Das Schlimmste, was man der Geschichte antun kann, ist, sie als
Bebilderung einer vorher fertigen Theorie zu mißbrauchen. Ein
"Geschichtsbild" zu haben, das ist nicht nur eine im Alltag übliche
Form der Ver-dinglichung, sondern auch verbreitetes Verfahren in der
Wissenschaft. Wenn hier dennoch eine geschichtliche Illustration
folgt, so nur, weil in der Marx'sehen Theorie Geschichte bereits
verarbeitet ist. Alles, was auf den folgenden Seiten zur neueren
Geschichte gesagt wird, hat daher den Charakter von
Arbeitshypothesen. Diese Thesen stützen sich auf neuere
Forschungsergebnisse und sind zugleich ein Versuch, aus dem
bisherigen im Text Entwickelten Schlußfolgerungen hinsichtlich der
noch zu klärenden Fragen zu ziehen.
Die historischen Kategorien sind immer theoretische Ausdrücke
historischer Produktions- und Verkehrsverhältnisse. Die Darstellung
im Marx'schen Kapital unterstellt eine Gesellschaft entwickelter
kapitalistischer Produktion. Ob es zu dieser kapitalistischen
Totalität in einem Land wirklich kommt, entscheidet sich in realen
gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, die es deshalb konkret zu
analysieren gilt.
Marx sagt dazu ausdrücklich, daß das Kapital als sich
verwertender Wert "nicht nur Klassenverhältnisse" umschließt(60).
Ihm ist klar, daß die konkrete Totalität auch historisch-konkret
ist. In der theoretischen Entwicklung der Kategorien schlägt sich
dieser Umstand darin nieder, daß die (genetische) Ableitung auf ihre
Grenzen stößt: "Es ist zu bedenken, daß die neuen Produktivkräfte
und Produktionsverhältnisse sich nicht aus dem Nichts entwickeln...,
sondern innerhalb und gegensätzlich gegen vorhandene...Wenn im
vollendeten bürgerlichen System jedes ökonomische Verhältnis das
andere voraussetzt, und so jedes Gesetz zugleich Voraussetzung ist,
so ist das mit jedem organischen System der Fall. Dies...System (!)
selbst als Totalität hat seine Voraussetzungen
und seine Entwicklung zur Totalität besteht eben darin, alle Momente
der Gesellschaft sich unterzuordnen, oder die ihm noch fehlenden
Organe aus ihr heraus zu schaffen. Es wird so historisch zur
Totalität ."(61)
So ist etwa der freie Arbeiter historische
Voraussetzung zur Entwicklung des Kapitals. Wenn das Kapital
etabliert ist, produziert es diesen Lohnarbeiter selbst aufs Neue,
macht ihn zum Moment der kapitalistischen Logik. Das Gleiche läßt
sich von den technologischen Voraussetzungen der relativen
Mehrwertproduktion sagen, die größtenteils als Handwerksprodukte
entstanden. Im Gegensatz zu den bürgerlichen Ökonomen, die nach
Marx' Meinung "alle historischen Unterschiede ver-wischen"(62),
bemüht sich Marx, seine Kategorien so zu entwickeln, daß mit ihnen
nicht nur die aktuellen Verhältnisse begriffen werden können,
sondern daß sie auch ein Schlüssel für Einsichten in die
Vergangenheit sind(63).
Die Ausdehnung des Nichtarbeitsbereichs
seit der Jahrhundertwende
Als eigentlicher Lebensmittelpunkt erscheint dem Lohnarbeiter
nicht die Arbeit, sondern die Familie, die ihm seit seiner
Kindheit als der Bereich gilt, der ganz seiner Besonderheit als
Individuum gewidmet ist.
Für diesen Lebensmittelpunkt hatten die
Lohnabhängigen (in Deutschland) in der Vergangenheit nicht sehr viel
Zeit übrig. Angesichts wöchentlicher Arbeitszeiten von etwa 80
Stunden (1030 - 1860) oder auch "nur" von 60 bis 65 Stunden (1890 -
1900) ging es in der Regel mehr ums blanke Überleben, so daß für
gemütliche und unbeschwerte Stunden im trauten Heim wenig übrigblieb.
Entsprechend undifferenziert war auch die
Gefühlswelt. Die typische Figur dieser Zeit war der autoritäre
proletarische Ehemann und Vater. Das Bildungsniveau und auch der
Umkreis der Lebensmittel waren gleichermaßen dürftig. Geheiratet
wurde nahezu ausschließlich innerhalb der eigenen Schicht.
