Kapitalismus und Lebenswelt
Zur Theorie des bürgerlichen Individuums bei Marx
Teil 1

von Günter Jacob
02/05

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Die Ansicht, wonach unsere gesellschaftlichen Lebensformen heute ihre strukturelle Gefügtheit verlieren, das berechtigte Maß, auf das hin die Subjekte ihren Lebensentwurf, ihre Biographie und Identität ausrichten können, kann man heute in jeder Illustrierten nachlesen. Daß der Marxsche Begriff vom Klassenkampf irgendwie die komplexe Realität in den westlichen Metropolen nicht mehr völlig erfaßt, meinen heute selbst linientreue DKP-Theoretiker. Und das nicht nur, weil sie zu oft und zu lange Gorbatschows Thesen von den alle Klassenfragen zweitrangig machenden globalen Gefahren propagiert hatten. Gebildete Leute, die seit zwanzig Jahren im selben Strickpullover herumlaufen, die gegen die Wechsel der Mode, der Musik und der Lebensstile völlig immun sind, lassen sich heute über den "postmodemen Diskurs" aus und konstatieren die 'Verbreitung eines lässigen Pluralismus, ein heterogenes Sortiment von Lebensstilen und Sprachspielen, eine allgemeine ästhetische Aufheiterung."

Die mit massivem Mitgliederschwund kämpfenden, systemkonformen Jugendverbände geben Studien in Auftrag, um etwas über die immer aufwendiger werdenden jugendlichen Selbstdarstellungsstrategien, auch 'Identitätsarbeit" genannt, herauszufinden. Auf der anderen Seite stehen jene, die dem bürgerlichen Evergreen vom "Ende des Klassenkampfes" noch nie über den Weg trauten, die wissen, daß Skepsis angebracht ist, wenn bekannte opportunistische Figuren und Zeitgeistschreiber wohlfeile Worte für neue Phänomene anbieten, zumal man ja seit E. P. Thompson und Pierre Bourdieu weiß. daß Soziologie und Öffentlichkeit die von ihnen behaupteten Phänomene auch zur Realität machen können. Edward P. Thompson hat in seinem Buch, "Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse" nachgewiesen, daß die Entwicklung des Kapitalismus zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Entstehung der Arbeiterklasse war. Wie wenig Armut und Elend automatisch zu revolutionärem Bewußtsein führen, zeigt er am Beispiel des "King and Church"-Mobs, der in den Jahren der französischen Revolution Personen angriff, die mit den Revolutionären in Frankreich sympathisierten. Nicht das absolute Ausmaß der Armut, sondern deren Erfahrung und Interpretation als "moralisches Unrecht" ist nach Thompson die Ursache für den Widerstand. Demnach kann eine Klasse nur in sozialen Kämpfen sichtbar werden. Umgekehrt zeugen soziale Stabilität und fehlende Empörung nicht unbedingt von der Abwesenheit materiellen und psychischen Elends, sondern von der moralisch-politischen Übereinstimmung der Betroffenen mit normativen Vorstellungen von einem sozial adäquaten Leben. Pierre Bourdieu wiederum zeigt in "Die feinen Unterschiede - Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft", wie öffentliche Vorstellungen von Interessensidentitäten und Distanzen zur realen Ausbildung von sozialen Gruppierungen führen können. Er spricht von der "Klasse als Wille und Vorstellung" und zeigt, wie die marxistische Arbeiterbewegung erst die Arbeiterklasse "machte", indem sie die verschiedenen Ansatzpunkte für die Auflösung von Gruppenzusammenhängen durch identitätsschaffende Losungen wie "Solidarität" relativierte:

"Wie heute in vielen Ländern die sogenannte Arbeiterklasse existiert, ist absolut paradox: es ist dies eine gedankliche Existenz, eine Existenz in den Köpfen eines Gutteils derjenigen, die der Arbeiterschaft zugeordnet werden, zugleich auch in den Köpfen derer, die in der anderen Ecke des sozialen Raumes angesiedelt sind".

