TREND-Thema: Stadtumbau
Leseauszug aus: Wohnverhältnisse und Bewohnerverhalten
Reaktionen der Bewohner - Fortschritte und Hindernisse der Gegenwehr
von Kerstin Dörhöfer

06/10

trend
onlinezeitung

Hinweis: Grundlage für die folgenden Überlegungen bildeten die Fallbeispiele: Berlin-Gropiusstadt, Berlin-Klausener Platz, Berlin-Kreuzberg SO 36, Gelsenkirchen-Flöz Dickebank, Hamburg-Ottensen und Hamburg-St Pauli Süd, sowie Erörterungen in den Seminaren „Deter­minanten der Wohnungsversorgung" und „Determinanten disparitärer Infrastrukturaus­stattung", die im SS 1978 am Institut für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Berlin stattfanden. (red. trend)

....Anlässe zu Forderungen und Aktionen im Wohnbereich sind meist aktuelle Konflikte wie Mietpreiserhöhungen, Kündigungen, Abrißdrohungen, Verdrängung, fehlende Infrastrukturausstattung in Stadterneuerungsgebieten und Stadterweite­rungsgebieten. Kämpferische Gegenwehr wird ganz selten ausgelöst durch existen-zielle soziale Not wie z.B. Obdachlosigkeit. Ebenso selten löst „gewohnte" soziale Not, gekennzeichnet einerseits durch die ungleiche Verteilung des vorhandenen Wohnraums — täglich erfahren allein durch das Nebeneinander von Villengebieten und Mietskasernenvierteln — , andererseits durch die Diskrepanz zwischen subjekti­vem Bedürfnis und seinem Grad der Befriedigung - erfahren durch die individuelle Einschränkung und die gleichzeitige Wahrnehmung des gesellschaftlichen Reichtums - , Aktionen der Gegenwehr, Mieterkämpfe aus. Bisher zum Thema erschienen:

Siehe auch die Infopartisan-Linkseite: Reaktionäres von "Rot-Rot"

Reaktive Verhaltensweisen auf solcher Art bedrohliche Reproduktionsbedin­gungen sind meist Passivität, Resignation, Abgestumpftheit, Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit einerseits, Ausflippen, Aggressivität, Zerstörungslust andererseits.

Passivität ist wohl die am häufigsten auftretende Verhaltensweise - auch in den Fällen plötzlicher Veränderungen, aktueller Konflikte und Bedrohungen.

Aktive Gegenwehr tritt hingegen noch sporadisch auf. Sie findet ihren Aus­druck in vielfältigen Handlungsweisen. Grob lassen sie sich kategorisieren in solche, die individuell und solche, die kollektiv unternommen werden. In beiden Katego­rien gibt es wiederum solche, die als „systemintern" und solche, die als „systemex­tern" bezeichnet werden können, d.h. einerseits solche, die mit Hilfe des Staates zum Erfolg zu kommen glauben, und solche, die auf der Erfahrung basieren, daß Erfolge nicht mit, sondern nur gegen den Staat errungen werden können.

So erfaßt das Spektrum der Handlungsweisen erfahrungsgemäß folgende For­men:

  •  Ein Teil der Mieter nutzt persönliche Beziehungen aus, um individuell für sich eine Lösung zu finden, zieht aus dem Gebiet weg, kämpft im Alleingang bei den und gegen die Behörden.

  • Ein anderer Teil der Mieter macht sich sachkundig in fachlichen Fragen, nimmt an der Gremienarbeit teil, fordert und integriert sich in Partizipationsmodelle.

  • Ein weiterer Teil der Mieter schließt sich mit anderen Betroffenen zusammen, initiiert Haus- und Blockversammlungen, gründet Mieterinitiativen bzw. tritt ih­nen bei, veranstaltet gemeinsame Protestaktionen (Resolutionen, Unterschriften­sammlungen, Flugblätter, Plakate, Transparente), macht Öffentlichkeitsarbeit (Hausbesuche, Straßenagitation, Straßentheater, Hinterhof-und Blockfeste, Auto­korso, Pressekonferenzen), richtet juristische Beratungsstellen ein, leistet Wider­stand gegen Maßnahmen der Verwaltung und/oder der Bauherrn/Vermieter (ul­timative Forderungen nach Instandsetzung, Mietminderung, Verweigerung von Substanzuntersuchungen oder Aufmaße in der Wohnung).