"Versorger" war trotz Frauen-Lohnarbeit in erster Linie doch der
Mann, während die Frauen mit schwerer körperlicher Hausarbeit, z.T.
auch mit Heimarbeit zu tun hatten.
Die Festlegung auf die Fabrikarbeit des Mannes
trennte endgültig den Wohnbereich vom Arbeitsbereich, Schichtarbeit
zerriß nun auch den tageszeitlichen Zusammenhang der Familie. Hinzu
kamen solche neuen Errungenschaften wie Anfahrtzeiten zum
Arbeitsplatz (häufig in der Form von Fußmärschen), "Mobilität"
hinsichtlich des Wohnortes etc. Die Welt der Bürgerfamilien sah zu
diesem Zeitpunkt bereits ganz anders aus und sie blieb noch das
Ideal der Arbeiterfamilien, als die Bürger selbst schon wieder
andere Ideale hatten. In den Bürgerfamilien - vom verarmten
Handwerkerhaushalt bis zum Fabrikanten - wurde das Ideal der
intakten Familie gepflegt, wo Kinder und Frau getrennt von der
harten Außeriweit Geborgenheit schufen und auf den heimkehrenden
Vater und Ehemann warteten. Mit der Entwicklung der politischen
Arbeiterbewegung, durch die Steigerung der Arbeitsproduktivität
("relativer Mehrwert") und durch (nicht nur von unten erzwungene)
Staatseingriffe kam es zu kürzeren Arbeitszeiten und gingen mehr Gebrauchswerte
in die Lohnarbeiterhaushalte ein.
Auf jeden Fall verminderte sich die wöchentliche Arbeitszeit seit
1900 um offiziell 20 Stunden, die Jahresarbeitszeit verminderte sich
zudem durch längere Urlaubszeiten. Spätestens seit 1910 existieren
deutliche zeitliche und räumliche Trennungen von Arbeit und
Freizeit. Trotz gleichzeiliger Inlensivierung der Arbeit und auch
Verlängerung der Lebensarbeitszeit nehmen die Lohnabhängigen
zunehmend an der kapitalistischen Zivilisation teil. Die größere
Freizeit ist dabei nur die allgemeine Voraussetzung, aus der alleine
dieser Prozeß nicht zu erklären ist. Sozialversicherungswesen,
Vergesellschaftung der Schulbildung usw. werden teils erkämpft,
teils von oben eingeführt und teils von der komplizierten
Technologie erzwungen. Parallel hierzu erfolgt die Verwandlung der
Lohnarbeiter in Staatsbürger. Von diesen Zusammenhängen handeln die
folgenden Abschnitte.
Die Umwandlung des 'Vierten Standes "in
Staatsbürger
Wie kann das konkrete Individuum den abstrakten Standpunkt des
Staatsbürgers erlangen? Wie kommt es, daß am Einzelnen erscheint,
was das allgemeine Gesetz ist? Theoretisch wurden diese Fragen schon
oben beantwortet. Hier geht es darum, stichwortartig nachzuzeichnen,
wie die aus den plebejischen Stadtschichten und besitzlosen Bauern
hervorgegangenen und zunächst als "Vierter Stand" (nach Adel, hohem
Klerus und Bourgeoisie) außerhalb der Gesellschaftstehenden
Lohnarbeiter nach und nach zu vollständigen Staatsbürgern wurden.
Die ökonomische Seite dieser Entwicklung - etwa frühe Lohngesetze,
Koalitionsverbote, Entlohnung in Naturalform (Trucksystem) etc. -
kann hier nicht weiter erörtert werden. Auf einige Aspekte wird
jedoch im nachfolgenden Abschnitt eingegangen.
Individuelle Rechte gab es in Europa vor 1628 weder für die
unteren noch für die oberen Stände. In der altenglischen Magna
Charta (1215) wurden erstmals den Baronen vom englischen König
Standesrechte gewährt, z.B. durften die Barone ein eigenes
Gerichtswesen zur Regelung von Standesstreitigkeiten errichten. Der
Grundgedanke auch entsprechender Verträge anderswo (z.B. Tübinger
Vertrag von 1514) war immer die wechselseitige Bindung und
Beschränkung von Herrschaft. Eine wirkliche Einschränkung des
Monarchen erreichte jedoch nur das englische Adelsparlament. In
jedem Fall aber wurden nicht Einzelnen, sondern Ständen und
Institutionen Rechte gewährt bzw. verweigert. Die ersten
Individualrechte brachte 1628 die englische "Petition of Righls".
