Stadtumbau & Stadtteilkämpfe

Der Protestkorso
MV-MieterInnen gegen Mietpreistreiberei am 30.9.1972

Bericht & Fotos aus der MVZ

09-2013

trend
onlinezeitung

Es ist Samstagvormittag,der 30.9.72. Am Wilhelmsruher Damm/Ecke Treuenbrietzner Staße herrscht reges Leben und Treiben. Eine lange Autoschlange steht da und man ist eifrig bei der Sache mitgebrachte Transparente, bemalt mit unseren bekannten und vorher abgestimmten Forderungen und Parolen anzubringen. Der geplante Autokorso ist Höhepunkt der berechtigten Empörung der MV-Bewohner über erhöhte Nachforderungen von Heizungskosten und über die letzte Mieterhöhung .Vorausgegangen waren viele bekannte Aktivitäten der MV-Bürger zusammen mit dem Mieterschutzbund, der lange Zeit vergeblich versuchte, mit den zuständigen Stellen (Wohnungsbaugesellschaften und Senat) ins Gespräch zu kommen. An dieser Stelle wäre es vielleicht angebracht,den Leuten eine sportliche Anerkennung auszusprechen, die in mühsamer Kleinarbeit bei den umfangreichen Vorbereitungen halfen und eine Menge Freizeit opferten.

Inzwischen läuft alles auf Hochtouren. Es kommen ständig neue Autos hinzu. Mitfahrer helfen, die Tranparente anzubringen.Eine angespannte Erwartung ist zu spüren, als gegen 11 Uhr die Polizei anrückt, Es ist ein ziemlich  großes Aufgebot von Motorrädern und Wagen. Die Polizisten fangen an, den Verkehr zu ordnen, aber man hat auch das dumpfe Gefühl, daß sie gleich damit beginnen, jedes Auto zu kontrollieren, um vielleicht die Wagenkolonne etwas zu reduzieren. Inzwischen hat man sich formiert. Per Megapfon wird, noch schnell durchgegeben,in welchen Autos noch freie Plätze sind und wie der Kurs ist. Letzteres geht leider im allgemeinen Tohuwabohu etwas unter. Nach dem Zeichen zum Aufbruch setzt sich der Korso in Bewegung. Voran ein Polizeiwagen,dann folgt ein Lautsprecherwagen und es geht los im 20km-Ternpo. Zuerst geht die Fahrt durch das MV. Irgendeiner fängt an zu hupen, und im Nu pflanzt sich das Hupkonzert fort. Man spürt mit einem Male die große Solidarität einer Gemeinschaft, die bereit ist, für ihre und die Sache ihrer Mitbewohner zu streiten, sich offen zu bekennen. Hinter vielen Fenstern wird es lebendig. Man läuft auf die Straße und schaut, aber es gibt auch viele, die so tun, als ginge sie das alles nichts an. Inzwischen haben sich noch einige Wagen angeschlossen und wir sind jetzt bestimmt ein beachtlicher Zug (wie sich später herausstellte waren es 153 Wagen, alle sehr gut besetzt). Mittlerweile sind wir im Wedding und immer noch hupen viele ab und zu trotz drohender Gebärden der Polizisten. Einer steht sogar später da und gibt sämtliche Autonummern per Funk weiter. Die Reaktion der Passanten auf unser Autokorso ist sehr verschieden. Einige zeigen Sympathie. Einzelne ältere Leute, wahrscheinlich mehr durch unser Hupkonzert aufgeschreckt, deuten sich an die Stirn. Die Mehrheit der Passanten ist zwar aufmerksam geworden, zeigt jedoch keine erkennbare Reaktion. Nach dem Willen der Polizei werden wir durch möglichst verkehrsarme Straßen geleitet bis hin zum Schöneberger Rathaus, vor dem man unsren Forderungen pfonetisch Nachdruck verleiht: Mitpreisstop, Rücknahme der erhöhten Heizungkostennachforderung, Anerkennung von Mieterräten!

Das Schöneberger Rathaus ist durch Sperrgitter abgeschirmt. Wir werden von noch mehr Polizisten umringt. Vorsitzender des Mieterschutzbundes e.V. Horst Buckbesch überreicht einen offenen  Brief an Senatsdirektor ud Pressesprecher  des Senats Ziegler. In ironischen Ton gratuliert er zu Innensenator Neubauers Geburtstag. Im Rathaus findet nämlich gerade aus diesem Grunde eine Feier statt. Während drinnen mit Sekt angestoßen wird, man dem Senator Neubauer einen silbernen Helm überreicht und feuchtfröhliche Reden hält, stehen wir, die Mieter aus dem MV draußen und müssen feststellen, daß sich für unsere Sorgen und Nöte keiner interessiert.

Jetzt erscheint auf der Szene ein Passant, der ein kleines Kind bei sich hat. Aufgrund eines unserer Transparente mit der Forderung nach Mieterräten (die demokratische Mitbestimmung genauso praktizieren sollen wie z.B .Betriebsräte) geht dieser in die Luft und beginnt wild und voller Maß zu schimpfen. Zu nächst nimmt keiner ihn ernst, jedoch er wird immer ausfälliger, wir hören ihn "Kommunistenschweine" und ähnliches am laufenden Band schreien. Man versucht den Typ zu beruhigen, aber umsonst. Es fehlt nicht viel und der Kerl bekommt.... (hier bricht der Text ab - red. trend)

Editorische Hinweise
Text und Fotos stammen aus:
autorengruppe "märkische viertel zeitung": Stadtteilzeitung, Reinbeck 1974 und Jetzt reden wir" Betroffene des Märkischen Viertels, hrg. von Johannes Beck u.a., Reinbek 1975, wo die Nr. 6/1972 der MVZ in Auszügen nachgedruckt wurde.

MVZ = Märkische Viertelzeitung.