Editorial
Noch einmal über Theorie und Praxis(*)

von Karl-Mueller

11/2016

trend
onlinezeitung

Regelmäßig erhält die TREND-Redaktion den Newsletter der Gruppe ArbeiterInnenmacht (GAM) und kann den einen oder anderen Artikel entsprechend unserem strömungsübergreifenden Konzept gut gebrauchen. Manchmal jedoch sind Texte dabei, da stehen einem  schon mal ideologisch die Nackenhaare hoch. Dazu gehörte unlängst der Ankündigungstext für "Ideen unter Feuer - Lese- und Diskussionskreis der Gruppe ArbeiterInnenmacht Wintersemester 2016 an der HU Berlin: Karl Marx, Das Kapital". Darin heißt es: "Es geht uns nicht nur darum, dieses System der Ausbeutung zu verstehen, sondern vor allem, warum und wie es revolutionär überwunden werden muss."

Ist es nicht so - oder haben wir bei den Altmeistern etwas überlesen - dass der "theoretische Ausdruck der proletarischen Bewegung" (Engels) der wissenschaftliche Sozialismus ist, d.h. dass sich die proletarisch-revolutionäre Politik von der bürgerlichen Klasse dadurch unterscheidet, dass sie parteilicher Ausdruck der wissenschaftlichen Durchdringung der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihrer grundlegenden Widersprüche ist, die nur aufgehoben werden können, wenn man sie verstanden hat? Nur - das (richtige) Verständnis für die revolutionäre Aufhebung  - d.h. Strategie und Taktik  -  entwickelt sich in der kollektiv organisierten Praxis der Klasse, ist nicht getrennt davon, und kommt schon gar in der Studierstube zu sich.

Die Gruppe ArbeiterInnenmacht war eine der bestimmenden Gruppen im der NaO,  die bekanntlich nach zwei Jahren ihrer Existenz auf Initiative der GAM im Frühjahr 2016 aufgelöst wurde. Die von TREND organisierte Veranstaltung "Neue antikapitalistische Organisation. Musste das wirklich sein??" wird sich am 8. November 2016 mit dem Scheitern der Nao befassen und dort wird es mit ziemlicher Sicherheit um das Problem gehen, wie sich Theorie und Praxis in ihrer dialekrischen Verbindung zueinander zu verhalten haben. Es ist jedenfalls nicht verwunderlich, dass die GAM, geht man von ihrem obigen Ankündigungstext aus, über ein mechanistisches Hintereinander - erst Theorie, dann Praxis - dann schaun mer mal - nicht hinauskommt. Dies wiederum ist jedoch der Tod jeder revolutionär-antikapitalistischen Organisation. Wobei zu bemerken ist, dass die GAM ihrem eigenen Selbstverständnis nach theoretisch ausreichend munitioniert ist, um eine kollektive revolutionäre Praxis zu betreiben, so dass sie in der NaO wenig Interesse an theoretischer Grundlagenarbeit zeigte, sondern hier nur nach neuen GAM-Mitglieder fischte.

Diese Malaisse wird allerdings auch nicht dadurch aus der Welt geschafft, indem man die Teilnahme an den Klassenkämpfen auf später verschiebt, wie es Detlef Georgia Schulze in ihrem jüngsten GAM-Kritikpapier erneut entwickelt; nämlich indem die selbernannten (subjektiven) NaO-Revolutionär*innen die Widersprüche zwischen ihren persönlichen Weltsichten über einen langen theoretischen Annäherungsprozess durch Übereinkunft einebnen und sich dafür einer kollektiv-organisierten Praxis (weitgehend) enthalten.

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Das Theorie-Praxis-Verhältnis richtig zu handhaben ist generell ein Grundproblem politischer Organisierung und macht auch nicht vor "Einpunkt"-Interessenorganisationen wie der Berliner Mietergemeinschaft halt. Nur in solchen Zusammenhängen liegt die Schwerlast auf der Praxisseite. Theoretische Notwendigkeiten werden ausgeblendet, so jedenfalls der Eindruck vom derzeitigen Zustand der BMG, die z.Z. nach Ansicht von Karl-Heinz Schubert eine "Sinnkrise" durchmacht. Zur Illustration dieser BMG-Sinnkrise dokumentieren wir ein Kritikpapier an der BMG aus dem Kreis derer, die zur Zeit die BMG in Rechtstreitigkeiten verwickelt haben. Karl-Heinz Schubert  empfiehlt zur Überwindung  der Krise anstelle eines Rechtsstreits den "schwierigen Zusammenhang  - Arbeit am Programm und Schulung - zusammen mit den aktiven Mitgliedern zu meistern."