Sie gab allen Engländern gewisse Einzelrechte, z.B. den
Schutz vor willkürlicher Verhaftung und die Garantie des -
soweit vorhanden - Eigentums. Auf dieser Ausgangsbasis und ebenso
praktisch durch die ökonomische Entwicklung wie theoretisch durch
Staatstheoretiker wie Locke, Montesquieu und Rousseau vonbereitet,
entstand der Gedanke "natürlicher" Grund- und Menschenrechte "des
Individuums". Diese Abstraktion schlug sich erstmals in der
amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) und dann in der
Menschen-und Bürgerrechtserklärung der französischen Revolution
(1789) nieder. Die französische Verfassung von 1791 stattete das
(Weiße! Nicht die schwarzen Sklaven) Individuum gleich mit 35
natürlichen Rechten aus, inklusive des Rechtes auf Widerstand gegen
den abstrakten Volkswillen, aber ausdrücklich ohne Koalitionsrecht
für Arbeiter. Gleichheit und Freiheit als ideale Ausdrücke der
Warenproduktion waren damit etabliert, aber es gab bereits "soziale
Grundrechte" und somit die Anfänge einer sozialstaatlichen
Kalkulation mit den ungleichen Voraussetzungen in einer
Klassengesellschaft. Einige ihrer Momente gingen 1818 und 1819 in
die Verfassung verschiedener süddeutscher Staaten ein (Bayern,
Württemberg) und wurden dann • 1830 z.T. auch in Norddeutschland
übernommen. In Deutschland war 1806 das Heilige Römische Reich
Deutscher Nation zerfallen und damit auch dessen Ständeversammlung
(bestehend aus Gesandten der drei Reichsstände: Kurfürsten,
Reichsfürsten und Städte). Der Wiener Kongreß von 1814/15, der aus
38 Fürsten und vier Reichsstädten den Staatenverbund "Deutscher
Bund" schuf, brachte auch eine Bundesversammlung dieser "Inleressens-gruppen"
zustande. Erste Einschränkungen des Monarchen in Form ständischer
Volksvertretungen wurden nach 1830 teilweise wieder rückgängig
gemacht. Ein allgemeines (Männer-) Wählrecht brachte erstmals die
Frankfurter Nationalversammlung im Mai 1848. Gewählt wurden keine
Parteien, sondern "angesehene Bürger" (häufig Professoren). Im
Paulskirchenparlament saßen auch einige reichere Bauern und
Handwerker, aber keine Arbeiter. Nachdem diese Versammlung ein Jahr
später auseinandergejagt und die Fürstenmacht wieder etabliert war,
gewährten die Monarchen von oben größtenteils Verfassungsrechte. In
Preußen durfte nun auf der Grundlage des Dreiklassenwahlrechts
konstruktiv am Staatsgeschehen mitgewirkt werden. Im Norddeutschen
Bund wurde allerdings bald das allgemeine und gleiche
Männerwahlrecht eingeführt. Ab 1861 kam es in vielen Einzelstaaten
zu Parteigründungen. In diese Zeit fällt auch die Gründung
politischer Arbeitervereine (1863 der ADAV mit Lasalle und 1869 die
SDAP mit Bebel/Liebknecht), die sich dann 1875 in Gotha zur SAPD
vereinigten (ab 1891: SPD). Aus dem Norddeutschen Bund und den
süddeutschen Staaten wurde 1871 auf den Trümmern der Pariser Kommune
von Fürsten und Militärs das Deutsche
Kaiserreich errichtet. Es reicht hier der Hinweis aus, daß der
Reichstag in dieser konstitutionellen Monarchie bis 1918 nicht viel
zu sagen hatte, daß er aber immerhin das Budget zu bewilligen und
die Gesetze auszuarbeiten hatte. Es gab eine Verfassung (ohne
natürliche Rechte) und das vom Norddeutschen Bund übernommene
allgemeine Männerwahlrecht (ab dem 25. Lebensjahr) auf der Grundlage
des Mehrheitswahlsystems. Die Arbeiter, damals noch als "Vierter
Stand" angesehen, hatten nun also ein Wahlrecht und zudem 'Ihre"
Partei. Von den Wahlen wurde seitens der Sozialdemokratie viel und
teilweise alles erwartet. Man glaubte ernsthaft an die 51%-Lösung
und dabei entstand der sprichwörtliche Opportunismus der Parteien
der II. Internationale.
Die SPD konnte trotz vielerlei Behinderungen ihren Stimmenanteil
von 3,1% (1871) über 10,1% (1887) auf 34,8% (1912) steigern. 1893
war sie mit 23% die stärkste Partei. Die Sozialistengesetze
(1878-1890) konnten das Wachstum der SPD nicht behindern, aber in
diesen Zeitraum fällt auch der Beginn eines immer offeneren
Verzichts auf radikale Bedürfnisse. Je stärker die Partei wurde,
desto bürgerlicher wurde ihre Politik.
