Kapitalistischer Stadtumbau & Stadtteilkämpfe

Aus der Geschichte der Stadtteilkämpfe:
Märkisches Viertel Westberlin 1972: Konzept für Mieterräte

Ein Entwurf der Mieterschutzbundes MV e.V.

11-2012

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I. Rechte und Pflichten der Mieterräte

1 . Die Mieterräte vertreten die Interessen der Mieter.
2 . Die Mieterräte sollen den Mietern die Organisation der Wohnungsbaugesellschaften durchsichtig und verständlich machen.
3. Die Mieterräte erhalten im Interesse der Mieter von den Wohnungsbaugesellschaften Geschäftslegung und Auskunft.
4. Die Mieterräte sind bei Auseinandersetzungen zwischen Mietern und Vermietern durch den Vermieter einzuschalten.
5. Die Mieterräte erhalten von den Vermietern rechtzeitig Information in allen Fragen, die die Interessen der
Mieter berühren.
6. Die Mieterräte verpflichten sich, Verbesserungsvorschläge, Anregungen und Empfehlungen der Mieter dem Vermieter
Anregungen und Empfehlungen zu unterbreiten.
7. Die Mieterräte verpflichten sich, den Mietern regelmäßig über ihre Arbeit Bericht zu erstatten.
8. Die Mieterräte übernehmen weder wirtschaftliche Verantwortung noch Weisungsbefugnis.
9. Die Tätigkeit der Mieterräte ist ehrenamtlich. Der Vermieter erstattet den Mieterräten Auslagen, die im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit stehen. Diese Kosten dürfen nicht Eingang in die Kalkulation zur Ermittlung des Mietpreises finden.
10. Die Mieterräte erhalten geeignete Räumlichkeiten, die im direkten Einzugsbereich ihres Wirkungskreises vorhanden sind, zu ihrer ausschließlichen Verfügung .
11. Die Mieterräte geben sich eine Geschäftsordnung.

II. Richtlinien zur Wahl der Mieterräte

1. In jedem Hausaufgang werden von den Mietern pro angefangene 25 Mietparteien je ein Vertreter als Vertrauensleute gewählt.
2. Die Vertrauensleute wählen aus ihrer Mitte pro angefangene 100 Vertrauensleute je 1 Vertreter in den Mieterrat.
3. Der Tätigkeitsbereich eines Mieterrates soll die Gebäude einer Wohnungsbaugesellschaft (z.B. DeBauSie), eine Wirtschaftseinheit oder einen Bauabschnitt umfassen.

Editorische Hinweise

Das Dokument wurde entnommen aus: autorengruppe "märkische viertel zeitung": Stadtteilzeitung, Reinbeck 1974, S. 245 . Die MVZ erschien zwischen 1969 und 1973 monatlich mit einer Auflage von 3000 Exemplaren. Sie wurde von Studenten der Pädagogischen Hochschule Berlin initiiert, die im Rahmen ihrer sogenannten Theorie-Praxis-Seminare unter dem Label "Handlungsforschung" in das neu entstehende Wohnviertel am Nordberliner Stadtrand 1969 politisch intervenierten.

Am 2.11.1970 erschien im Spiegel ein voyeuristischer Bericht über die Wohn- und Lebensdingungen im MV, Menschen im Experiment : Das Märkische Viertel und seine Bewohner.

Der Mieterschutzbund MV e.V. wurde 1971 von 10 Sozialdemokraten gegründet, die eine parteiunabhängige Mieterorganisation schaffen wollten, die eine direkte Verankerung an der Basis, in dem dem MV, haben sollte. In kurzer Zeit wuchs der Mitgliedschaft auf rund 300 an. Innerhalb des MSB MV kam es bald zu den damals üblichen Linienkämpfen zwischen den Sozialdemokraten, dern SEWlern, sowie der KPD/AO und der KPD/ML. Der MSB MV galt infolgedessen als SEW-dominiert. Wann der MSB seine Arbeit eingestellt hat, dazu liegen der Redaktion keine Information vor. / red. trend

Die Position des Fachbereichs Sozialpädagogik der Pädagogischen Hochschule Berlin

Die Hochschullehrer der Pädagogischen Hochschule Berlin, die im Jahre 1969 zusammen mit Studenten Projekte im Märkischen Viertel Berlin organisierten, hatten eine dreifache Absicht:

  • Ihnen ging es darum, in der Hauptstudienphase von Diplomstudenten längerfristige Projekte von ein- bis zweijähriger Dauer zu organisieren, die es den Studenten ermöglichen sollten, praktische Erfahrungen in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern innerhalb und außerhalb sozialer Institutionen zu sammeln, dabei die allgemeinen gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnisse ihres Grundstudiums zu konkretisieren und ihre Bündnisfähigkeit mit Teilen der arbeitenden Bevölkerung zu erproben;
  • im Rahmen eines von der Stiftung Volkswagenwerk geförderten Forschungsprojektes herauszufinden, ob und mit welchen Methoden es möglich sei, die auf Selbsthilfe gerichteten Kommunikationsstrukturen alter Arbeiterquartiere in überwiegend proletarischen Neubauvierteln zu rekonstruieren, und welchen Beitrag dazu eine Viertel-Zei-tung leisten könne, die längerfristig gesehen von den Bürgern dieses Viertels selbst gemacht wird und die ihnen helfen soll, sich um Wohn-und Mietprobleme zu organisieren und dabei die Analyse und Lösung ihrer Probleme selbst in die Hand zu nehmen;
  • - damit einen politischen Beitrag zur Beantwortung der Frage zu leisten, wie Angehörige der pädagogischen Intelligenz helfen können, den Handlungsspielraum der Werktätigen im Viertel zu erweitern, mit dem Ziel, einsichtig zu machen, daß der Wohn- und Mietbereich Teil der kapitalistischen Ausbeutung ist.

Diese drei Interessen (das Ausbildungsinteresse, das Forschungsinteresse und das politische Interesse) waren selbstverständlich eng miteinander verbunden und beeinflußten sich wechselseitig. Die Richtung des politischen Interesses veränderte sich im Laufe der fünfjährigen Arbeit auf Grund der laufenden politischen Diskussionen über Möglichkeiten und Grenzen der Arbeit im Wohn- und Mietbereich und auf Grund der Erfahrungen im Märkischen Viertel selbst. Diese Richtungsänderung kann man wahrscheinlich am besten an der wechselnden Definition der Zielgruppe für eine Viertel-Zeitung ablesen. Ursprünglich erklärten wir «alle Bürger des MV» zur Zielgruppe für unsere Zeitung; in der zweiten Phase der Arbeit waren es «alle Arbeiter», deren Interesse und Aktivitäten durch die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Mitglieder der verschiedenen Initiativgruppen im Viertel verfälscht und behindert würden; in der letzten Phase der Arbeit waren es schließlich «alle Arbeiter, Angestellten und Teile der Intelligenz, für die der Wohn- und Mietbereich Teil der kapitalistischen Ausbeutung ist».  aus: autorengruppe "märkische viertel zeitung": Stadtteilzeitung, Reinbeck 1974, S. 46f