Die Existenz einer Arbeiterklasse verdankt sich demnach "dem Vorhandensein einer repräsentierten Arbeiterklasse, daß heißt politisch-gewerkschaftlicher Apparate und bestallter Wortführer, Funktionäre, die nicht allein ein vitales Interesse daran haben, an den Bestand dieser Klasse zu glauben wie glauben zu machen, sondern die darüber hinaus imstande sind, die "Arbeiterklasse" zum Sprechen zu bringen." Auch hier gilt dann der umgekehrte Schluß: Nach der Zerschlagung der Arbeiterklasse durch den Faschismus wurde die "Arbeiterklasse" von einer auf Neutralisierung von Klassengegensätzen ausgerichteten Öffentlichkeit und .kompromißlerischen Funktionären "derealisiert". Die vierzigjährige Propaganda vom "Ende des Klassenkampfes" im deutschen Frontstaat blieb also nicht ohne Wirkung. Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die - die Vorarbeit des Faschismus meist ausblendende -Diskussion über die Individualisierung sozialer Lagen in Deutschland so populär ist. So wie weiße Rassisten Afro-Amerikaner durch Ausgrenzung als "ethnische Gruppe" erst schaffen, also schwarze Menschen verschiedener Herkunft "rassifizieren", so wurde die deutsche "Arbeiterklasse" im Land nach dem Faschismus in der willentlichen Vorstellung der Öffentlichkeit "ent-rassifiziert" und derealisiert. Dieser Zustand von dessen Genesis bürgerliche Soziologen und marxistisch-fundamentalistische Werttheoretiker gleichermaßen nichts wissen wollen, ermöglichte in Deutschland die raschere Durchsetzung von dem Kapitalismus immanenten 'Tendenzen", um die es in dem nachfolgenden Text gehen soll: Die Herauslösung des einzelnen aus historisch vorgegebenen Sozialformen im Sinne traditioneller Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge, der Verlust von traditionellen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungsweise, Glauben und leitende Normen und - möglicherweise - die Entstehung neuer Formen sozialer Einbindung.

Wo Kollektivschicksale wie Arbeitslosigkeit zu individualisierten persönlichen Schicksalen werden, Ungleichheiten also sozial anders gedeutet werden als früher, ist eine klassenanalytische Erklärung nicht mehr gefragt und in ihrer traditionellen Gestalt auch nicht mehr haltbar.

Dieser Text versucht demgegenüber zu zeigen, daß für Marx Individualisierungstendenzen in die Bewegung der Kapitalakkumulation eingebunden bleiben. Mehr noch: Es wird der Nachweis versucht, daß sich in Marx' Kritik der politischen Ökonomie die Elemente einer Theorie und Kritik der bürgerlichen Individualität finden, die sich mit einer Klassentheorie nicht nur vereinbaren lassen, sondern ohne die eine Individualitätstheorie gar nicht durchgehalten werden kann.

Ist diese Einsicht erst einmal gegeben, so braucht man um den aktuellen Forschungsstand zeitgenössischer Soziologen (einige davon werden in den letzten Kapiteln dieses Textes vorgestellt) auch keinen Bogen mehr zu machen. Dann kann man zum Beispiel Bourdieus Habitus-Theorie und Norbert Elias' Zivilisationstheorie, (insbesondere seine Ausführungen über den modernen Zwang zum Selbstzwang) für eine dringend notwendige Aktualisierung des Marxschen Ansatzes fruchtbar machen und sich der historischen und empirischen Forschung der Individualitätsformen zuwenden. Ohne diese Einsicht bleiben nur zwei Alternativen - entweder die heroische Verteidigung eines prinzipienfesten "Klassenstandpunktes", bei der Beurteilung von HipHop, Ikeamöbeln und Scheidungsstatistiken oder aber der lebenslange Zwang zur Orientierung an den "In/ Out"-Listen der Zeitgeistblätter. Für Hektik und leichtfertige Polarisierung gibt es heute weniger Gründe als je zuvor. Erst recht nicht für eine theoretische Überrumpelung, die in diversen Kleinstgruppierungen heute erneut zur altbekannten Einteilung in die "Linie" vorgebende Genossen und ein verzweifelt um angemessene "Einsicht" ringendes Fußvolk führt. Die Entfaltung der Kategorien erfolgt in diesem Papier schrittweise und ist m.E. auf jeder Stufe nachvollziehbar und daher kontrollierbar und kritisierbar.