Was den Inhalt der damaligen "Arbeiterpolitik" betrifft, so sei
nur auf einige prägnante Punkte hingewiesen:
- noch zu Lebzeiten von Engels (1885) wollte die
SPD-Reichstagsfraktion der Regierungsvorlage für eine
"Dampfersubvention" zustimmen.
- nur wenige Jahre später - auf dem Stuttgarter Kongreß der II.
Internationale -unterstützte der Vertreter der SPD den
"Nutzen und die Notwendigkeit von Kolonialpolitik" für die
Arbeiter. Bernstein propagierte diese Position 1900 in der
Parteipresse.
Das waren keine Entgleisungen. Bereits im Gothaer Parteiprogramm
von 1875 sind viele Mystifikationen der bürgerlichen Gesellschaft
versammelt: "Freier Staat", "Volkserziehung durch den Staat",
"kostenlose Justiz", "Gewissensfreiheit" usw. Marx bezeichnete das
Programm als Ergebnis von "Untertanenverstand' und urteilte: "Die
deutsche Arbeiter Partei—zeigt, wie ihr die sozialistischen Ideen
nicht einmal hauttief sitzen..." Engels schwankte nach dem Tod von
Marx zwischen unreflektier-ter Begeisterung angesichts der
wachsenden Stimmenzahl für die SPD und einer ebenfalls nicht gerade
tiefgründigen Kritik an den schlimmsten Erscheinungsformen des
Opportunismus(64). Die Sozialdemokratie beteiligte sich nicht nur an
den Reichstagswahlen, sondern auch an den Wahlen für Einzellandtage,
Gemeinderäte, Gewerbegerichte usw. Über diese Beteiligungen erfolgte
ein wichtiger Teil der Umwandlung von Klassenkämpfern in
Staatsbürger, wobei immer beachtet werden muß, daß es sich hier
nicht einmal um einen wirklich bürgerlichen Staat handelte. Man
machte seinen Frieden bereits mit der
Monarchie. Die verbleibende Sozialrevolutionäre Rhetorik verdeckte
bald nur noch mühsam die Wandlung zur konstruktiven Reformpartei.
Nach der Zustimmung zu den Kriegskrediten (1914) durch die SPD gaben
dann auch der Kaiser, die Militärs, der Adel und schließlich auch
die Kapitalisten nach und nach ihre Vorbehalte gegenüber den
politischen Arbeitern auf. Als politische Kraft standen die Arbeiter
bis 1914 immer noch einigermaßen außerhalb der offiziellen
Gesellschaft. Erst Krieg und Kriegswirtschaft sollten das ändern.
Die Gewerkschaften übernahmen Aufgaben in der Kriegswirtschaft. Sie
beteiligten sich an der Arbeitsvermittlung und der Wohlfahrtspflege
usw. Immer häufiger saßen Arbeiter in den Ernährungskommissionen,
Wucherbekämpfungsbehörden und anderen Einrichtungen der
Kriegswirtschaft. Im April 1917 forderte der Kaiser selbst die
Aufhebung des Dreiklassenwahlrechtes in Preußen: "Nach den gewaltigen
Leistungen des ganzen Volkes in diesem furchtbaren Kriege ist...für
das Klassenwahlrecht in Preußen kein Raum mehr." Die "Sachzwänge"
des Krieges schufen den politischen Raum, in dem es dem Staat
möglich war, die zur Verantwortung strebenden Lohnarbeiter gegen
Widerstände der Kapitalisten und der vorkapitalistischen Klassen zu
vollwertigen Staatsbürgern zu machen. Durch diesen Vorgang kam der
damalige Staat seinem Begriff als bürgerlicher Staat selbst ein
gutes Stück näher. Die staatliche Gewalt wurde mehr denn je dem
unmittelbaren Zugriff privilegierter Gruppen entzogen und dadurch
zur wirklich öffentlichen Gewalt. Am Ende waren die revolutionären
Arbeiter isoliert und verloren die Novemberrevolution.
