Kapitalismus und Lebenswelt
Zur Theorie des bürgerlichen Individuums bei Marx Teil 5

von Günter Jacob
06/05

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Zur Sozialgeschichte des bürgerlichen Individuums Zur Theorie des bürgerlichen Individuums

Das Schlimmste, was man der Geschichte antun kann, ist, sie als Bebilderung einer vorher fertigen Theorie zu mißbrauchen. Ein "Geschichtsbild" zu haben, das ist nicht nur eine im Alltag übliche Form der Ver-dinglichung, sondern auch verbreitetes Verfahren in der Wissenschaft. Wenn hier dennoch eine geschichtliche Illustration folgt, so nur, weil in der Marx'sehen Theorie Geschichte bereits verarbeitet ist. Alles, was auf den folgenden Seiten zur neueren Geschichte gesagt wird, hat daher den Charakter von Arbeitshypothesen. Diese Thesen stützen sich auf neuere Forschungsergebnisse und sind zugleich ein Versuch, aus dem bisherigen im Text Entwickelten Schlußfolgerungen hinsichtlich der noch zu klärenden Fragen zu ziehen.

Die historischen Kategorien sind immer theoretische Ausdrücke historischer Produktions- und Verkehrsverhältnisse. Die Darstellung im Marx'schen Kapital unterstellt eine Gesellschaft entwickelter kapitalistischer Produktion. Ob es zu dieser kapitalistischen Totalität in einem Land wirklich kommt, entscheidet sich in realen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, die es deshalb konkret zu analysieren gilt.

Marx sagt dazu ausdrücklich, daß das Kapital als sich verwertender Wert "nicht nur Klassenverhältnisse" umschließt(60). Ihm ist klar, daß die konkrete Totalität auch historisch-konkret ist. In der theoretischen Entwicklung der Kategorien schlägt sich dieser Umstand darin nieder, daß die (genetische) Ableitung auf ihre Grenzen stößt: "Es ist zu bedenken, daß die neuen Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse sich nicht aus dem Nichts entwickeln..., sondern innerhalb und gegensätzlich gegen vorhandene...Wenn im vollendeten bürgerlichen System jedes ökonomische Verhältnis das andere voraussetzt, und so jedes Gesetz zugleich Voraussetzung ist, so ist das mit jedem organischen System der Fall. Dies...System (!) selbst als Totalität hat seine Voraussetzungen und seine Entwicklung zur Totalität besteht eben darin, alle Momente der Gesellschaft sich unterzuordnen, oder die ihm noch fehlenden Organe aus ihr heraus zu schaffen. Es wird so historisch zur Totalität ."(61)

So ist etwa der freie Arbeiter historische Voraussetzung zur Entwicklung des Kapitals. Wenn das Kapital etabliert ist, produziert es diesen Lohnarbeiter selbst aufs Neue, macht ihn zum Moment der kapitalistischen Logik. Das Gleiche läßt sich von den technologischen Voraussetzungen der relativen Mehrwertproduktion sagen, die größtenteils als Handwerksprodukte entstanden. Im Gegensatz zu den bürgerlichen Ökonomen, die nach Marx' Meinung "alle historischen Unterschiede ver-wischen"(62), bemüht sich Marx, seine Kategorien so zu entwickeln, daß mit ihnen nicht nur die aktuellen Verhältnisse begriffen werden können, sondern daß sie auch ein Schlüssel für Einsichten in die Vergangenheit sind(63).

Die Ausdehnung des Nichtarbeitsbereichs seit der Jahrhundertwende

Als eigentlicher Lebensmittelpunkt erscheint dem Lohnarbeiter nicht die Arbeit, sondern die Familie, die ihm seit seiner Kindheit als der Bereich gilt, der ganz seiner Besonderheit als Individuum gewidmet ist.

Für diesen Lebensmittelpunkt hatten die Lohnabhängigen (in Deutschland) in der Vergangenheit nicht sehr viel Zeit übrig. Angesichts wöchentlicher Arbeitszeiten von etwa 80 Stunden (1030 - 1860) oder auch "nur" von 60 bis 65 Stunden (1890 - 1900) ging es in der Regel mehr ums blanke Überleben, so daß für gemütliche und unbeschwerte Stunden im trauten Heim wenig übrigblieb.

Entsprechend undifferenziert war auch die Gefühlswelt. Die typische Figur dieser Zeit war der autoritäre proletarische Ehemann und Vater. Das Bildungsniveau und auch der Umkreis der Lebensmittel waren gleichermaßen dürftig. Geheiratet wurde nahezu ausschließlich innerhalb der eigenen Schicht. "Versorger" war trotz Frauen-Lohnarbeit in erster Linie doch der Mann, während die Frauen mit schwerer körperlicher Hausarbeit, z.T. auch mit Heimarbeit zu tun hatten.