Daß der Marxismus allgemein für untauglich gehalten wird, die modernen Verhältnisse zu begreifen, geht in erster Linie auf die vom Kapitalismus selbst produzierten Verkehrungen und Trennungen zurück. Gemeint sind erstens die Verkehrung von Subjekt und Objekt, durch die alle zivi-lisatorischen Tendenzen als Leistung von Kapital und Staat erscheinen und zweitens die widersprüchliche Weise der Herausbildung von Individualität, die sich im Kapitalismus als schroffe Gegenüberstellung der Lebenspläne des vereinzelten Einzelnen und der Gesellschaft darstellt. (Die Ursachen solcher Mystifikationen werden noch zur Sprache kommen.) Es ist allerdings auch nicht zu übersehen, daß die Assoziation von "Ktassenkampf" und "Ausbeutung" (der letzte Begriff wird bevorzugt im Sinne von Ungerechtigkeit, mangelnder Fairneß etc. gebraucht) mit dem Marxschen Werk durch eine ganz bestimmte Rezeption der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie Vorschub geleistet wurde und wird, die m.E. selbst in den kapitalistischen Verdi nglichungen befangen bleibt. Es ist richtig, daß Marx alle Geschichte als eine Geschichte von Klassenkämpfen bezeichnete und es ist auch richtig, daß nach Marx der ganze kapitalistische Gesellschaftsaufbau auf der Ausbeutung der Mehrarbeitszeit der produktiven Arbeiter beruht. Damit ist das Ergebnis der Marxschen Untersuchungen jedoch weder verstanden noch erschöpfend wiedergegeben. Die Essentials der Marxschen Theorie sind nämlich, kurz gefaßt, folgende:

1. Beruht alle kapitalistische Zivilisation auf der Abpressung von Mehrarbeitszeit, aber dies vollzieht sich im Rahmen eines Äquivalententausches: "Arbeit" gegen Geldlohn.

2. Der Mehrwert wird kapitalistisch akkumuliert, in Kapital zurückverwandelt und dies ohne Rücksicht auf die Schranken der zahlungsfähigen Bedürfnisse. Deshalb werden periodisch zu viele Produktions- und Lebensmittel produziert: Arbeitskräfte werden überschüssig und Kapital wird entwertet.

3. Der Akkumulationsprozeß stellt sich dar als permanente Steigerung der Produktivkraft der Arbeit und diese als Vertiefung der Arbeitsteilung, folglich als Ausdifferenzierung der Arbeitsarten und Produkte, folglich aus Ausdifferenzierung und Erweiterung der Bedürfnisse. Der Anteil der Lohnarbeiter an der größeren Warenmasse und dem größeren Umfang der gesellschaftlich disponiblen (da eingesparten) Zeit wird normalerweise fallen, obwohl die absolute Verfügung über Lebensmittel und Lebenszeit steigen kann. Die konkrete Entwicklung hängt wesentlich (wenn auch nicht nur) von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und Auseinandersetzungen ab.

4. Geht dies alles einher mit einer systematischen Verdunkelung der wirklichen Entstehungsweise des kapitalistisch produzierten Reichtums. Spätestens mit dem Zins erscheint Reichtum als Resultat von geldheckendem Geld. Auf der Oberfläche der Gesellschaft erscheinen die wirklichen Zusammenhänge verkehrt. Die Subjekte des Produktionsprozesses erscheinen als Objekte und das Kapital stellt sich als aktives, alle Verhältnisse stets revolutionierendes Subjekt dar. Das Bewußtsein der Beteiligten ist falsch, weil ihr Sein falsch ist. Diese Umkehrungen sind jedoch analysierbar, daher auch weitgehend durchschaubar, obgleich sie erst verschwinden, wenn ihre Ursachen beseitigt sind.