Tatsächlich waren fast alle Parteien bis zum Ende der Weimarer
Republik noch ziemlich "ständisch" strukturiert, d.h. Bauern,
Unternehmer, Arbeiter, Grundbesitzer etc. hatten gewissermaßen
jeweils "ihre" Partei und darin lag auch ein Moment von
Klassenkampf. Allerdings löste sich der anfangs relativ enge
Zusammenhang zwischen der Stellung in der Distributionssphäre
(gerade deshalb ist es problematisch, von Klassenkampf zu sprechen)
und Parteibindung zusehends in allen Lagern auf, was sicherlich mit
der damals real werdenden Tendenz zur Individualisierung der Person
(mit der Vervielfältigung der Momente, die das Individuum ausmachen)
zusammenhängt. Vom Anspruch her waren die "Arbeiterparteien" noch am
längsten Klassenparteien. Die KPD hat diesen Anspruch nie aufgegeben
(stattdessen "Bündnisstrategien" entwickelt), die SPD gab ihn
offiziell erst mit dem Godesberger Programm auf.
Die modernen Volksparteien sind sozusagen die "adäquate" Form der
Interessenvertretung "schillernder Individuen": Das "Moment des
Klassenkampfes", der Zuordnung von "Stellung im Berufsleben" und
Partei existiert wahrscheinlich nur noch in Form von Traditionen,
Gewohnheiten, Einbildung, - letztlich als Teil eines Habitus. Was
der CDU ihre "Sozialausschüsse", ist der SPD
ihr "Arbeitskreis mittelständischer Unternehmer". In den
Parteiprogrammen dieser Volksparteien werden bereits die
gegensätzlichsten Interessen miteinander versöhnt: Radfahrer und
Autofahrer ebenso wie Lohnarbeiter und Untemehmer(65). Der
historischen Wahlforschung zeigt sich immer deutlicher, daß die
erste moderne Volkspartei in Deutschland NSDAP hieß.
Nach dem Sieg des Faschismus hatte die NSDAP auf jeden Fall alle
Individuen zu Volksgenossen gemacht und diejenigen, die das nichl
werden wollten, beseitigt. Durch diese Zangenbewegung aus
bürgerlicher Verdinglichung und braunem Terror wurde der
Staatsbürger nach 1945 erst endgültig Wirklichkeit. Der Staatsbürger
ist nach Marx das Individuum in seiner Getrenntheit von seiner
ökonomischen Stellung in der Gesellschaft. Wenn er aber erst einmal
vollständig geschaffen ist und alle Rückwirkungen dieses Teils des
"Überbaus" auf diese Stellung wirksam geworden sind, wenn alle
Sonderinteressen nur noch am Gesetz und nicht mehr am Konkurrenten
relativiert werden und wenn schließlich alle sozialen Beziehungen -
von der Freundschaft über das "Arbeitsleben" bis zum Umgang des
Slaates mit seinen Bürgern (Rechtsstaat, Sozialstaat,
Verfassungsstaat) - verrechtlicht sind, dann erscheint den
bürgerlichen Individuen ihre soziale Stellung in der Gesellschaft
und sogar die Gesellschaft überhaupt als vom Staatshandeln
konstituierte. Eine Gesellschaft ohne Staat halten sie dann für eine
bloße Verrücktheit(66).
Die Auflösung der "Arbeiterkultur"in
die bürgerliche Massenkultur
Die Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft haben ihre
Lebenspläne und wenn sie diese entwerfen, gehen sie von sich als
Privatpersonen aus: Ausbildung, Freundin, Beruf, Heirat, Kind,
heißen immer noch die Hauptstationen der Lebensstrategien,
wenngleich hier und da einzelne Modernisierungen zu neuen
Namensgebungen und Formen geführt haben. Der Beruf dient vor allem
der Mittelbeschaffung, d.h. große Hoffnungen, sich gerade in Fabrik
und Büro "entfalten" zu können, sind eher die Ausnahme. Selbst die
im Beruf Erfolgreichen befinden sich nach eigener Auskunft stets im
Zwiespalt zwischen "Karriere und persönlichem Glück". Wo die Leute
ihre wirklichen Probleme sehen, das kann man leicht der Massenpresse
entnehmen: 'Test: Können Sie sich durchsetzen?", "Fleckenlos blank
und das ohne Nachpolieren", "Gewöhnen Sie ihre Kinder an den Umgang
mit Geld", "Bis zu 80 % Einsparung durch Spar-Wasserhahn", "Kinder
von den Eltern überfordert?", "Gesundheit ist unser höchstes Gut"
usw. Diese und ähnliche Fragen stehen eindeutig im Mittelpunkt eines
"normalen" Bundesbürgers, und zwar - mit
Variationen - in allen gesellschaftlichen Schichten.