Die Festlegung auf die Fabrikarbeit des Mannes trennte endgültig den Wohnbereich vom Arbeitsbereich, Schichtarbeit zerriß nun auch den tageszeitlichen Zusammenhang der Familie. Hinzu kamen solche neuen Errungenschaften wie Anfahrtzeiten zum Arbeitsplatz (häufig in der Form von Fußmärschen), "Mobilität" hinsichtlich des Wohnortes etc. Die Welt der Bürgerfamilien sah zu diesem Zeitpunkt bereits ganz anders aus und sie blieb noch das Ideal der Arbeiterfamilien, als die Bürger selbst schon wieder andere Ideale hatten. In den Bürgerfamilien - vom verarmten Handwerkerhaushalt bis zum Fabrikanten - wurde das Ideal der intakten Familie gepflegt, wo Kinder und Frau getrennt von der harten Außeriweit Geborgenheit schufen und auf den heimkehrenden Vater und Ehemann warteten. Mit der Entwicklung der politischen Arbeiterbewegung, durch die Steigerung der Arbeitsproduktivität ("relativer Mehrwert") und durch (nicht nur von unten erzwungene) Staatseingriffe kam es zu kürzeren Arbeitszeiten und gingen mehr Gebrauchswerte in die Lohnarbeiterhaushalte ein.

Auf jeden Fall verminderte sich die wöchentliche Arbeitszeit seit 1900 um offiziell 20 Stunden, die Jahresarbeitszeit verminderte sich zudem durch längere Urlaubszeiten. Spätestens seit 1910 existieren deutliche zeitliche und räumliche Trennungen von Arbeit und Freizeit. Trotz gleichzeiliger Inlensivierung der Arbeit und auch Verlängerung der Lebensarbeitszeit nehmen die Lohnabhängigen zunehmend an der kapitalistischen Zivilisation teil. Die größere Freizeit ist dabei nur die allgemeine Voraussetzung, aus der alleine dieser Prozeß nicht zu erklären ist. Sozialversicherungswesen, Vergesellschaftung der Schulbildung usw. werden teils erkämpft, teils von oben eingeführt und teils von der komplizierten Technologie erzwungen. Parallel hierzu erfolgt die Verwandlung der Lohnarbeiter in Staatsbürger. Von diesen Zusammenhängen handeln die folgenden Abschnitte.

Die Umwandlung des 'Vierten Standes "in Staatsbürger

Wie kann das konkrete Individuum den abstrakten Standpunkt des Staatsbürgers erlangen? Wie kommt es, daß am Einzelnen erscheint, was das allgemeine Gesetz ist? Theoretisch wurden diese Fragen schon oben beantwortet. Hier geht es darum, stichwortartig nachzuzeichnen, wie die aus den plebejischen Stadtschichten und besitzlosen Bauern hervorgegangenen und zunächst als "Vierter Stand" (nach Adel, hohem Klerus und Bourgeoisie) außerhalb der Gesellschaftstehenden Lohnarbeiter nach und nach zu vollständigen Staatsbürgern wurden. Die ökonomische Seite dieser Entwicklung - etwa frühe Lohngesetze, Koalitionsverbote, Entlohnung in Naturalform (Trucksystem) etc. - kann hier nicht weiter erörtert werden. Auf einige Aspekte wird jedoch im nachfolgenden Abschnitt eingegangen.

