Stadtumbau & Stadtteilkämpfe

Unsere Geschichte
Die Anfänge der Mieter*innenbewegung im Märkischen Viertel (Berlin)

Leseauszüge aus: "Wohnste sozial haste die Qual"

10/2018

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1968 organisierten wir - eine Gruppe oppositioneller Studenten/Assistenten - an der Technischen Universität Berlin eine Protestausstellung, «Diagnose zum Bauen in West-Berlin», gegen die offiziellen Berliner Fest-Bauwochen. Einige der Initiatoren kamen aus der Studentenbewegung.

Ich wollte Aussagen über die «Neue Architektursituation» dokumentieren und ging im Märkischen Viertel im «Langen Jammer»(1) tagelang mit dem Tonband von Tür zu Tür. Ich selbst kam aus relativ gesicherter materieller Situation und war ahnungslos über den Druck der existenziellen Not dort: untragbare Mieten, mühsamer Kleinkampf mit den Behörden,
Sozial-Kontrolle durch «Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften» und Familienfürsorge.

Ich(2) war betroffen von der gegenseitigen Diskriminierung, der offenen und verdeckten Aggression der Bewohner gegen den nächsten Nachbarn, jeder in der Not der aufgezwungenen Isolation ....

Für die «Diagnose» stellten wir (Gruppe «Sozialpsychologie und Politik»; M. Hellgardt, J. Holtfreter, H. Moldenhauer, A. und H. Reidemeister) Aussagen von Erbauern und Betroffenen gegenüber und projizierten sie zusammen mit Fotos in einem rohbauleeren Hörsaal der Technischen Universität ....

Erstes Hearing der MV-Betroffenen mit den Verantwortlichen 1968

Im MV steckten einige von uns in einer Nacht 5.000 Flugblätter in die Briefkästen, Aufruf zu einem Hearing mit den Planern, Architekten, Wohnungsbau-Vertretern. Auf Senatskosten mieteten wir einen Doppeldecker-Bus, Märkisches Viertel - Technische Universität und zurück. Wir dachten, daß 200 Bewohner kommen würden. Als dann 20 Bewohner an der Bus-Station standen, waren wir enttäuscht. Die Bedeutung, daß trotz der Studentenhetze der Springer-Zeitungen Arbeiterfamilien auf ein so anonymes Flugblatt hin in die Universität kamen und dort auch den Mund aufmachten - u. a. auch Familie Schwester -, ging mir erst später auf. Vor allen Dingen durch die heftigen Angriffe der Frauen aus dem MV wurden die verantwortlichen Erbauer schnell in eine Verteidigungsposition gedrängt. Sie versuchten ziemlich hilflos eine dumme oder zynische Rechtfertigung nach der anderen ....

Erste Protestversammlung der Bewohner 1968

Im Juli 1968 war die erste Protestversammlung der Bewohner in der 26. Grundschule im Märkischen Viertel. Stadtrat, Bezirksbürgermeister und Wohnungsbauvertreter sollten Auskunft geben über die unübersehbaren Mißstände bei den nicht einmal folgenden, sogenannten «Wohnfolge-Einrichtungen» (Kindergärten und Krippen, Schulen, Jugendheime, Spiel- und Sportplätze usw.). Die 300 bis 400 MV-Bewohner drängten sich in einer viel zu kleinen Turnhalle. Es war wahrscheinlich eine der ersten nicht-studentischen Protestversammlungen, auch wenn sie von der linken Gesamtbewegung in Berlin beeinflußt war. Trotz ziemlicher Unruhe kamen die Volksvertreter - manche von ihnen sind gleichzeitig auch GeSoBau-Aufsichtsräte - noch davon, durch ihre geübte Beschwichtigungstaktik, Ausflüchte und platten Lügen. Spätestens bei dieser Versammlung hätte die Bereitschaft der MV-Bewohner, sich gegen die herrschenden (Wohn-)Verhältnisse aufzulehnen, erkannt werden müssen.