Auch berufliche und politische Fragen werden vom Standpunkt des
Nichtarbeitsbereiches aus wahrgenommen. Es wird aber beispielsweise
auch gefragt: '^Sind Japans Arbeiter fleißiger?" oder festgestellt:
"Umweltschutz fängt zu Hause an!" Selbst die politischen "Skandale",
anhand derer öffentlich erörtert wird, ob sich auch alle den
gleichen Spielregeln unterwerfen, sind aus privater Sicht Probleme
des guten oder schlechten Charakters anderer Leute. An ihnen und an
den sonst von den Medien gelieferten Porträts erfolgreicher oder
gescheiterter Mitbürger läßt sich ablesen, was einen gelungenen
Lebensentwurf ausmacht: Das richtige Elternhaus, eine Ausbildung,
Wehrdienst oder Zivildienst, Glaube an einen Herrgott oder
wenigstens Philosophiekenntnisse, die richtige Partei oder bewußt
parteilos, Verbindungen, einen passenden Partner bzw. Partnerin,
Beharrlichkeit, Temperament, Humor, Überzeugungsstärke, aber auch
Unauffälligkeit wo's angebracht ist, Optimismus und List, etwas
Eitelkeit und bewußt eingesetzte Bescheidenheit, vergleichendes
Konkurrieren ohne deshalb gleich zu verbiestern und vor allem
kritische Konstruktivität. Die Frage ist nun, ob die privaten
Lebensentwürfe vor 50 oder 70 Jahren sehr
viel anders aussahen oder ob es unter den Bedingungen einer
einflußreichen "Arbeiterbewegung" vollkommen andere Lebenspläne gab.
Mit anderen Worten: es fragt sich, ob die Existenz einer sich als
Klassenbewegung verstehenden politischen Massenbewegung die
vollständige Privatheit der Individuen so relativiert, daß diese die
"Ziele ihrer Klasse" in ihre privaten Pläne integrieren, so daß es
statt zur Integration der Familienorientiertheit in die Massenkultur
zu einer Einbindung in eine Klassenkultur kommt? Zunächst stößt man
mit dieser Frage auf den Gegensatz von "Klasseninteresse" und
"persönlichem Interesse". Nach dem, was in diesem Referat bisher
ausgeführt wurde, kann es ein "Klasseninteresse" bestenfalls als
real wirkende (politische) Ideologie geben. Das gemeinsame Interesse
etwa der Arbeiter an dem Verkauf ihrer Arbeitskraft (an bestimmten
Bedingungen der Vemut-zung) ist nur ein Moment ihres Interesses als
Lohnarbeiter. Soweit sie als Verkäufer auftreten, stehen sie in
Konkurrenz zueinander und soweit sie diese Konkurrenz im Lohnkampf
außer Kraft setzen, tun sie es nur, um dann auf (möglicherweise)
höherem Lohnniveau wieder zu konkurrieren. Selbst zu Zeiten der
60-Stundenwoche gab es diese Dualität von momentanem allgemeinen
Klasseninteresse und dem partikularen Interesse des einzelnen
Arbeiters. Marx, der von "Klasseninteresse"
nur an einer Stelle spricht - in der "Deutschen Ideologie" -
kennzeichnet diese Bewußtseinsform von Arbeiterbewegungen als
Entfremdung: "Wie kommt es, daß die
persönlichen Interessen sich den Personen zum Trotz zu
Klasseninteressen fortentwickeln, welche sich
den einzelnen Personen gegenüber verselbständigen,...die Gestalt
allgemeiner Interessen annehmen, als solche mit den wirklichen
Individuen in Gegensatz treten und in diesem Gegensatz...von dem
Bewußtsein als ideale, selbst religiöse, heilige Interessen
vorgestellt werden können? Wie kommt es, daß...das persönliche
Verhalten des Individuums sich versach-lichen,entfremden muß und
zugleich als von ihm unabhängige, durch den Verkehr hervorgebrachte
Macht, ohne ihn besteht...?''^)
Weil Marx ein "Klasseninteresse" eindeutig als Ideologie
analysiert, spricht er sich auch dagegen aus gegenüber dem Einzelnen
auf die "Interessen der Arbeiterklasse" zu pochen. Kommunisten
sollen "weder den Egoismus gegen die Aufopferung noch die
Aufopferung gegen den Egoismus geltend machen."(68) Das bedeutet,
daß der einzelne Arbeiter nur insoweit nicht "entfremdet" kämpft,
wie er aus egoistischem Interesse am gemeinsamen Widerstand
teilnimmt. Das ist z.B. dann der Fall, wenn er im Lohnkampf sein
Konkurrenzinteresse berechnend für einen Moment zurückstellt.