Individuelle Rechte gab es in Europa vor 1628 weder für die unteren noch für die oberen Stände. In der altenglischen Magna Charta (1215) wurden erstmals den Baronen vom englischen König Standesrechte gewährt, z.B. durften die Barone ein eigenes Gerichtswesen zur Regelung von Standesstreitigkeiten errichten. Der Grundgedanke auch entsprechender Verträge anderswo (z.B. Tübinger Vertrag von 1514) war immer die wechselseitige Bindung und Beschränkung von Herrschaft. Eine wirkliche Einschränkung des Monarchen erreichte jedoch nur das englische Adelsparlament. In jedem Fall aber wurden nicht Einzelnen, sondern Ständen und Institutionen Rechte gewährt bzw. verweigert. Die ersten Individualrechte brachte 1628 die englische "Petition of Righls". Sie gab allen Engländern gewisse Einzelrechte, z.B. den Schutz vor willkürlicher Verhaftung und die Garantie des - soweit vorhanden - Eigentums. Auf dieser Ausgangsbasis und ebenso praktisch durch die ökonomische Entwicklung wie theoretisch durch Staatstheoretiker wie Locke, Montesquieu und Rousseau vonbereitet, entstand der Gedanke "natürlicher" Grund- und Menschenrechte "des Individuums". Diese Abstraktion schlug sich erstmals in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) und dann in der Menschen-und Bürgerrechtserklärung der französischen Revolution (1789) nieder. Die französische Verfassung von 1791 stattete das (Weiße! Nicht die schwarzen Sklaven) Individuum gleich mit 35 natürlichen Rechten aus, inklusive des Rechtes auf Widerstand gegen den abstrakten Volkswillen, aber ausdrücklich ohne Koalitionsrecht für Arbeiter. Gleichheit und Freiheit als ideale Ausdrücke der Warenproduktion waren damit etabliert, aber es gab bereits "soziale Grundrechte" und somit die Anfänge einer sozialstaatlichen Kalkulation mit den ungleichen Voraussetzungen in einer Klassengesellschaft. Einige ihrer Momente gingen 1818 und 1819 in die Verfassung verschiedener süddeutscher Staaten ein (Bayern, Württemberg) und wurden dann • 1830 z.T. auch in Norddeutschland übernommen. In Deutschland war 1806 das Heilige Römische Reich Deutscher Nation zerfallen und damit auch dessen Ständeversammlung (bestehend aus Gesandten der drei Reichsstände: Kurfürsten, Reichsfürsten und Städte). Der Wiener Kongreß von 1814/15, der aus 38 Fürsten und vier Reichsstädten den Staatenverbund "Deutscher Bund" schuf, brachte auch eine Bundesversammlung dieser "Inleressens-gruppen" zustande. Erste Einschränkungen des Monarchen in Form ständischer Volksvertretungen wurden nach 1830 teilweise wieder rückgängig gemacht. Ein allgemeines (Männer-) Wählrecht brachte erstmals die Frankfurter Nationalversammlung im Mai 1848. Gewählt wurden keine Parteien, sondern "angesehene Bürger" (häufig Professoren). Im Paulskirchenparlament saßen auch einige reichere Bauern und Handwerker, aber keine Arbeiter. Nachdem diese Versammlung ein Jahr später auseinandergejagt und die Fürstenmacht wieder etabliert war, gewährten die Monarchen von oben größtenteils Verfassungsrechte. In Preußen durfte nun auf der Grundlage des Dreiklassenwahlrechts konstruktiv am Staatsgeschehen mitgewirkt werden. Im Norddeutschen Bund wurde allerdings bald das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht eingeführt. Ab 1861 kam es in vielen Einzelstaaten zu Parteigründungen. In diese Zeit fällt auch die Gründung politischer Arbeitervereine (1863 der ADAV mit Lasalle und 1869 die SDAP mit Bebel/Liebknecht), die sich dann 1875 in Gotha zur SAPD vereinigten (ab 1891: SPD). Aus dem Norddeutschen Bund und den süddeutschen Staaten wurde 1871 auf den Trümmern der Pariser Kommune von Fürsten und Militärs das Deutsche Kaiserreich errichtet. Es reicht hier der Hinweis aus, daß der Reichstag in dieser konstitutionellen Monarchie bis 1918 nicht viel zu sagen hatte, daß er aber immerhin das Budget zu bewilligen und die Gesetze auszuarbeiten hatte. Es gab eine Verfassung (ohne natürliche Rechte) und das vom Norddeutschen Bund übernommene allgemeine Männerwahlrecht (ab dem 25. Lebensjahr) auf der Grundlage des Mehrheitswahlsystems. Die Arbeiter, damals noch als "Vierter Stand" angesehen, hatten nun also ein Wahlrecht und zudem 'Ihre" Partei. Von den Wahlen wurde seitens der Sozialdemokratie viel und teilweise alles erwartet. Man glaubte ernsthaft an die 51%-Lösung und dabei entstand der sprichwörtliche Opportunismus der Parteien der II. Internationale.

Die SPD konnte trotz vielerlei Behinderungen ihren Stimmenanteil von 3,1% (1871) über 10,1% (1887) auf 34,8% (1912) steigern. 1893 war sie mit 23% die stärkste Partei. Die Sozialistengesetze (1878-1890) konnten das Wachstum der SPD nicht behindern, aber in diesen Zeitraum fällt auch der Beginn eines immer offeneren Verzichts auf radikale Bedürfnisse. Je stärker die Partei wurde, desto bürgerlicher wurde ihre Politik.

