Kapitalistischer Stadtumbau & Stadtteilkämpfe
Mietpreisstopp und Senkung der Betriebskosten
Mietkampf im Märkischen Viertel in Westberlin 1972/73

AutorInnengruppe "märkisches viertel zeitung"

04-2013

trend
onlinezeitung

Im Herbst 1972 kam es zu großen Protestaktionen der Mieter gegen die Mietpreiserhöhungen und gegen die Nachzahlungsforderungen der Heizkosten. Zu diesem Anlaß rief der MSB (Mieterschutzbund) zu einer Mieterversammlung auf, auf der fünfhundert Viertelbewohner erschienen. Die anwesenden Senatsvertreter wurden aufgefordert, konkrete Schritte einzuleiten beziehungsweise zu unterstützen: Der Mietpreis sollte sofort gestoppt werden, die Heizungs- und Warmwasserkosten sollten für jeden tragbar gemacht werden. Außerdem wurde gefordert, daß die Mietpreisbildung durch die Mieter selbst kontrolliert wird und die von den Mietern gewählten Mietervertretungen von den Wohnungsbaugesellschaften als Verhandlungspartner anerkannt werden. In bekannter Weise reagierten die Senats- und Parteienvertreter. Sie versuchten abzuwiegeln und gingen nicht auf die konkreter! Forderungen ein.
 

Zur Bekräftigung dieser Forderungen bekundeten die Mieter ihren gemeinsamen Protest, indem ungefähr dreitausend MV-Bewohner einige Tage lang Handtücher und Bettlaken aus ihren Fenstern hängten. Diese Aktion wurde durch Filmvorführungen im Einkaufszentrum des MV und vor den Häuserblöcken unterstützt. In diesen Filmen, die zuvor im MV gedreht wurden, äußerten sich die MV-Bewohner unter anderem zu den Nachzahlungsforderungen der Heizkosten und den Mieterhöhungen. Die Wohnungsbaugesellschaften und der Bezirksbürgermeister reagierten repressiv. Die Bettlakenaktion wurde als Bruch des Mietvertrags erklärt, die Bewohner wurden bespitzelt, Mieterdelegationen abgewiesen und die Info-Stände mit dem Hinweis auf das Eigentumsrecht am Gelände verboten.

Ihren entscheidenden Ausdruck fanden die Proteste in einem Autokorso om Märkischen Viertel zum Rathaus Schöneberg. Dort überreichte ein Vertreter des MSB in einem Schreiben die Forderungen der Mieter an den Senatsdirektor. Die Vertreter des Senats ignorierten diese Forderun- ebenso wie die über hundertfünfzig Autos aus dem MV. Während die Mieter etwas ratlos vor dem Schöneberger Rathaus standen, preschte der Bürgermeister von Reinickendorf (also des Viertels, in dem das MV liegt) in seinem Mercedes davon, ohne die Mieter zu beachten.

Die ganze Kampagne, die gut angelaufen war und die von den MV-Bewohnern positiv aufgenommen worden ist, schlug nun bei großen Teilen der Teilnehmer der Protestaktion in Resignation um. Dies lag sowohl daran, daß keine kurzfristigen Erfolge erzielt worden sind, als auch daran, daß der MSB, der zu diesem Zeitpunkt von SPD-Mitgliedern beeinflußt war, keine zu starke Konfrontation mit der Senatsbürokratie riskieren wollte. So gratulierte der Vorstand des MSB - auf dem Höhepunkt der Protestaktion vor dem Rathaus Schöneberg - bei der Übergabe der Forderungen dem Innensenator zu seinem Geburtstag, anstatt kom-promißlos den Mieterinteressen Nachdruck zu verleihen.

In der folgenden Zeit konzentrierten sich die Aktivitäten des MSB nicht mehr auf die Konfrontation mit der Senatsbürokratie, sondern er begann auf lange Sicht hin den Aufbau von Mieterräten zu initiieren.

Die MVZ (Märkische Viertel Zeitung) war nicht nur ein Öffentlichkeitsorgan dieser Mieterproteste, sondern ihre Mitglieder trugen selbst zur Vorbereitung und Ausführung der oben geschilderten Aktionen bei. Dies schon deshalb, weil einige Mitglieder der MVZ im MSB mitwirkten beziehungsweise ein Filmemacher gleichzeitig Mitglied der Redaktion war.

Durch diese Vorgänge rückte die Mietproblematik, das heißt die Organisierung der Mieter in Mieterversammlungen, der Aufbau von Mieterratsorganisationen und die ständige Berichterstattung über Mieterhöhungen, Mietstreiks usw. in den Mittelpunkt unserer politischen Arbeit.

