TREND-Thema: Stadtumbau

Perlemann geht in den Grunewald

von Kurt Kläber

10/10

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Gestern war Perlemann bei mir. Perlemann aus dem Wedding. Er kam zu mir und fragte mich, ob ich etwas Zeit hätte. Zeit hatte ich eigentlich nicht, aber was tut man nicht für Perlemann!
Perlemann ist nämlich einer von der alten Garde. Ein Dutzend Funktionen: Kassierer, Polleiter, Protokollführer, und es mußte schon etwas Besonderes sein, wenn er so mitten am Tage zu mir herauskam.
Ich sagte also Perlemann, daß ich Zeit hätte.
«Na, da können wir ja gleich gehen.»
«Wohin?»
«Einfach noch etwas weiter hinaus. Vielleicht in den Grunewald.» Ich wüßte ja da sicher Bescheid.

Ich weiß da genausowenig Bescheid wie Perlemann, aber Perlemann wollte es nicht glauben, und wenn Perlemann einmal eine Meinung hat, hat er eine Meinung. Ich mußte also trotzdem den Führer machen. Ich wollte noch wissen, was er im Grunewald vorhätte. Ich würde es schon sehen. Perlemann sagte nie gern, was er vorhat. Gut, soll er es auch diesmal für sich behalten.

Bisher zum Thema erschienen:

Siehe auch die Infopartisan-Linkseite:
Reaktionäres von "Rot-Rot"

Wir machten uns auf den Weg, stiegen in die S-Bahn ein, stiegen nach vier Stationen wieder aus und waren da. Es roch stark nach Wald, wo wir ausstiegen. Gelbe Kastanienbäume waren da. Ahorn. Etwas dunklere Farben von Tannen. Perlemann sagte: «Ganz gut. Genauso habe ich es mir gedacht!»

Dann gingen wir weiter.

Rechts war ein Haus, links war ein Haus. Schöne Häuser, große Häuser. Manchmal etwas versteckt. Manchmal etwas sichtbarer. Vor den Häusern waren breite Gärten. Vor den Gärten hohe Zäune. Auf den Zaunspitzen war Stacheldraht.

«Die Zäune müssen dann natürlich weg!» sagte Perlemann.
Ich sah ihn an: «Wann?»
«Na, dann.»

Ich verstand ihn nicht ganz, aber das schien ihm nichts auszumachen.

Es war ziemlich still. Ein Radfahrer fuhr vorbei. Es war ein Bäckerstift. Ein paar Mädchen brachten Milch in die Häuser. Ein kleiner Hund kläffte. Aber sonst war es still, beinahe beunruhigend still; Perlemann sagte: «Diese Ruhe, herrlich. Die werden sich freuen!»

Ich wollte wieder wissen, wer, aber Perlemann schien bereits vergessen zu haben, was er eben gesagt hatte. Außerdem interessierte ihn augenblicklich eines von den Häusern ganz besonders. Es war ziemlich langgestreckt, hatte einen breiten Aufbau. Um die erste Etage lief Art Balkon.

Er blieb stehen.

«Wie findest du das?» fragte er und sah sich einen Augenblick nach mir um.
Ich fand es nicht schlecht.
Es kam jemand aus der breiten Tür, ging über den Rasen und kam auf uns zu.
Es war ein kleiner Mann in einer filzigen Hausjacke. Die Beine steckten in genauso filzigen Stiefeln.

«Was suchen Sie hier?» sagte der Mann. Er hatte sich in der Nähe des Zaunes vor Perlemann aufgestellt.
Perlemann sagte: «Ach nichts. Wir kommen vom Wedding!»
Dem Mann blieb der Mund offen. «Vom Wedding, und was wollen Sie hier?»
«Ach», sagte Perlemann, «uns das alles einmal ansehen!»
«Ansehen?» sagte der Mann.

«Ja, wissen Sie, lange wird das ja nicht mehr so gehen, dann wird das hier alles sozialisiert. Sehen Sie, und wir brauchen zuallererst ein Haus, in das wir die Kinder stecken!»

Der Mann sperrte den Mund noch weiter auf, dann sah ich, wie er die Hände hob und sie zusammenballte: «Vom Wedding! Sozialisieren! Kinder in mein Haus! Sind Sie verrückt?»

Perlemann lächelte. «Nein», sagte er. «Aber sagen Sie mir doch, ob hinter dem Haus auch noch etwas Garten ist?»
Der Mann stemmte sich in die Höhe: «Einen Dreck werde ich Ihnen sagen!»
Perlemann: «Auch nicht, ob es unten sechs oder acht Zimmer sind? Wissen Sie, das wüßte ich zu gerne!»

Aber der Mann sagte im Augenblick überhaupt nichts mehr. Er hatte seine Fäuste bis über den Kopf gehoben, atmete schwer, so schwer, daß ich zuerst dachte, er würde irgendwo platzen, und dann schlug er mit den Fäusten gegen das Gitter.

«Ach», sagte Perlemann, «das ist schlimm. Wissen Sie, einen Menschen, der an Wutanfällen leidet, kann man nicht bei Kindern lassen. Sie werden also ganz aus dem Haus müssen, und ich dachte, die erste Zeit könnten Sie vielleicht die Heizung besorgen und so kleine Arbeiten machen!»