"Gekämpft" wird dann nicht für "Klasseninteressen", sondern für die
Interessen der Lohnarbeit. Es kann aber auch zum massenhaften
"radikalen Bedürfnis" werden, die Unsicherheiten der Lohnarbeit
überhaupt zu beseitigen, d.h. das Lohnsystem zu beseitigen. Dann
liegt es im egoistischen Bedürfnis vieler, dies organisiert zu
tun(69). Solange solche radikalen Bedürfnisse nicht existieren - und
dies erfordert eine Kritik an der Verkehrung von Subjekt und Objekt
-, solange wird es die genannte Dualität von Einzelinteresse (im
Privatleben und während der als dessen Mittel eingesetzten
Lohnarbeit) und ideologischem "Klasseninteresse" geben, solange
werden die Menschen ihre Probleme und Kämpfe in ideologischen Formen
austragen. Darauf, daß dies nichts an der "historischen
Berechtigung" solcher Kämpfe ändert, die Gründe und Anlässe dieser
Kämpfe nicht beseitigt, wurde schon hingewiesen(70). Auf die als
Arbeiterbewegung bezeichneten revolutionären Massenbewegungen im
deutschen Kaiserreich und zur Zeit der Weimarer Republik trifft m.
E. die hier gegebene Charakterisierung zu. Die sukzessive Auflösung
dieser Bewegungen nach 1945 wurde durch faschistischen Terror und
faschistische "Modernisierung" erst in diesem Umfang möglich. Aber
der Sieg des Faschismus hängt auch damit zusammen, daß die
sozialistischen und kommunistischen Arbeiterparteien die
Lohnarbeiter einerseits bevorzugt in ihrem unmittelbaren Gegensatz
zum Kapital ansprachen und andererseits auch dort
"Klassensolidarität" verlangten, wo diese gar keine materielle Basis
in den egoistischen Interessen hatte. Während nämlich die radikalen
Bedürfnisse (Sturz des Lohnsystems) in der Minderheit waren, dehnte
sich - auch als Folge erfolgreicher Kämpfe - der Nichtarbeitsbereich
zunehmend aus und damit auch der Umfang der
rein privaten Interessen. (Kompliziert wird dieser Prozeß noch durch
die Einbeziehung der Arbeiter als Staatsbürger). Dieser Vorgang
macht m.E. einen guten Teil des Reformismus- bzw.
Revisionismusproblems dieser Bewegungen aus und mit ihm hängt m.E.
auch der Untergang der sogen. "Arbeiterkultur" zusammen. Einige
Aspekte sollen hier - ohne detaillierte Literaturhinweise - erwähnt
werden: Während z.B. die KPD bevorzugt ihre Betriebsagitation
betrieb und auch in der nur zögernd aufgenommenen Stadtteilagitation
die Arbeiter hauptsächlich über die Probleme im Arbeitsprozeß
ansprach, war es bei den reformistischen Parteien eher umgekehrt:
Einkaufsgenossenschaften, Wohnbe-reichsgruppen,
Freizeitorientierung. Es war dies ein Akt der passiven Anpassung an
die geänderten Umstände, wie er für reformistische Parteien
bezeichnend ist. Die Faschisten machten hingegen die privaten
Lebensentwürfe und die daraus entspringenden Verdinglichungen und
Illusionen aktiv zum Gegenstand ihrer Propaganda. Die meisten ihrer
Kategorien hatten nichts mit der Lohnarbeit zu tun; sondern mit Geld
(Inflation), Zins (Wucher), Ernährung (durch Kolonien zu sichern),
Wohnungsbau, Rentenversicherung, Verbrechensbekämpfung (starker
Staat), aber auch: Förderung der "Intelligentesten",
"Mütterlichkeit", 'Volksgemeinschaft", "Heimat" etc. Diese
Darstellung ist ganz zweifellos in ihrer Kürze stark vereinfachend.
Es geht jedoch nur darum, die Hauptentwicklungslinien aufzuzeigen.