5. Der Kapitalismus ist die erste Produktionsweise, in der die Arbeitskräfte allein Sachzwängen gehorchen und nicht patriarchalischer Willkür unterworfen sind. Da sie Geld erhalten und über den Verkauf ihrer Arbeitskraft ebenso frei bestimmen können wie über die Verausgabung ihrer Revenue, findet historisch erstmals eine Individualisierung der Personen statt. Gründe wie auch Grenzen (bzw. widersprüchliche Verlaufsform) dieser Individualisierung sind einer theoretischen Analyse zugänglich. Beides ist vorzugsweise in der Produktionsweise selbst zu suchen. Die konkreten Formen und die historische Genesis dieser Individualitätsformen sind aber Sache selbständiger materialistischer Untersuchungen. Das sind also - sehr gedrängt - die wohl wichtigsten Entdeckungen von Marx.

Der Klassenantagonismus (das Kapitalverhältnis) und der "Diebstahl fremder Arbeitszeit" (Marx) sind zentrale Strukturmerkmale der kapitalistischen Realität, was jedoch an der Oberfläche der Gesellschaft nicht unbedingt sichtbar ist. Man sieht nun. daß die Reduktion der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie auf "Klassenkampf" und "Ausbeutung" eine unzulässige Vereinfachung darstellt. Historisch gab es einmal Verhältnisse, die solche Vereinfachungen als plausibler erscheinen ließen, als dies heute der Fall ist. Als es noch politische Massenkämpfe organisierter Arbeiter gab und das Elend der Lohnarbeit sich anschaulicher als physisches und psychisches Elend darstellte als heute, als sich zudem die gesellschaftlichen Verhältnisse weitaus weniger differenziert darstellten als gegenwärtig, da konnte man mit solchen Vereinfachungen sogar Politik machen. Falsch waren sie trotzdem und daher mußte eine solchermaßen fundierte Politik mit jedem kapitalistischen Modernisierungsschub, aber auch mit jedem wirklich erkämpften Erfolg in krisenhafte Situationen geraten. Marx selbst hat sich wiederholt gegen populistische Verkürzungen seiner Theorie aussprechen müssen; seine Kritik des Gothaer Programms der Sozialdemokratischen Partei ist nur der bekannteste Fall. Die lange Tradition einer reduktionistischen Marxinterpretation (die auch heute noch ihre Fortsetzer findet) blieb nicht ohne Folgen. Der gegenwärtige Zustand der auf Marx aufbauenden Theorie ist etwa so zu beschreiben:

1. Nach wie vor ist eine zutreffende Rekonstruktion des Marxschen Werkes in Kritik der genannten Verkürzungen zu leisten. Hierbei gibt es immerhin einige Erfolge.

2. Marx ist mit seinen Ausarbeitungen nicht fertig geworden; manches hat er nur angedeutet. Das System seiner Kategorien ist also zu vervollständigen (z.B. Kredit, Konkurrenz der Lohnarbeiter, Weltmarkt).

3. Manches von Marx ist auch fehlerhaft, z.B. seine Schriften "Lohnarbeit und Kapital" oder die mit Engels verfaßte "Deutsche Ideologie". Solche Fehler wurden schon kritisiert, aber diese Kritik ist noch nicht durchgesetzt.