Was den Inhalt der damaligen "Arbeiterpolitik" betrifft, so sei nur auf einige prägnante Punkte hingewiesen:

- noch zu Lebzeiten von Engels (1885) wollte die SPD-Reichstagsfraktion der Regierungsvorlage für eine "Dampfersubvention" zustimmen.

- nur wenige Jahre später - auf dem Stuttgarter Kongreß der II. Internationale -unterstützte der Vertreter der SPD den "Nutzen und die Notwendigkeit von Kolonialpolitik" für die Arbeiter. Bernstein propagierte diese Position 1900 in der Parteipresse.

Das waren keine Entgleisungen. Bereits im Gothaer Parteiprogramm von 1875 sind viele Mystifikationen der bürgerlichen Gesellschaft versammelt: "Freier Staat", "Volkserziehung durch den Staat", "kostenlose Justiz", "Gewissensfreiheit" usw. Marx bezeichnete das Programm als Ergebnis von "Untertanenverstand' und urteilte: "Die deutsche Arbeiter Partei—zeigt, wie ihr die sozialistischen Ideen nicht einmal hauttief sitzen..." Engels schwankte nach dem Tod von Marx zwischen unreflektier-ter Begeisterung angesichts der wachsenden Stimmenzahl für die SPD und einer ebenfalls nicht gerade tiefgründigen Kritik an den schlimmsten Erscheinungsformen des Opportunismus(64). Die Sozialdemokratie beteiligte sich nicht nur an den Reichstagswahlen, sondern auch an den Wahlen für Einzellandtage, Gemeinderäte, Gewerbegerichte usw. Über diese Beteiligungen erfolgte ein wichtiger Teil der Umwandlung von Klassenkämpfern in Staatsbürger, wobei immer beachtet werden muß, daß es sich hier nicht einmal um einen wirklich bürgerlichen Staat handelte. Man machte seinen Frieden bereits mit der Monarchie. Die verbleibende Sozialrevolutionäre Rhetorik verdeckte bald nur noch mühsam die Wandlung zur konstruktiven Reformpartei. Nach der Zustimmung zu den Kriegskrediten (1914) durch die SPD gaben dann auch der Kaiser, die Militärs, der Adel und schließlich auch die Kapitalisten nach und nach ihre Vorbehalte gegenüber den politischen Arbeitern auf. Als politische Kraft standen die Arbeiter bis 1914 immer noch einigermaßen außerhalb der offiziellen Gesellschaft. Erst Krieg und Kriegswirtschaft sollten das ändern. Die Gewerkschaften übernahmen Aufgaben in der Kriegswirtschaft. Sie beteiligten sich an der Arbeitsvermittlung und der Wohlfahrtspflege usw. Immer häufiger saßen Arbeiter in den Ernährungskommissionen, Wucherbekämpfungsbehörden und anderen Einrichtungen der Kriegswirtschaft. Im April 1917 forderte der Kaiser selbst die Aufhebung des Dreiklassenwahlrechtes in Preußen: "Nach den gewaltigen Leistungen des ganzen Volkes in diesem furchtbaren Kriege ist...für das Klassenwahlrecht in Preußen kein Raum mehr." Die "Sachzwänge" des Krieges schufen den politischen Raum, in dem es dem Staat möglich war, die zur Verantwortung strebenden Lohnarbeiter gegen Widerstände der Kapitalisten und der vorkapitalistischen Klassen zu vollwertigen Staatsbürgern zu machen. Durch diesen Vorgang kam der damalige Staat seinem Begriff als bürgerlicher Staat selbst ein gutes Stück näher. Die staatliche Gewalt wurde mehr denn je dem unmittelbaren Zugriff privilegierter Gruppen entzogen und dadurch zur wirklich öffentlichen Gewalt. Am Ende waren die revolutionären Arbeiter isoliert und verloren die Novemberrevolution.

Tatsächlich waren fast alle Parteien bis zum Ende der Weimarer Republik noch ziemlich "ständisch" strukturiert, d.h. Bauern, Unternehmer, Arbeiter, Grundbesitzer etc. hatten gewissermaßen jeweils "ihre" Partei und darin lag auch ein Moment von Klassenkampf. Allerdings löste sich der anfangs relativ enge Zusammenhang zwischen der Stellung in der Distributionssphäre (gerade deshalb ist es problematisch, von Klassenkampf zu sprechen) und Parteibindung zusehends in allen Lagern auf, was sicherlich mit der damals real werdenden Tendenz zur Individualisierung der Person (mit der Vervielfältigung der Momente, die das Individuum ausmachen) zusammenhängt. Vom Anspruch her waren die "Arbeiterparteien" noch am längsten Klassenparteien. Die KPD hat diesen Anspruch nie aufgegeben (stattdessen "Bündnisstrategien" entwickelt), die SPD gab ihn offiziell erst mit dem Godesberger Programm auf.