Um diese neue Aufgabenstellung zu bewältigen, hielten wir eine Erweiterung der Redaktion für erforderlich. Da wir im MV kurzfristig keine neuen Mitarbeiter gewinnen konnten, traten wir mit der Bitte, einige Studenten ausfindig zu machen, an die PH heran. Dabei sollten die Studenten nicht - wie wir es früher schon erlebt hatten - das große Wort führen und uns ihre studentische Politik aufdrängen, sondern uns bei den technisch-organisatorischen Aufgaben zuverlässig unterstützen. Daraufhin fanden sich drei Studenten, die außerhalb des universitären Bereichs ein Tätigkeitsfeld finden, es kennenlernen und diese Kenntnis benutzen wollten, um Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten.

Wir nahmen von nun an kontinuierlich die Politik der Wohnungsbaugesellschaften und des Senats im Mietbereich und die Aktivitäten des MSB in unsere Berichterstattung auf.

Einen Entwurf des MSB für eine Konzeption der Mieterräte veröffentlichten wir in der MVZ. Dieser sollte eine Alternative zu der schon praktizierten Form der «Mieterbeiräte» - die den Mietern keine Kontrolle zugesteht - einer Wohnungsbaugesellschaft (DeBauSie) darstellen.

Da der MSB als einzige Organisation im MV eine Mietermobilisierung versprach, stellten wir seine Politik in der MVZ zur Diskussion. Auch arbeiteten einige unserer Redaktionsmitglieder im MSB mit, um dort unsere basisdemokratischen Vorstellungen einzubringen. Diese Ausrichtung schien uns notwendig, weil sich beim MSB zu dieser Zeit einige politische und personelle Veränderungen abzeichneten.

War der MSB bis Januar 1973 wesentlich von SPD-Mitgliedern bestimmt, so ergaben sich durch Vorstandswahlen neue Kräfteverhältnisse; einige SEW-Mitglieder kamen in den Vorstand, die SPD reagierte darauf mit Rückzug aus dem MSB und gründete einen Gegenverein, den «Mieterverein».

Obwohl bei uns gegen die Theorie und Praxis der SEW mehr oder weniger große Vorbehalte bestanden, einigten wir uns darauf, weiterhin im MSB mitzuwirken. Wir wollten jedoch in Zukunft die Zusammenarbeit mit dem MSB beziehungsweise der SEW von der jeweiligen konkreten Situation abhängig machen.

Die Debatten um die Politik der SEW standen von nun an bei uns in fast jeder Redaktionssitzung auf der Tagesordnung. Zu einer endgültigen Einschätzung der SEW, das heißt unseres politischen Verhältnisses ihr gegenüber, gelangten wir aber nicht. Manche sprachen sich heftig gegen diese Partei aus, besonders ein Redaktionsmitglied mit negativen Erfahrungen aus seiner früheren Arbeit in der DDR. Der größte Teil von uns war der Auffassung, daß man auf die SEW als Bündnispartner nicht verzichten könne und daß der MSB im MV die einzige politische Kraft sei, die die Interessen der Mieter unterstütze. Die Zusammenarbeit mit dem MSB dauerte praktisch die ganze letzte Phase der MVZ an, da wir in dieser Zeit die Zeitung fast ausschließlich auf die Mietproblematik abstellten. Dies war eine Strategie, die in eine Sackgasse laufen sollte.

Obwohl die geschilderten Mieterproteste große Bevölkerungsteile mobilisiert hatten und es schien, als könne dadurch ein Durchbruch für eine neue Bewegung im MV geleistet werden, wirkten sich hauptsächlich folgende drei Momente gegen längerfristige Erfolge der Mieteraktionen aus:

  • die Befriedungsstrategie der Senatsbürokratie und der Wohnungsbaugesellschaften,
  • die mangelnde Organisationsfähigkeit der Mieter,
  • die Verselbständigung der zunehmend unter den Einfluß von Parteipolitik geratenen Mieterorganisationen.

Durch die Vertröstungsstrategie des Senats und die Taktik der Wohnungsbaugesellschaften, die Mieten nicht mehr halbjährlich, sondern in kürzeren Abständen - und dann in geringeren Beträgen - zu erhöhen, wurde der Bewegung die Spitze abgebrochen. Die Bewohner, die glaubten, durch die Aktionen ihre Forderungen durchsetzen zu können, sagten nun, es lohne sich doch nicht, für seine Rechte zu kämpfen. Sie sahen zwar, daß sie auf den von ihnen gewählten Senat nicht rechnen konnten, waren aber nicht imstande, weitergehende kollektive Schritte gegen Senat und Wohnungsbaugesellschaften zu unternehmen. Vielmehr meinten sie, daß der MSB und die mit ihm verbundenen Gruppen ihre Interessen nicht wirksam vertreten könnten.