4. An dem so häufigen wie banalen Argument, daß Marx schon lange tot und seine Theorie daher veraltet ist, ist so viel richtig, daß die Leistungen der theoretischen Marxisten bei der Analyse neuerer Erscheinungen entweder bescheiden oder sogar falsch sind. Letzteres gilt m.E. etwa für die Analyse des "sozialen Rechtsstaates" als "staatsmonopolistischer Kapitalismus". Bescheiden sind die Erfolge insbesondere auf dem Gebiet der Erforschung von Alltagsleben und Alltagsdenken. (Genaueres dazu im Text.) Macht es unter diesen Voraussetzungen überhaupt einen Sinn, die moderne Welt und den modernen Menschen mit Hilfe von Marx erklären zu wollen? Ich denke ja, und das soll in dieser Arbeit begründet werden.

Analyse des bürgerlichen Individuums in einer Kritik der politischen Ökonomie?

Marx' Hauptwerk ist das "Kapital". Wenn wir also wissen wollen, was Marx über das bürgerliche Individuum zu sagen hat, dann müssen wir uns in erster Linie an dieses Werk halten und nicht etwa an verschiedene frühere mehr "philosophische" Texte. Es geht ja gerade darum, ob in einem "ökonomischen" Werk überhaupt Individuen vorkommen und falls ja, wie? Genauer gesagt, geht es darum herauszufinden, wie bei Marx die "objektive Struktur" der Gesellschaft mit dem offensichtlich relativ autonomen Handeln selbstbewußter Individuen zusammenpaßt.

Was wir hier zunächst wissen wollen, ist, ob Marx davon ausging, diese prinzipiell als notwendig erkannte Aufgabe innerhalb eines der Kritik der politischen Ökonomie gewidmeten Werkes leisten zu können und falls ja, wieweit er sie verwirklichen konnte. Von einem zutreffenden Urteil über diesen Sachverhalt hängt ganz einfach ab, was man von Marx Werk mit gutem Grund erwarten kann und was nicht. Wer dort z.B. eine ausgearbeitete Psychologie bürgerlicher Individuen suchen würde, müßte enttäuscht feststellen, daß er seine Zeit vertan hat. Wir können die Sache kurz halten: Das erste Buch des "Kapital" handelt vom Produktionsprozeß des Kapitals, das zweite Buch vom Zirkulationsprozeß und das dritte Buch vom Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion.

Der Gegenstand des Marxschen Kapitals ist nicht der gleiche wie der der "Volkswirtschaftslehre". Während diese unter Kapital "alle bei der Erzeugung beteiligten Produktionsmittel wie Werkzeug, Maschinen und Anlagen" versteht und sich nicht so recht darüber im klaren ist, ob man auch das Geld dazu zählen soll (1), stellt Marx sich eine ganz andere Aufgabe: "Was ich in diesem Werk zu erforschen habe, ist die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhällnisse." (2) Marx' Ausgangspunkt ist die für die Menschen bestehende Notwendigkeit der Erhaltung ihres Lebens, die sie zwingt, die äußere Natur entsprechend den eigenen Bedürfnissen zu verändern, was sie nur können, wenn sie sich zueinander verhalten, d. h. gesellschaftliche Beziehungen eingehen. Diese jeweiligen historisch-sozialen Verhältnisse korrespondieren mit bestimmten Niveaus der Produktivkräfte der gemeinschaftlichen Arbeit und beides zusammengenommen stellt eine jeweils spezifische Strukturierung einer Gesellschaft dar, die Marx "Produktionsverhältnisse" nennt und die er für den gesamten Lebensprozeß der darin sich bewegenden Individuen als bestimmend ansieht. Die kapitalistische Produktionsweise gilt ihm dabei nur als eine - wie jede andere auch - geschichtlich gewordene und besondere Form der Auseinandersetzung mit der äußeren Natur. Sie ist vor allem durch zwei Merkmale von den vorangegangenen Formen zu unterscheiden:

Erstens dadurch, daß die Produktion von Waren (als zusammen mit der Geldzirkulation entscheidende Voraussetzung der Kapitalbildung) die vorherrschende Produktion ist, wozu auch gehört, daß die menschliche Kraftpotenz (deren Tauschwert zu bezahlen ist, wenn ihr Gebrauchswert genutzt werden soll) selbst zur Ware wird. Zum zweiten ist die "differentia specifica" der kapitalistischen Produktion zu nennen: Der Zweck des Kaufs der Arbeitskraft besteht nicht nur nicht in der Produktion von Gebrauchswerten - das gilt für jede Warenproduktion - , sondern überhaupt nicht in der Befriedigung der privaten Bedürfnisse des Käufers: "Sein Zweck ist Verwertung seines Kapitals. Produktion von Waren, die mehr Arbeit enthalten, als er zahlt, also einen Wertteil enthalten, der Ihn nichts kostet und dennoch durch den Warenverkauf realisiert wird. Produktion von Mehrwert oder Plusmacherei ist das absolute Gesetz dieser Produktionsweise." (3) Hierbei entscheidend ist die Form der Lohn-Arbeit, die auch die Mehrarbeit als bezahlt erscheinen läßt, in der also das Äquivalenzprinzip der Warenproduktion garantiert ist und die es möglich macht, daß Ausbeutung erstmals an von persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen freien Arbeitern vollzogen werden kann: der Zwang liegt nun allgemein in den Verhältnissen und konkret in der Kontrolle des Kapitalisten über den Produktionsprozeß. Das jedesmalige Ergebnis des Produktionsprozesses besteht nicht nur in der Schaffung der materiellen Lebensbedingungen, sondern auch in der Reproduktion der darin eingcschlossenen Verhältnisse der Menschen zueinander. Jede Produktion ist zugleich Reproduktion, d.h. die materiellen Produkte, wie auch die gesellschaftlichen Beziehungen sind immer zugleich Voraussetzungen und wiederkehrende Resultate des kapitalistischen Produktionsprozesses. Diese Beständigkeit muß dort als naturnotwendig erscheinen, wo die Reproduktion kein selbstbewußter Akt der Gesellschaft ist. Hierdurch werden Produktion und gesellschaftliche Beziehungen mystifiziert, - letztere stellen sich als unmittelbare Eigenschaften von Dingen ("Geld macht glücklich" etc.) und als Verhältnis der Personen zu den sozialen Eigenschaften dieser Dinge dar. Auf diese Weise wird das Wesen des Kapitalismus in den erscheinenden Formen verleugnet. Die Träger dieser Produktionsweise leben in diesem Sinne in einer "verzauberten und verkehrten Welt" (4). Die kapitalistische Weit ist jedoch nicht die erste sich als verzaubert darstellende; sie weist jedoch spezifische Verkehrungen auf, die sich von denen vorangegangener oder anderer (z.B. asiatischer) Welten qualitativ unterscheiden. Darauf werden wir unten genauer eingehen. Die erwähnte Vorstellung der VWL, wonach Kapital Maschinerie oder Geld wäre, bestätigt im übrigen nur die Marxsche Analyse der Verdinglichung: "Kapital ist kein Ding, sowenig wie Geld ein Ding ist. Im Kapital, wie im Geld, stellen sich bestimmte gesellschaftliche Produktionsverhältnisse der Personen als Verhältnis von Dingen zu Personen dar, oder erscheinen bestimmte gesellschaftliche Beziehungen als gesellschaftliche Natureigenschaften von Dingen." (5) Marx handelt also nicht von Dingen, sondern von Verhältnissen zwischen Personen. Diese kurze Zusammenfassung umreißt in etwa den Gegenstand der Marxschen Theorie. Es geht Marx also um die Produktions- und um die (zwischenmenschlichen, innergesellschaftlichen) Verkehrsverhältnisse der kapitalistischen Produktionsweise, wobei er u.a. zu dem Resultat gelangte, daß auf der sichtbaren Oberfläche vieles anders erscheint, als es "in Wirklichkeit" zusammenhängt, "ganz wie die scheinbare Bewegung der Himmelskörper nur dem verständlich (ist), der ihre wirkliche, aber sinnlich nicht wahrnehmbare Bewegung kennt." (6) Um diese Verdinglichung dechiffrieren zu können, mußte Marx seine gefundenen Bestimmungen zu einem spezifischen Kategorien-System verbinden, innerhalb dessen ein "Auf- oder Abstieg" zwischen den abstraktesten und den konkretesien Kategorien möglich bleibt. Es soll hier nicht viel über die häufig zitierte Marxsche Methode des "Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten" gesagt werden. Sie besagt nur, daß das "Konkrete", mit dem wir täglich umgehen, bereits die Zusammenfassung vieler Bestimmungen enthält.