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In der Nr. 10/2016 erschien der Artikel "Linke und Volk" von Detlef Georgia Schulze. Die Redaktion hoffte auf Stellungnahmen. Bisher liegen uns leider keine vor. Dem Vernehmen nach soll es im Arbeitskreis Kapitalismus aufheben (AKKA) anläßlich des "Linke&Volk"- Artikels zu einer Beschäftigung mit dem "Volksbegriff" gekommen sein. Vielleicht kommen demnächst von dort Stellungnahmen? In dieser Ausgabe wollen wir mit zwei weiteren Texten die Diskussion versuchen in Schwung zu bringen: Der "marxistisch-leninistische" Volksbegriff und Wer ist das Volk? Anregungen zum Nachdenken von Wal Buchenberg.

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Am 31.10. 2016 wurden mit einem Festgottesdienst sowie einem Staatsakt  die Feierlichkeiten zum 500. „Reformationsjubiläum” in Berlin eröffnet. Bundespräsident Gauck bezeichnete  Luthers Thesen als "Initialzündung", womit durch Reformation, Aufklärung und Religionskritik das Christentum in der Moderne angekommen sei. Hier liegen uns allerdings gänzlich andere Einschätzungen vor, die wir unseren Leser*innen nicht vorenthalten wollen. Die liefert Franz Mehring in seinen Schriften zur deutschen Geschichte. Für ihn ist Martin Luther ein bewußter Vorkämpfer der Fürstendespotie.

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Bei linksunten.indymedia.org erschien am 29.10.2016 Aufstand und Produktion von Angry Workers. Sie bezeichnen ihren Text, der einer klassenanalytischen Voruntersuchung ähnelt, wie sie in den früher 1970er Jahren von maoistischen K-Gruppen zum Einsatz kam, als ein faktenhaltiges Gedankenspiel für die Debatte über Aufstandsstrategien der Arbeiter_innenklasse. Wir denken, es ist an der Zeit sich wieder strategisch nach vorn zu orientieren als sich weiterhin die Wunden der Vergangenheit zu lecken. Obgleich es auch in der Vergangenheit Botschaften gab, die ihre Gültigkeit bis heute nicht verloren haben. Daher für alle ins Stammbuch geschrieben, die weiterhin  mit dem Kapitalismus historisch im Kreis laufen wollen, ein Gedicht zur Mahnung:

Ich höre, dass in New York
An der Ecke der 26. Straße und des Broadway
Während der Wintermonate jeden Abend ein Mann steht
Und den Obdachlosen, die sich ansammeln
Durch Bitten an Vorübergehende ein Nachtlager verschafft.

Die Welt wird dadurch nicht anders
Die Beziehungen zwischen den Menschen bessern sich nicht
Das Zeitalter der Ausbeutung wird dadurch nicht verkürzt
Aber einige Männer haben ein Nachtlager
Der Wind wird von ihnen eine Nacht lang abgehalten
Der ihnen zugedachte Schnee fällt auf die Straße.

Leg das Buch nicht nieder, der du das liesest, Mensch.

Einige Menschen haben ein Nachtlager
Der Wind wird von ihnen eine Nacht lang abgehalten
Der ihnen zugedachte Schnee fällt auf die Straße
Aber die Welt wird dadurch nicht anders
Die Beziehungen zwischen den Menschen bessern sich dadurch nicht
Das Zeitalter der Ausbeutung wird dadurch nicht verkürzt.


Bertolt Brecht / 1930

*) In der TREND-Nr. 6/2011 gab es bereits ein Editorial, das sich dem Verhältnis von Theorie und Praxis widmete. Hier ging um die Initiative der SiB, aus der dann das NaO-Projekt und die gleichnamige Organisation erwuchsen.