Die dadurch entstandene Ratlosigkeit wirkte zermürbend auf die Motivation und die Organisierungsfähigkeit in unserer Redaktion. Die Widersprüche in der Kommunikation der einzelnen Personen, die in der vorangegangenen Phase verdeckt geblieben waren, kamen nun zum Vorschein. So sollte die neue MVZ unmittelbar im Anschluß an die Protestaktionen herauskommen, um so aktuell über die vergangenen Ereignisse zu berichten. Außerdem sollte der kurzfristigen Mobilisierung das Konzept des langfristigen Aufbaus von Mieterräten gegenübergestellt werden. Jedoch wurden die Termine, zu denen die Artikel geschrieben sein sollten, immer wieder herausgeschoben. Dies lag zum größten Teil an der Arbeitsüberlastung der meisten Redaktionsmitglieder, die ja in verschiedenen Gruppen im MV arbeiteten. Wir standen vor folgender Schwierigkeit: War im Viertel was los, waren wir meist daran beteiligt und waren zeitlich so in Anspruch genommen, daß wir vielfach erst hinterher - wenn wieder Ruhe in die politische Landschaft des MV kam - darüber berichten konnten. Dies lag auch an dem zu kleinen Mitarbeiterstamm in der Zeitung und an unserer Unfähigkeit, neue an der Mitarbeit interessierte MV-Bewohner in die Arbeit zu integrieren.

Damals wurden Hausbesuche im MV bei Vertrauensleuten gemacht. Diese Vertrauensleute hatten sich, durch die Mieterproteste aktiviert, bereit erklärt, den Aufbau der Mieterräte mit zu tragen. Es war daran gedacht, in allen Blocks im MV ein Netz von Vertrauensleuten zu haben, die später Hausversammlungen einberufen sollten, auf denen dann die Mieterräte gewählt werden konnten. Die Mieterräte sollten - weder auf Vereinsebene delegiert noch von den Wohnungsbaugesellschaften vorgeschlagen - von den Mietern im Haus selbst gewählt werden. Zu den Hausbesuchen mußte eine Mieterversammlung vorbereitet werden, es wurden Musterprozesse gegen die Wohnungsbaugesellschaften geführt. Die <Mieterinitiative>, die von einigen SPD-Sympathisanten aus dem MV angeleitet wurde, mobilisierte ein Haus und plante einen Mietstreik. Dazu kam in dieser Zeit ein Koordinationsversuch der parteilich nicht organisierten Berliner Stadtteilgruppen, mit dem man versuchte, die Aktionen zu vereinheitlichen, ein Informationsbüro in der Stadt sowie die genossenschaftliche Nutzung von Druckmaschinen einzurichten. Gleichzeitig wollte die Filmergruppe aus dem MV über die MVZ einen Film drehen, um über diesen Film neue Leute aus dem Viertel für unsere Arbeit zu gewinnen und unsere Arbeit auch für andere Gruppen in der BRD und in West-Berlin, die in ähnlicher Richtung arbeiten, bekannt zu machen.

 

Editorische Hinweise

Das Dokument wurde entnommen aus: autorengruppe "märkische viertel zeitung": Stadtteilzeitung, Reinbeck 1974, S. 245 . Die MVZ erschien zwischen 1969 und 1973 monatlich mit einer Auflage von 3000 Exemplaren. Sie wurde von Studenten der Pädagogischen Hochschule Berlin initiiert, die im Rahmen ihrer sogenannten Theorie-Praxis-Seminare unter dem Label "Handlungsforschung" in das neu entstehende Wohnviertel am Nordberliner Stadtrand 1969 politisch intervenierten.

Am 2.11.1970 erschien im Spiegel ein voyeuristischer Bericht über die Wohn- und Lebensdingungen im MV, Menschen im Experiment : Das Märkische Viertel und seine Bewohner.

Der Mieterschutzbund MV e.V. wurde 1971 von 10 Sozialdemokraten gegründet, die eine parteiunabhängige Mieterorganisation schaffen wollten, die eine direkte Verankerung an der Basis im MV haben sollte. In kurzer Zeit wuchs der Mitgliedschaft auf rund 300 an. Innerhalb des MSB kam es bald zu den damals üblichen Linienkämpfen zwischen den Sozialdemokraten, den SEWlern, sowie der KPD/AO und der KPD/ML. Der MSB galt infolgedessen als SEW-dominiert. Wann der MSB seine Arbeit eingestellt hat, dazu liegen der Redaktion keine Information vor. / red. trend