Die modernen Volksparteien sind sozusagen die "adäquate" Form der Interessenvertretung "schillernder Individuen": Das "Moment des Klassenkampfes", der Zuordnung von "Stellung im Berufsleben" und Partei existiert wahrscheinlich nur noch in Form von Traditionen, Gewohnheiten, Einbildung, - letztlich als Teil eines Habitus. Was der CDU ihre "Sozialausschüsse", ist der SPD ihr "Arbeitskreis mittelständischer Unternehmer". In den Parteiprogrammen dieser Volksparteien werden bereits die gegensätzlichsten Interessen miteinander versöhnt: Radfahrer und Autofahrer ebenso wie Lohnarbeiter und Untemehmer(65). Der historischen Wahlforschung zeigt sich immer deutlicher, daß die erste moderne Volkspartei in Deutschland NSDAP hieß.

Nach dem Sieg des Faschismus hatte die NSDAP auf jeden Fall alle Individuen zu Volksgenossen gemacht und diejenigen, die das nichl werden wollten, beseitigt. Durch diese Zangenbewegung aus bürgerlicher Verdinglichung und braunem Terror wurde der Staatsbürger nach 1945 erst endgültig Wirklichkeit. Der Staatsbürger ist nach Marx das Individuum in seiner Getrenntheit von seiner ökonomischen Stellung in der Gesellschaft. Wenn er aber erst einmal vollständig geschaffen ist und alle Rückwirkungen dieses Teils des "Überbaus" auf diese Stellung wirksam geworden sind, wenn alle Sonderinteressen nur noch am Gesetz und nicht mehr am Konkurrenten relativiert werden und wenn schließlich alle sozialen Beziehungen - von der Freundschaft über das "Arbeitsleben" bis zum Umgang des Slaates mit seinen Bürgern (Rechtsstaat, Sozialstaat, Verfassungsstaat) - verrechtlicht sind, dann erscheint den bürgerlichen Individuen ihre soziale Stellung in der Gesellschaft und sogar die Gesellschaft überhaupt als vom Staatshandeln konstituierte. Eine Gesellschaft ohne Staat halten sie dann für eine bloße Verrücktheit(66).

Die Auflösung der "Arbeiterkultur"in die bürgerliche Massenkultur

Die Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft haben ihre Lebenspläne und wenn sie diese entwerfen, gehen sie von sich als Privatpersonen aus: Ausbildung, Freundin, Beruf, Heirat, Kind, heißen immer noch die Hauptstationen der Lebensstrategien, wenngleich hier und da einzelne Modernisierungen zu neuen Namensgebungen und Formen geführt haben. Der Beruf dient vor allem der Mittelbeschaffung, d.h. große Hoffnungen, sich gerade in Fabrik und Büro "entfalten" zu können, sind eher die Ausnahme. Selbst die im Beruf Erfolgreichen befinden sich nach eigener Auskunft stets im Zwiespalt zwischen "Karriere und persönlichem Glück". Wo die Leute ihre wirklichen Probleme sehen, das kann man leicht der Massenpresse entnehmen: 'Test: Können Sie sich durchsetzen?", "Fleckenlos blank und das ohne Nachpolieren", "Gewöhnen Sie ihre Kinder an den Umgang mit Geld", "Bis zu 80 % Einsparung durch Spar-Wasserhahn", "Kinder von den Eltern überfordert?", "Gesundheit ist unser höchstes Gut" usw. Diese und ähnliche Fragen stehen eindeutig im Mittelpunkt eines "normalen" Bundesbürgers, und zwar - mit Variationen - in allen gesellschaftlichen Schichten.

