Editorial
Wahlen und Organisation

von Karl Müller

09/05

trend
onlinezeitung

Zur Bundestagwahl im September 2002 veröffentlichten wir nur  zwei Stellungnahmen aus dem linken Spektrum. Weitere erschienen uns damals nicht wichtig genug, stand die damalige Wahl auch kaum im Interesse der radikalen Linken. Nun heute nach genau drei Jahren ist dies völlig anders: Der politische Reformismus ist im Aufwind, der PDS gelingt  - gestützt auf dissidente Sozialdemokraten - die Westausdehnung und damit bildet sie nicht nur eine praktische, sondern vor allem auch eine ideologische Herausforderung für revolutionäre Kräfte.

Die organisierten KommunistInnen - wie z.B. die MLPD oder die PSG  - die ihrerseits auch im Parlamentarismus einen wichtigen Bezugspunkt haben, weil sie dort seit Jahrzehnten um Verankerung ringen, müssen sich um die Früchte ihrer Bemühungen betrogen fühlen, da Ihnen die Stimmen vieler vom Sozialraub Betroffener, die noch bereit waren wählen zu gehen, zugunsten der PDS verloren gehen.

In diesen Zugzwang geriet die DKP freilich nicht, sie sprang einfach opportunistisch auf den Zug "Linkspartei" mit einigen Kandidaten auf - dabei kräftig ideologisch assistiert von der "Jungen Welt".

Anders die Mini-Zirkel, sie konnten sozusagen die dicke Lippe folgenlos riskieren. Platz 1 der Phrasendrescherei belegt bei uns in der Redaktion unangefochten die KPD/ML mit ihren knackigen Wahlparolen (Revolutionäre Arbeiter erkämpft die Macht, hisst die Fahne der KPD/ML auf dem Reichstagsgebäude, damit es mit Deutschland bergauf geht!).

Zirkel, die wiederum nichts mit dem Parlamentarismus am Hut haben, nutzten verstärkt die Chance, in der durch die Medien für die Neuwahlen angeheizten Öffentlichkeit ihre Ansichten zu verbreiten.

Da wir TREND-Leute uns nicht nur als KommentatorInnen und RedakteurInnen verstehen sondern auch als ChronistInnen haben wir ab der Nr.6.-05 , als klar war, dass es im September Neuwahlen geben wird, versucht, die ganze Breite der Statements zu sammeln und wiederzugeben. Wir schrieben zur Begründung unseres Vorhabens, "dass sich Kritik an reformistischer Politik  aus ganz unterschiedlichen Grundpositionen ableiten kann und es von daher nicht eine Kritikschiene sondern nur mehrere Kritikdimensionen in dieser Frage geben kann."

Da in den Aufrufen der verschiedenen Gruppen und in den Kommentaren einzelner AutorInnen viele grundsätzliche Fragen der politischen Strategie und Taktik immer mit angesprochen wurden oder zumindest mitschwangen, haben wir die aktuellen Texte um Grundsatztexte ergänzt und alle gemeinsam zu einem eigenen Schwerpunkt Neuwahlen & "Links"partei zusammengefasst.

In der vorliegenden Ausgabe haben wir den Text (Kandidieren oder opponieren?) eines "Klassikers" der Parlamentarismuskritik, Johannes Agnoli zu den aktuellen Texten hinzugefügt, weil er eine Fragestellung enthält, die unseres Erachtens heute zusehends  Bedeutung bekommen könnte: die Organisationsfrage. Anläßlich der Frage, ob sich die 68er APO an den Bundestagswahlen 1969 beteiligen sollte, schrieb Agnoli damals: "Die permanente Mobilisierung zunächst des Einzelnen, langfristig der Massen, setzt hingegen eine Organisationsform voraus, in der die spontane Aktivität freigesetzt wird und in der das Verhältnis zwischen avantgardistischen Kadern und dezentralisiert spontanen Gruppen sich zugunsten der Letzteren verschiebt."

Heute gibt es auch eine Vielzahl von "dezentralisiert spontanen Gruppen", nur sie verstehen sich (noch) nicht als Teil einer Gesamtbewegung, aus der eine Aufhebungsbewegung erwachsen könnte.  Dieses Spektrum mit seinen strategischen Überlegungen zu erreichen, versucht z.B. Wolfgang Schaumberg, dessen programmatischen Text wir ab dieser Ausgabe zum Download bereithalten. Für Schaumberg gibt es zwar den Kommunismus expressis verbis nicht mehr, aber nach seinem Verständnis muss das Ziel "eine allein auf Bedürfnisbefriedigung ausgerichtete Produktionsweise" sein, deren Grundlage "demokratische Absprachen über das Was und Wie der Produktion und der Verteilung der Produkte" bilden.

Im Prinzip zielt auch Peter Trotzigs Kommentar in eine ähnliche Richtung, wenn er schreibt: "Der Anspruch auf gesellschaftlich geplante Produktion und Verteilung ist vor dem Hintergrund kapitalistischer Entwicklung zumindest theoretisch so aktuell, wie er nur sein kann."

Einen anderen Ansatz dagegen verfolgt Karl-Heinz Schubert mit seiner Kritik an Kraushaars "Bombenbuch". Er versucht im Teil 1 thesenhaft herauszuarbeiten, dass die veränderten Akkumulationsbedingungen des Kapitals einerseits und die Herrschaftsinteressen des politischen Personals andererseits medial vermittelte kompatible Leitbilder benötigen, um die Lohnabhängigen zum Verkauf ihrer Ware Arbeitskraft anzuhalten. Ob Brüche und Inkonsistenzen, die dabei entstehen, mit dazu beitragen, dass kollektiver Widerstand auf Seiten der Lohnabhängigen aufwächst, wird sich zeigen.