Wissenschaftsbetrieb an der Universität und seine Reaktion auf das MV

Innerhalb des Wissenschaftbetriebs der Berliner Universitäten wurden die notwendigen Konsequenzen aus den Erfahrungen mit den Bewohnern nicht gezogen. Dies war eine empfindliche Schwächung der Stadtteilarbeit in den letzten Jahren. Vorschläge und Ansätze, die schon 1967 innerhalb der «G-gen-Universität»(3) entwickelt wurden, blieben ohne Resonanz. Was die «Diagnose» über die MV-Zustände angerissen hatte, hätte ausgereicht zur Entwicklung von Seminaren, in denen praktische Arbeit im Viertel verbun­den ist mit Forschung und Ausbildung. Das MV wurde als typische Wohn­form kapitalistischen Städtebaus von einigen linken Studenten und Assi­stenten zwar wahrgenommen und Teilaspekte wurden untersucht. Diese Analysen wurden aber nur innerhalb der Universität als Diplomarbeiten um­gesetzt, verwertet und erreichten nie die betroffenen Bewohner selbst. Der Anspruch, materialistische Gesellschaftsanalyse zu betreiben und nur Theorien, Informationen, Fakten anzuhäufen, bleibt solange linke Luxushaltung, als die unmittelbar Betroffenen nicht dadurch einen anwendbaren Gebrauchswert in die Hände bekommen. Auf das MV bezogen, heißt das: verständlich gemachtes Informationsmaterial für Aufklärungsaktionen, Hil­festellung zur Abwehr von Drangsalierung durch Institutionen.

Es fehlten und fehlen heute noch Informationsmaterialien über:

1) Hintergründe der EntScheidungsprozesse von Wohnungsbaugesellschaften, Senat, SPD, und deren Verfilzung untereinander;
2) Entstehung von Mietpreisbildung, Umlagekosten, Wohngeld, «Befriedungs-Gelder»(4)
3) psychische Verelendung

Diese Theorie- und Informationslosigkeit, die mangelnde Verbindung von Universität und Stadtteil, hat die politische Entwicklung im MV schwach gelassen.(5) Der zunehmende «Durchblick» der MV-Betroffenen entsprach einem mangelnden «Durchblick» an den Universitäten, das heißt einer man­gelnden Bereitschaft, wissenschaftliche Arbeit mit politischer Praxis zu ver­binden.

Einige der «Diagnose»-Mitarbeiter verloren als Assistenten nach Schluß der Protestausstellung ihren Posten an der TU. Andere hatten versucht, sich noch schnell ein progressives Feigenblatt anzustecken, bevor sie sich in die Universitätsmühle oder in Stadtplanungs-Mammutbüros existenzgesichert abseilten. Kultursenator Steins große Befriedungswelle fing gerade an, sich über Berlins Universitäten auszubreiten: Mit 1500-2000 Mark Assistentenge­halt monatlich, inklusive Aufstiegschancen, gelang es allein bis 1970 unge­fähr 800-1000 linke Oppositionelle als Assistenten an der Freien und Techni­schen Universität und der Pädagogischen Hochschule einzukaufen, zu be­frieden, still zu machen.

Wer etwas zu verlieren hat, hat keine Lust, was zu riskieren!

Der Miterbauer des «Langen Jammers», auch Teilnehmer an der Protestausstellung, nahm aus den Händen von Berlins Regierendem Bürgermeister Schütz 7000 Mark, Berliner Kunstpreis für die «Lange Jammer»-Fassade, entgegen und spendete sie der Befreiungsfront des Vietkong.

Wie soll man das einschätzen?

Anmerkungen

1) Der «Lange Jammer» war 1968 das längste Haus Europas mit 700 m Länge und 977 Wohneinheiten für 2.800 Bewohner.
2) Heide Reidemeister
3)Versuch der Studentenbewegung, an den Berliner Universitäten Alternativ-Seminare aufzubauen.
4) Nach internen Angaben 1974 mindestens 250.000 DM Mietschuldenübernahme durch den Senat.
5) Eine Ausnahme stellt die «MV-Studie» der Pädagogischen Hochschule Berlin dar.

Quelle: Johannes Beck, Heiner Boehnke, Gerhard Vinnai, Wohnste sozial haste die Qual, Reinbek 1975

Siehe dazu auch den Spiegel-Artikel "Slums verschoben".

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