Auch berufliche und politische Fragen werden vom Standpunkt des Nichtarbeitsbereiches aus wahrgenommen. Es wird aber beispielsweise auch gefragt: '^Sind Japans Arbeiter fleißiger?" oder festgestellt: "Umweltschutz fängt zu Hause an!" Selbst die politischen "Skandale", anhand derer öffentlich erörtert wird, ob sich auch alle den gleichen Spielregeln unterwerfen, sind aus privater Sicht Probleme des guten oder schlechten Charakters anderer Leute. An ihnen und an den sonst von den Medien gelieferten Porträts erfolgreicher oder gescheiterter Mitbürger läßt sich ablesen, was einen gelungenen Lebensentwurf ausmacht: Das richtige Elternhaus, eine Ausbildung, Wehrdienst oder Zivildienst, Glaube an einen Herrgott oder wenigstens Philosophiekenntnisse, die richtige Partei oder bewußt parteilos, Verbindungen, einen passenden Partner bzw. Partnerin, Beharrlichkeit, Temperament, Humor, Überzeugungsstärke, aber auch Unauffälligkeit wo's angebracht ist, Optimismus und List, etwas Eitelkeit und bewußt eingesetzte Bescheidenheit, vergleichendes Konkurrieren ohne deshalb gleich zu verbiestern und vor allem kritische Konstruktivität. Die Frage ist nun, ob die privaten Lebensentwürfe vor 50 oder 70 Jahren sehr viel anders aussahen oder ob es unter den Bedingungen einer einflußreichen "Arbeiterbewegung" vollkommen andere Lebenspläne gab. Mit anderen Worten: es fragt sich, ob die Existenz einer sich als Klassenbewegung verstehenden politischen Massenbewegung die vollständige Privatheit der Individuen so relativiert, daß diese die "Ziele ihrer Klasse" in ihre privaten Pläne integrieren, so daß es statt zur Integration der Familienorientiertheit in die Massenkultur zu einer Einbindung in eine Klassenkultur kommt? Zunächst stößt man mit dieser Frage auf den Gegensatz von "Klasseninteresse" und "persönlichem Interesse". Nach dem, was in diesem Referat bisher ausgeführt wurde, kann es ein "Klasseninteresse" bestenfalls als real wirkende (politische) Ideologie geben. Das gemeinsame Interesse etwa der Arbeiter an dem Verkauf ihrer Arbeitskraft (an bestimmten Bedingungen der Vemut-zung) ist nur ein Moment ihres Interesses als Lohnarbeiter. Soweit sie als Verkäufer auftreten, stehen sie in Konkurrenz zueinander und soweit sie diese Konkurrenz im Lohnkampf außer Kraft setzen, tun sie es nur, um dann auf (möglicherweise) höherem Lohnniveau wieder zu konkurrieren. Selbst zu Zeiten der 60-Stundenwoche gab es diese Dualität von momentanem allgemeinen Klasseninteresse und dem partikularen Interesse des einzelnen Arbeiters. Marx, der von "Klasseninteresse" nur an einer Stelle spricht - in der "Deutschen Ideologie" - kennzeichnet diese Bewußtseinsform von Arbeiterbewegungen als Entfremdung: "Wie kommt es, daß die persönlichen Interessen sich den Personen zum Trotz zu Klasseninteressen fortentwickeln, welche sich den einzelnen Personen gegenüber verselbständigen,...die Gestalt allgemeiner Interessen annehmen, als solche mit den wirklichen Individuen in Gegensatz treten und in diesem Gegensatz...von dem Bewußtsein als ideale, selbst religiöse, heilige Interessen vorgestellt werden können? Wie kommt es, daß...das persönliche Verhalten des Individuums sich versach-lichen,entfremden muß und zugleich als von ihm unabhängige, durch den Verkehr hervorgebrachte Macht, ohne ihn besteht...?''^)