Aber jetzt war es ganz vorbei mit dem Mann in der Filzjacke.

«Sie, Sie . . . Den Hund werde ich auf Sie hetzen . . ., die Polizei werde ich rufen ...»

Aber wir waren schon weitergegangen. Perlemann wollte sich noch mehr ansehen.

Es kam nur leider nicht mehr dazu. Das Geschrei des Herrn in der Filzjacke hatte die ganze Straße mobilisiert. Ja, es war plötzlich so laut geworden, als wäre irgendwo ein Brand ausgebrochen.

Alles kam plötzlich aus den Häusern in die Gärten. Frauen, die noch in langen Morgenröcken waren, Mädchen mit der Teekanne in der Hand, Männer mit langen Barten und Männer in Trainingsanzügen, alte Mütter, kleine Hauben auf den wackligen Köpfen.

Und der Herr mit der Filzjacke mußte ihnen gesagt haben, warum er so krakeelte, und dann war es wahrscheinlich von Haus zu Haus und von Garten zu Garten weitergerufen worden, denn wo wir auch hingingen, wo wir auch stehenblieben, überall schrie plötzlich jemand aus dem Fenster oder aus dem Garten: «Da sind die Kerle!» Oder: «Das sind die vom Wedding ...»

Sogar die Hausverwalter, die Gärtner, die Chauffeure schickte man hinter uns her. Einer von den Chauffeuren blinzelte uns zu, so als wollte er sagen: «Das habt ihr gut gemacht, ihr, Genossen vom Wedding.»

Dann verdunkelte sich aber auf einmal unser Himmel. Auch der Schutzmann kam, mit dem der Mann in der Filzjacke gedroht hatte. Er kam auf einem Rad, und es war wenig Aussicht, daß wir ihm entrinnen konnten.

Aber Perlemann wollte das anscheinend gar nicht. Er ging plötzlich noch langsamer weiter. Ja, er blieb sogar stehen, als der Schutzmann neben uns hielt.

«Sie sollen sich hier ...» Und nach einer Pause, in der er einige Male tief Luft geholt hatte: «Sie sollen sich hier fortscheren!»

Perlemann: «Tun wir schon, Herr Polizeioberkommissar, tun wir schon.»

Und nachdem er sich erst eine Weile umständlich die Nase geschneuzt hatte: «Wissen Sie, wir vom Wedding wußten ja gar nicht, daß sie hier alle solche Angst vor uns haben und daß sie schon nach der Polizei schreien, wenn nur zwei von uns einmal ein paar Minuten zu Besuch kommen! Also nichts für ungut und grüßen Sie den Herrn noch einmal, der Sie geschickt hat, aber sagen Sie ihm, daß ihm alles nichts nützt. Was sich Perlemann einmal angesehen hat, behält er im Auge, und mit der Stelle für ihn ist es natürlich nach allem, was jetzt noch geschehen ist, ganz und gar nichts!»
Der Schutzmann wußte im ersten Augenblick nicht, was er sagen sollte. Er sagte aber auch später nichts. Er packte nur sein Rad fest an den beiden Enden der Lenkstange und schob es hinter uns her.

Wir gingen die Straße wieder zurück. Perlemann pfiff sich eins, obwohl die Leute immer noch in ihren Gärten standen und uns «Strolche, Tagediebe, rotes Gesindel und freches Proletenpack!» nachriefen.
Kurz vor der S-Bahn sah er sich noch einmal um. Blinzelte links in die Kastanienallee hinein und rechts den Ahornweg hinauf.

«Wirklich eine herrliche Gegend», sagte er, «ganz so, wie wir sie brauchen.»

Und dann drückte er mir eilig die Hand, stampfte hinüber zum Bahnhof und fuhr wieder nach dem Wedding zurück.

Editorische Anmerkung

Kurt Kläber: Perlemann geht in den Grunewald. In: Wir sind die Rote Garde, a. a. O. Bd. II, S. 27 f., zitiert nach Heiner Boehnke (Hg), Vorwärts und nicht vergessen, Klaassenkämpfe in der Weimarer Republik, Reinbek 1973

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Kurt Kläber.1897-1959. Lernte Schlosser. Mitglied des Spartakusbundes, später der 1923 Aufenthalt in Amerika, -Berrgmann im Ruhrgebiet, Leiter der Bochumer Arbeiterhochschule. Seit 1924 wohnte er in Corona (Schweiz), war jedoch in den folgenden Jahren vorwiegend  in Berlin tätig. Mitbegründer des BPRS, Mitherausgeber der «Linkskurve». Emigrierte 1933 nach Frankreich und war Mitarbeiter antifaschistischer Zeitschriften. 1948 Schweizer Staatsbürger. Schrieb seit 1940 vorwiegend sozialkritische Jugendbücher.
Veröffentlichungen: Neue Saat. Erzählungen, 1925; Empörer! Empor! Gedichte, Skizzen, Reportagen, 1925; Passagiere der III. Klasse. Roman, 1927; Die rote Zora und ihre Bande,  1941.