Die Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Wesen

"Alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen." (7) Diese bekannte Marxsche Formulierung steht nicht zufällig im Zusammenhang mit der Analyse der sogenannten "trinitarischen Formel" am Ende des dritten Bandes des "Kapital". Sie richtet sich dort speziell gegen Marx' Lieblingsfeinde - die "Vulgärökonomen"- die nach seiner Auffassung einen Teil der 'lebensweltlichen Erfahrungen" der bürgerlichen Individuen doktrinär verdolmetschen, systematisieren und apologetisieren. Sie tun das - so Marx -, weil sie sich selbst in den "entfremdeten Erscheinungsformen der ökonomischen Verhältnisse ... vollkommen bei sich" fühlen.

Die Fragen nach dem "Wesen" der Dinge (odernach ihrer 'Inneren Logik", ihrem "inneren Zusammenhang", nach den "Gesetzmäßigkeiten" etc.) und nach der Beziehung zwischen ihm und den Erscheinungen bilden von jeher Kernpunkte wissenschaftstheoretischer Auseinandersetzungen. Für den Positivisten Popper - der sich ausdrücklich gegen Marx wendet - ist die Differenz zwischen Wesen und Erscheinung schon deshalb unerheblich, weil sich der Wesensbegriff der sinnlichen Erfahrung angeblich verschließt und für diese daher kein Gegenstand sein kann. Eine Wissenschaft, die sich mit dem Faktischen und Regelmäßigen zu befassen habe, könne daher mit der Methode der Falsifizierung ihre Ziele gut erreichen und brauche auf solche "metaphysischen" Kategorien wie "Wesen" nicht zurückzugreifen. Demgegenüber existieren für Marx und Engels nicht nur in der Natur wesentliche und mit den Erscheinungen nicht identische Zusammenhänge, sondern auch in der Gesellschaft. Während es sich jedoch hierbei in der Natur um "bewußtlose blinde" Agenzien handele, seien die in der Geschichte Handelnden lauter mit Bewußtsein und Leidenschaften begabte und handelnde, sich Zwecke setzende Menschen. Diese Menschen wirkien jedoch unter bestimmten Bedingungen so aufeinander ein, daß dabei etwas Ungewolltes herauskomme. Unter diesem Resultat steckten daher "innere verborgene Gesetze", die es zu erforschen gälte (8). Wie sollen diese Gesetze aber herausgefunden werden? Die Marxsche Methode besteht darin, das "Konkrete" schrittweise und ideel (also nicht zu verwechseln mit dem wirklichen Entstehungsprozeß) zu rekonstruieren, wobei stets von den einfachsten, abstraktesten (Abstraktion heißt Trennung) Bestimmungen auszugehen sei, bis man dann wieder beim "Konkreten" ankommt, was natürlich nur gelingt, wenn die Rekonstruktionsschritte zutreffend waren. Mit Marx' Worten: "Die Bevölkerung ist eine Abstraktion, wenn ich z.B. die Klassen, aus denen sie besteht, weglasse (... ) Finge ich also bei der Bevölkerung an, so wäre das eine chaotische Vorstellung des Ganzen. Es gilt deshalb "von dem Einfachen, wie Arbeit, (...) Tauschwert (...) bis zum Staat, Austausch der Nationen und Weltmarkt" aufzusteigen (9). Marx hat dann mit der Ware als der "Elementarfonn" des bürgerlichen Reichtums angefangen und nach deren Substanz gesucht. Allerdings nur in der Darstellung und nachdem er den Gcsamtzusammenhang schon im Kopf hatte.