  • Ein weiterer, jedoch geringster Teil der Mieter beteiligt sich an Maßnahmen, die zur Illegalität gezählt werden wie Mieterstreiks, Haus- und Wohnungsbesetzun­gen, Beschädigungen von privatem Eigentum (hierfür sind Beispiele die Beschrif­tung von Ausstellungstafeln der Verwaltung oder der Wohnungsbaugesellschaften mit Parolen, der Kabeldurchschnitt von Baumaschinen, das Tür-Zumauern der Vermieterräume).
     

Die Gegenwehr im Reproduktionsbereich, findet sie kollektiv statt, entlehnt also ih­re Kampfformen denen des Produktionsbereichs (Demonstrationen, Flugblätter, Versammlungen, Besetzungen, Streiks), ohne wie diese organisiert und ritualisiert zu sein. Sie lebt aus der Spontaneität, der Situationsbedingtheit, der Phantasie und dem Engagement der Beteiligten.

Bereits aus den Anlässen und den Handlungsweisen von Gegenwehr läßt sich erkennen, daß Initiatoren und Träger der Aktionen selten jene sind, die von existen-zieller oder „gewohnter" sozialer Not betroffen sind, also die Bevölkerungsgruppen mit niedrigstem Einkommen: Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, ungelernte Arbeits­kräfte, Hausfrauen, Rentner.

Widerstand und Proteste gegen Mietpreiserhöhungen, unterlassene Instandset­zungen, drohenden Abriß, fehlende Wohnfolgeeinrichtungen kommen meist von Angehörigen des Mittelstandes, vorwiegend von Intellektuellen.
Ihre soziale Betroffenheit ist eine geringere, sie haben jedoch während ihrer Ausbildung und/oder späteren beruflichen Tätigkeit ein politisches Bewußtsein, Er­fahrungen in Studententewegungen und Gewerkschaften gewonnen. Sie sehen die aktuellen Bedrohungen vor ihren politischen und ökonomischen Hintergründen, empfinden bewußter die gesellschaftlichen Diskrepanzen, können ihre Einstellung und Forderungen artikulieren und haben gerade aufgrund ihrer geringeren sozialen Betroffenheit weniger Angst vor Kündigungen und Bedrohungen.

Häufigste und aktivste Teilnehmer sind Studenten, bei denen oft soziale Be­troffenheit und politisches Bewußtsein zusammentreffen. Beteiligen sich Arbeiter, Angestellte niedriger Tarife und Qualifikationen, Hausfrauen und Rentner des Wohngebietes an den Aktionen, dann meist erst, nachdem von sozial und politisch engagierten Intellektuellen der Anstoß zur Gegenwehr gekommen ist und Vorschlä­ge zum Vorgehen unterbreitet wurden (34). Ihre Beteiligung erlischt oftmals wie­der, wenn ihre konkreten Probleme behoben - meist nur verschoben - sind. In vie­len Fällen kommt es gar nicht zur aktiven Mitarbeit, sondern beschränkt sich auf Ratsuche.

Dadurch bildet sich eine Art von Vertreterschaft heraus, die oft zu abgehobe­nem Funktionärstum führt. Zudem birgt die Rationalität der Intellektuellen auch die Gefahr ihrer Integration in Verwaltungshandeln einerseits, andererseits der Brems­wirkung auf emotionales Verhalten, das oftmals viel wirksamer die Interessen und Forderungen der Bewohner zum Ausdruck bringt (35). Zudem schrecken die häufig politischen Auseinandersetzungen der Intellektuellen die anderen Mieter ab, da sie darin keinen Bezug mehr zu ihren konkreten Problemen sehen können.

Sicher durch diese Erscheinungen mit beeinflußt, stellt sich andererseits den meisten Initiativen das Problem, wie eine breitere Beteiligung und "Solidarität der Betroffenen zu erreichen sei, Widerstand und Forderungen eben nicht im wesentli­chen von Intellektuellen, Angehörigen des Mittelstands, sondern gerade und ver­mehrt von den stärker Betroffenen getragen, Mißtrauen und Passivität abgebaut werden.

Die Aktionen der Gegenwehr richten sich zumeist gegen die planende Verwal­tung, seltener gegen das Wohnungsbaukapital selbst, durch dessen Interesse schlech­te und sich verschlechternde Wohnverhältnisse verursacht sind (36).

Die staatliche Verwaltung erscheint als eigentlich verantwortlich, zumal sie handelnd in Erscheinung tritt: durch die Planung selbst, durch Erörterungsveranstal­tungen und Partizipationsmodelle, durch finanzielle Lockangebote und punktuelles Nachgeben, durch Bedrohung und Repression.