Weil Marx ein "Klasseninteresse" eindeutig als Ideologie analysiert, spricht er sich auch dagegen aus gegenüber dem Einzelnen auf die "Interessen der Arbeiterklasse" zu pochen. Kommunisten sollen "weder den Egoismus gegen die Aufopferung noch die Aufopferung gegen den Egoismus geltend machen."(68) Das bedeutet, daß der einzelne Arbeiter nur insoweit nicht "entfremdet" kämpft, wie er aus egoistischem Interesse am gemeinsamen Widerstand teilnimmt. Das ist z.B. dann der Fall, wenn er im Lohnkampf sein Konkurrenzinteresse berechnend für einen Moment zurückstellt. "Gekämpft" wird dann nicht für "Klasseninteressen", sondern für die Interessen der Lohnarbeit. Es kann aber auch zum massenhaften "radikalen Bedürfnis" werden, die Unsicherheiten der Lohnarbeit überhaupt zu beseitigen, d.h. das Lohnsystem zu beseitigen. Dann liegt es im egoistischen Bedürfnis vieler, dies organisiert zu tun(69). Solange solche radikalen Bedürfnisse nicht existieren - und dies erfordert eine Kritik an der Verkehrung von Subjekt und Objekt -, solange wird es die genannte Dualität von Einzelinteresse (im Privatleben und während der als dessen Mittel eingesetzten Lohnarbeit) und ideologischem "Klasseninteresse" geben, solange werden die Menschen ihre Probleme und Kämpfe in ideologischen Formen austragen. Darauf, daß dies nichts an der "historischen Berechtigung" solcher Kämpfe ändert, die Gründe und Anlässe dieser Kämpfe nicht beseitigt, wurde schon hingewiesen(70). Auf die als Arbeiterbewegung bezeichneten revolutionären Massenbewegungen im deutschen Kaiserreich und zur Zeit der Weimarer Republik trifft m. E. die hier gegebene Charakterisierung zu. Die sukzessive Auflösung dieser Bewegungen nach 1945 wurde durch faschistischen Terror und faschistische "Modernisierung" erst in diesem Umfang möglich. Aber der Sieg des Faschismus hängt auch damit zusammen, daß die sozialistischen und kommunistischen Arbeiterparteien die Lohnarbeiter einerseits bevorzugt in ihrem unmittelbaren Gegensatz zum Kapital ansprachen und andererseits auch dort "Klassensolidarität" verlangten, wo diese gar keine materielle Basis in den egoistischen Interessen hatte. Während nämlich die radikalen Bedürfnisse (Sturz des Lohnsystems) in der Minderheit waren, dehnte sich - auch als Folge erfolgreicher Kämpfe - der Nichtarbeitsbereich zunehmend aus und damit auch der Umfang der rein privaten Interessen. (Kompliziert wird dieser Prozeß noch durch die Einbeziehung der Arbeiter als Staatsbürger). Dieser Vorgang macht m.E. einen guten Teil des Reformismus- bzw. Revisionismusproblems dieser Bewegungen aus und mit ihm hängt m.E. auch der Untergang der sogen. "Arbeiterkultur" zusammen. Einige Aspekte sollen hier - ohne detaillierte Literaturhinweise - erwähnt werden: Während z.B. die KPD bevorzugt ihre Betriebsagitation betrieb und auch in der nur zögernd aufgenommenen Stadtteilagitation die Arbeiter hauptsächlich über die Probleme im Arbeitsprozeß ansprach, war es bei den reformistischen Parteien eher umgekehrt: Einkaufsgenossenschaften, Wohnbe-reichsgruppen, Freizeitorientierung. Es war dies ein Akt der passiven Anpassung an die geänderten Umstände, wie er für reformistische Parteien bezeichnend ist. Die Faschisten machten hingegen die privaten Lebensentwürfe und die daraus entspringenden Verdinglichungen und Illusionen aktiv zum Gegenstand ihrer Propaganda. Die meisten ihrer Kategorien hatten nichts mit der Lohnarbeit zu tun; sondern mit Geld (Inflation), Zins (Wucher), Ernährung (durch Kolonien zu sichern), Wohnungsbau, Rentenversicherung, Verbrechensbekämpfung (starker Staat), aber auch: Förderung der "Intelligentesten", "Mütterlichkeit", 'Volksgemeinschaft", "Heimat" etc. Diese Darstellung ist ganz zweifellos in ihrer Kürze stark vereinfachend. Es geht jedoch nur darum, die Hauptentwicklungslinien aufzuzeigen.

Wenn es überhaupt radikale Bedürfnisse gab, so waren sie in der KPD zu finden. Was der revolutionäre Teil der Arbeiterbewegung der Auflösung der proletarischen Familien in die Massenkultur entgegenzusetzen versuchte, war die "Arbeiterkultur": Arbeitersportvereine, Arbeitertheater, Arbeiterfilm, Arbeiterliteratur, Arbeitermusik, Arbeiterbildung etc.(71). Die nicht sehr revolutionären Anfänge liegen im Kaiserreich und ihre Themen sind schon sehr bezeichnend: Die erste kulturelle Arbeiterorganisation war der Arbeitersängerbund (singen kostet nichts!). 1892 mit 9.000 Mitgliedern gegründet, überrundete er schon bald den bürgerlichen "Deutschen Sängerbund' (1890: 90.000 Mitglieder) und hatte 1912 etwa 200.000 Mitglieder. Über Singen und Turnen kam die "Arbeiterkultur" jedoch erst nach 1918 hinaus. Es entstanden die obengenannten Bereiche. Dabei ist zunächst zweierlei bemerkenswert: 1. diese Vereine entstanden u.a., weil der bürgerliche Kulturbetrieb zu teuer oder den Arbeitern wegen "Standesdünkel" etc. verschlossen blieb. 2. der bürgerliche Kulturbetrieb war deshalb zu teuer, weil er erst nach und nach auf eine industrielle Grundlage gestellt wurde. Auf der anderen Seite ist ebenfalls zweierlei zu verzeichnen: 1. die Arbeiterkultur (sogen. "Zweite Kultur" bei Gramsci) erreichte von Anfang an nur einen Teil der Arbeiter, 2. sie war eigentlich nie "Arbeiterkultur", sondern vor allem Kultur politischer Bewegungen. Ganz unabhängig davon, wie man ihr kulturelles Niveau beurteilen mag, so steht doch fest, daß sie (trotz großer Anstrengungen: vgl. nur das Niveau der "Arbeiterillustrierten") als politische Kultur die Arbeiter ohne oder mit anderer politischer Position nicht interessierte. Weil sie politische Kultur war, spalteten sich auch alle Arbeiterkulturvereine bald in eine SPD-und eine KPD-Sektion, d.h. man turnte, sang und bildete sich getrennt. Gleichzeitig entstand die industrielle bürgerliche Massenkultur, die sich mit Trivialliteratur, Trivialfilmen etc. an die breite Masse derjenigen wandte, die Familie und Privalheit in den Lebensmittelpunkt stellten. Der Faschismus erstickte dann die gespaltenen Teile der politischen "Arbeiter"-Kultur und zog gleichzeitig alle Register der damals neuen Medien (Radio, Wochenschau, Schallplatten etc.). Otto Rühle hatte bereits in seiner "Illustrierten Kultur- und Sittengeschichte des Proletariats" festgestellt, daß Künstler wie Brecht, Käthe Kollwitz u.a. keine "proletarische Kultur", sondern (gute) individualistische bürgerliche Kunst produzierten, die politisch Partei für die Arbeiter ergriff.