Wenn es überhaupt radikale Bedürfnisse gab, so waren sie in der
KPD zu finden. Was der revolutionäre Teil der Arbeiterbewegung der
Auflösung der proletarischen Familien in die Massenkultur
entgegenzusetzen versuchte, war die "Arbeiterkultur":
Arbeitersportvereine, Arbeitertheater, Arbeiterfilm,
Arbeiterliteratur, Arbeitermusik, Arbeiterbildung etc.(71). Die
nicht sehr revolutionären Anfänge liegen im Kaiserreich und ihre
Themen sind schon sehr bezeichnend: Die erste kulturelle
Arbeiterorganisation war der Arbeitersängerbund (singen kostet
nichts!). 1892 mit 9.000 Mitgliedern gegründet, überrundete er schon
bald den bürgerlichen "Deutschen Sängerbund' (1890: 90.000
Mitglieder) und hatte 1912 etwa 200.000 Mitglieder. Über Singen und
Turnen kam die "Arbeiterkultur" jedoch erst nach 1918 hinaus. Es
entstanden die obengenannten Bereiche. Dabei ist zunächst zweierlei
bemerkenswert: 1. diese Vereine entstanden u.a., weil der
bürgerliche Kulturbetrieb zu teuer oder den Arbeitern wegen
"Standesdünkel" etc. verschlossen blieb. 2. der bürgerliche
Kulturbetrieb war deshalb zu teuer, weil er erst nach und nach auf
eine industrielle Grundlage gestellt wurde. Auf der anderen Seite
ist ebenfalls zweierlei zu verzeichnen: 1. die Arbeiterkultur
(sogen. "Zweite Kultur" bei Gramsci) erreichte von Anfang an nur
einen Teil der Arbeiter, 2. sie war eigentlich nie "Arbeiterkultur",
sondern vor allem Kultur politischer
Bewegungen. Ganz unabhängig davon, wie man ihr kulturelles Niveau
beurteilen mag, so steht doch fest, daß sie (trotz großer
Anstrengungen: vgl. nur das Niveau der "Arbeiterillustrierten") als
politische Kultur die Arbeiter ohne oder mit anderer politischer
Position nicht interessierte. Weil sie politische Kultur war,
spalteten sich auch alle Arbeiterkulturvereine bald in eine SPD-und
eine KPD-Sektion, d.h. man turnte, sang und bildete sich getrennt.
Gleichzeitig entstand die industrielle bürgerliche Massenkultur, die
sich mit Trivialliteratur, Trivialfilmen etc. an die breite Masse
derjenigen wandte, die Familie und Privalheit in den
Lebensmittelpunkt stellten. Der Faschismus erstickte dann die
gespaltenen Teile der politischen "Arbeiter"-Kultur und zog
gleichzeitig alle Register der damals neuen Medien (Radio,
Wochenschau, Schallplatten etc.). Otto Rühle hatte bereits in seiner
"Illustrierten Kultur- und Sittengeschichte des Proletariats"
festgestellt, daß Künstler wie Brecht, Käthe Kollwitz u.a. keine
"proletarische Kultur", sondern (gute) individualistische
bürgerliche Kunst produzierten, die politisch Partei für die
Arbeiter ergriff.
Es kann hier, wie gesagt, nicht um eine
kulturtheoretische Darstellung gehen. Was aber deutlich werden
sollte, ist: 1. Die "proletarische Kultur" war die Kultur einer
politischen Bewegung. 2. Die Dominanz der bürgerlichen Kultur geht
einher mit der Ausweitung des Nichtarbeitsbereiches und der
apologetischen Thematisierung der aus ihm entspringenden
Mystifikationen. 3. Der Untergang der "Arbeiterkultur" ist der
Untergang der politischen Kultur radikaler Bedürfnisse. Ihre
Hauptgegner waren alle diejenigen, die beschlossen haben, die
größere Freizeit dazu zu benutzen, sich in den verdinglichten
Verhältnissen einzurichten. Der Faschismus vollstreckte deren
Urteil. So verstanden, kann es nie mehr um eine Wiederbelebung von "Arbeiterkultur"
gehen, sondern nur um die Wiederbelebung radikaler Bedürfnisse.
Anmerkungen (im Text in Klammern)
60)Marx, Kapital II, S. 109
61)Marx, Grundrisse, S. 189
62) vgl. etwa Man/Engels, Deutsche
Ideologie, S.39 und S.49 zum Umgang mit Geschichte. Die Illusion der
heutigen Epoche ist die Demokratie. Vgl. hierzu Marx, Grundrisse,
5.9/6
63) vgl. Marx, Grundrisse, S.24-26
64) vgl. MEW22, S.509
65) Interessant ist in diesem Zusammenhang
die seltsame ständische Organisation der heutigen Kundfunkräte: Dort
sitzen als "Gruppen"zusammen: Autofahrer, Katholiken, Arbeiter/DGB,
Konsumenten, Unternehmer, Sportler, Handwerker, Parteien etc.
66) Marx, Grundrisse, S.916
67) lch folge hier den Ausführungen von
Heller, Theorie der Bedürfnisse, S.67ff
68)Marx/Engels, Deutsche Ideologie, S.229
69) siehe Marx, Lohn, Preis, Profit in MEW
16, S.103;hierS.152
70) siehe das schöne und zentrale Zitat
von Marx, MEW 1, S.345
71 )siehe Ritter, Arbeiterkultur