Trotz dieser Dazwischenschaltung der planenden Verwaltung, die im Interesse aller zu handeln vorgibt, den Aktionen mit geschickten Strategien entgegentritt und die Initiativen auseinanderzudividieren sucht, hat die Gegenwehr Erfolge erzielt.

Als solche wurde bereits ihre stärkere Beachtung seitens Staat und Wohnungs­baukapital benannt. Sie waren jedoch auch materieller Art: Die Durchsetzung „politischer Mieten" (37) bzw. die Verhinderung von Mietpreissteigerungen, die Durch­setzung von Instandsetzungsmaßnahmen und die Abwehr von unerwünschten Mo-dernisierungs- bzw. gar Abrißmaßnahmen sind ganz konkrete, wenn auch bisher nur vereinzelte Erfolge.

Die Frage nach den Erfolgen dieser Gegenwehr und Auseinandersetzungen im Bereich der Wohnungsversorgung kann sich jedoch nicht nur auf die materielle Seite beschränken, sie muß auch den Auswirkungen auf Bewußtseinsformen und Hand­lungsweisen der Arbeitskräfte gelten:

  • Haben diese Aktionen und ihre materiellen Erfolge oder Mißerfolge eine Politisie­rung, einen emanzipatorischen Prozeß eingeleitet, der die Bewohner veranlaßt, sich auch in anderen Bereichen der Reproduktion zu wehren?

  • Haben sie Erfahrungen vermittelt, die in anderen Wohngebieten aufgegriffen und weiterentwickelt wurden?

  • Haben sie den Kreis derjenigen, die ihre Interessen zu artikulieren wagen, erwei­tert, vermehrt Arbeiter, Angestellte, Hausfrauen und Rentner aktiviert?

  • Haben sie Vermittlung, Verständnis und Solidarität zwischen jenen und den so­zial und politisch engagierten Intellektuellen, den Angehörigen des Mittelstands geschaffen?....

Fußnoten

34) Ausnahmen bilden hier die Werkwohnungssiedlungen im Ruhrgebiet - wie z.B. Flöz Dickebank - , in denen der Widerstand gegen die Abrißmaßnahmen ihrer Wohnungen al­lein von den Arbeitern initiiert und getragen wurde. Der Grund ist nicht schwer zu fin­den: In diesen Siedlungen lebt eine homogene Arbeiterschaft, meist sogar in einem Be­trieb tätig. Die Arbeiter kenneji sich nicht nur bereits vom Arbeitsplatz, sondern leben auch seit Jahren — oft schon in und mit der 3. Generation - in diesen Siedlungen. Der Vermieter ihrer Wohnungen ist meist auch identisch mit dem Eigner des Betriebs.
35) Die Wutausbrüche eines Arbeiters oder die Tränenausbrüche einer Hausfrau auf Erörte­rungsveranstaltungen der Bezirksverwaltung machen deren Vertretern die Auswirkungen ihrer Planungen oftmals viel deutlicher als die überlegten und fachlich versierten Reden der Intellektuellen. Entsprechend reagieren die Vertreter der Verwaltung auf solch emo­tionales Verhalten meist mit Hilflosigkeit und Verwirrung, auf das Festhalten an Tages­ordnung und rationale Einwände mit Versiertheit und Souveränität.
36) Handelt die staatliche Verwaltung auch meist im Interesse von Wohnungsbau- bzw. Ge­samtkapital, so ist sie doch auch häufig mit dem Wohnungsbaukapital so verflochten, daß eine Trennung für die, die sich wehren, nicht möglich und erforderlich ist.
37) Mieten, die sich nicht aus den Kosten berechnen, sondern orientiert sind an der Zahlungs­fähigkeit und -bereitschaft der Mieter. Ein Beispiel hierfür ist das Sanierungsgebiet Berlin-Klausener Platz. Die Forderung der Mieter „3 DM pro qm sind genug" veranlagte den Berliner Senat dazu, von der üblichen Bewilligungsmiete des Sozialen Wohnungsbaus ab­zuweichen und geringere qm-Mietpreise festzusetzen.

Editorische Anmerkung

Der Leseaauszug stammt aus Prokla Nr. 33 Westberlin 1978 S. 79ff
vollständig zu lesen unter: http://www.prokla.de/wp/wp-content/uploads/1978/Prokla33.pdf