Marx beginnt mit der Kritik der Grundlagen der Abstraktionen der bürgerlichen Ökonomie, d. h. mit ihrer immanenten Kritik, um so zur Unterscheidung von Wesen und Erscheinung, von Logik und Empirie, von Kapital im allgemeinen und Konkurrenz vorzudringen. In der kritischen Aufarbeitung von Adam Smith unterscheidet Marx einen esoterischen und exoterischen Teil seines Werks, d. h. den Teil, der wissenschaftliche Analyse darstellt und den, der nur die Erscheinungen der Oberfläche des Kapitals systematisiert (welcher Teil sich später als Vulgärökonomie von der klassischen trennt) (10). Marx' Vorwurf gegen Smith besteht also darin, daß dieser zwischen empirischer und logischer Ebene nicht unterschieden habe. Diesen Gedanken verfolgt Marx auch in der Kritik an Ricardo. Ricardo nämlich ist der erste, der mit dem Durcheinander zwischen esoterischer (Logik) und exoterischer Betrachtungsweise (Empirie) Schluß macht.

Marx selbst entwickelt aus der Kritik an Ricardos Methode, die Erscheinungsformen unvermittelt mit ihrem Wesen zu konfrontieren, sie auf ihr Wesen zu reduzieren, die Forderung, die Erscheinungsformen aus dem Wesen als notwendige und notwendig "verkehrt" auftretende zu entwickeln. Die Empirie ist dem Wesen weder äußerlich noch auf dieses reduzierbar, sie muß sich über Zwischcnschritte herleiten lassen. Die Durchsetzung der immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise ist kein selbstbewußter Akt, sie vollzieht sich "hinter dem Rücken" der Beteiligten und ist deshalb mit ihren Motiven nicht unbedingt identisch. Die Analyse des Durchgesetzten und dessen, was sich durchsetzt, ist deshalb ebenfalls zu trennen. Logische Kategorien wie etwa "relativer Mehrwert" gehen nicht in die Zweckset-zung der Menschen ein. Bei der Analyse der grundlegenden Gesetze ist deshalb von der Handlungsebene, der Ebene der Konkurrenz, zu abstrahieren. Diese Ebene mit ihrer eigenen Formenvielfalt ist getrennt (aber als Form von etwas) zu untersuchen. Bei dieser Handlungsebene kann es sich allerdings nur um eine idealisierte Ebene handeln, um - wie Marx sagt -"idealen Durchschnitt" (11).

Anmerkungen

(1) vgl das VWi-Lehrbuch: Woll,A. 1981: Allgemeine Volkswirtschaftslehre, München.
(2)-(7) Marx 1974b l, S.12; W4b l, 5.647;
1974h III, S.835; 1969b, s.32, ähnlich 1974b III. S.822; 1974b l, S. 335; 1974b III, 5.825.
(8) vgl. Engels, F. 1975: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen Philosophie, in: MEW 21,S.296f.
(9) - (11) vgl. Marx 1974a, S.21f; W4c II, S. 100; 1974b 111,5.839.
 

Editorische Anmerkungen

Der vorliegende Text erschien in der Hannoveranischen Zeitschrift SPEZIAL - links & radikal, Nr. 88, 1993, S. 32ff, OCR-Scan by red. trend

Der für die SPEZIAL gekürzte Text von Günter Jacob wurde unter dem Titel "Kapitalismus und Lebenswelt" in der Nr.3 der linken Zeitschrift "17 Grad Celsius" abgedruckt. Vorher ist bereits eine (andere) Kurzfassung unter dem Titel "Persönliches Pech" in "Spex" 3/89 erschienen, die vom "ak", der "Volkszeitung" und in dem Buch "Die Radikale Linke" (Konkret-Veriag) nachgedruckt wurde.