Es kann hier, wie gesagt, nicht um eine kulturtheoretische Darstellung gehen. Was aber deutlich werden sollte, ist: 1. Die "proletarische Kultur" war die Kultur einer politischen Bewegung. 2. Die Dominanz der bürgerlichen Kultur geht einher mit der Ausweitung des Nichtarbeitsbereiches und der apologetischen Thematisierung der aus ihm entspringenden Mystifikationen. 3. Der Untergang der "Arbeiterkultur" ist der Untergang der politischen Kultur radikaler Bedürfnisse. Ihre Hauptgegner waren alle diejenigen, die beschlossen haben, die größere Freizeit dazu zu benutzen, sich in den verdinglichten Verhältnissen einzurichten. Der Faschismus vollstreckte deren Urteil. So verstanden, kann es nie mehr um eine Wiederbelebung von "Arbeiterkultur" gehen, sondern nur um die Wiederbelebung radikaler Bedürfnisse.

Anmerkungen (im Text in Klammern)

60)Marx, Kapital II, S. 109

61)Marx, Grundrisse, S. 189

62) vgl. etwa Man/Engels, Deutsche Ideologie, S.39 und S.49 zum Umgang mit Geschichte. Die Illusion der heutigen Epoche ist die Demokratie. Vgl. hierzu Marx, Grundrisse, 5.9/6

63) vgl. Marx, Grundrisse, S.24-26

64) vgl. MEW22, S.509

65) Interessant ist in diesem Zusammenhang die seltsame ständische Organisation der heutigen Kundfunkräte: Dort sitzen als "Gruppen"zusammen: Autofahrer, Katholiken, Arbeiter/DGB, Konsumenten, Unternehmer, Sportler, Handwerker, Parteien etc.

66) Marx, Grundrisse, S.916

67) lch folge hier den Ausführungen von Heller, Theorie der Bedürfnisse, S.67ff

68)Marx/Engels, Deutsche Ideologie, S.229

69) siehe Marx, Lohn, Preis, Profit in MEW 16, S.103;hierS.152

70) siehe das schöne und zentrale Zitat von Marx, MEW 1, S.345

71 )siehe Ritter, Arbeiterkultur

 

Editorische Anmerkungen

Der vorliegende Text erschien in der Hannoveranischen Zeitschrift SPEZIAL links & radikal, Nr. 92, 1993, S. 28ff, OCR-Scan by red. trend
Die SPEZIAl-Säzzer schreiben in dieser Ausgabe als Anmerkung:
Diese Anmerkungen enthalten lediglich vergleichende Quellenhinweise. Die Liste mit den vollständigen Anmerkungen des Autors schicken wir auf Wunsch gerne zu.

Der für die SPEZIAL gekürzte Text von Günter Jacob wurde unter dem Titel "Kapitalismus und Lebenswelt" in der Nr.3 der linken Zeitschrift "17 Grad Celsius" abgedruckt. Vorher ist bereits eine (andere) Kurzfassung unter dem Titel "Persönliches Pech" in "Spex" 3/89 erschienen, die vom "ak", der "Volkszeitung" und in dem Buch "Die Radikale Linke" (Konkret-Veriag) nachgedruckt wurde.