80 und
166ff.
(123) Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Neuwied
1975,5.25.
(124) Ähnlich auch Giddens, Die Klassenstruktur
fortgeschrittener Gesellschaften, Frankfurt 1979, S.39 und
Wadenfels, S.25.
(125) Siehe J. Strubar, Konstruktion sozialer Lebenswelten
bei Marx, in: Wadenfels u.a.. S.182.
(126) Giddens, S.133
(127) Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt
1984, S.40
(128) Vgl. A. Heller, Instinkt, Aggression, Charakter,
Hamburg 1977, S.47. Dieser Ausleseprozeß trifft z.Z. viele Leute
in der Ex-DDR, die noch nicht alle Psycho-Tricks und
Rationalisierungsmuster drauf haben, die im Westen Standard
sind.
(129) Vgl. das Buch von Gerd Göckenjan, Kurieren und Staat
machen - Gesundheit und Medizin in der bürgerlichen Welt. Zum
bürgerlichen Irrationalismus vgl. Marx, Kapital, S.Band, S.826.
(130) Die Forderung "Seelisch gesund durch Illusionen" gilt
unter heutigen Psychologen als seriös.
(131) Vgl. Marx, Grundrisse, S.77 über "Donquichoterie".
(132) Vgl. Horkheimer/Adorno S. 183 und Lukacs, Die
Zerstörung der Vernunft, Darmstadt 1980, S.88 und 96.