Eine andere Welt ist vorstellbar? Schritte zur konkreten Vision...
Oder: Zur Aufgabe von postkapitalistisch orientierten Linken, am Beispiel des Kampfes in Auto-Multis.
von Wolfgang Schaumberg
09/05

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Die sich als „Linke“ definierenden Menschen eint ihre Kritik an den kapitalistischen Verhältnissen - und zersplittert sie zugleich: wie analysiert man den heutigen „Kapitalismus“ denn genauer ? Und: Was will man wie erreichen?

„Postkapitalistisch orientierte Linke“ fragen nicht nach einem humaner gestalteten, reformierten Kapitalismus, sondern nach einer nicht auf Verwertung, auf Kapitalakkumulation, sondern allein auf Bedürfnisbefriedigung ausgerichteten Produktionsweise auf der Grundlage demokratischer Absprachen über das Was und Wie der Produktion und der Verteilung der Produkte. „Das ist unrealistisch!“, sagen unsere Kritiker, „zumindest noch in weiter Ferne!“ Zu Recht, und bleibt es auch, solange eine nichtkapitalistische Gesellschaft nicht vorstellbar wird. Solange wir nicht zumindest gedanklich Schritte dahin machen, die für viele Menschen nachvollziehbar sind und hoffnungsträchtig. Schritte, die mehr Menschen motivieren können zum Mitdenken und Mitgehen. Auf einen „fertigen Plan“ von Experten zu warten, hieße, die „andere Welt“ wieder einer Minderheiten-Elite zu überlassen... Das Aufzeigen und die Kritik des kausalen Zusammenhangs zwischen kapitalistischer Warenproduktion und den immer bedrückenderen sozialen Problemen bleibt gleichzeitig unabdingbare Aufgabe.

In der „Charta der Grundsätze des Weltsozialforums“ , verabschiedet vom Internationalen Rat des WSF am 10. Juni 2001, heißt es (in Punkt 4): „Die auf dem WSF vorgeschlagenen Alternativen widersetzen sich einem Prozess der Globalisierung, der von den großen multinationalen Konzernen und den ihren Interessen dienenden internationalen Institutionen, bei Komplizenschaft der nationalen Regierungen, gelenkt wird.“ Und in Punkt 11: „Das WSF ist als Ort der Debatte eine Bewegung von Ideen, die zum Nachdenken anregen, und Ort der transparenten Verbreitung der Ergebnisse dieses Nachdenkens über die Herrschaftsmechanismen und Herrschaftsinstrumente des Kapitals, über die Mittel und Aktionen des Widerstands gegen seine Herrschaft und für ihre Überwindung...“
Die WSF-Parole “Eine andere Welt ist möglich“ scheint hiernach die Entmachtung der „großen multinationalen Konzerne“ vorauszusetzen. Eine andere Welt ist in der Tat nur vorstellbar ohne „Herrschaft des Kapitals“, das heißt auch ohne die Macht solcher Multis wie Microsoft, Deutsche Bank, Siemens, VW, Toyota, General Motors/ Opel usw. – Wie ist deren Macht jemals zu brechen? Welche Aufgaben stellen sich uns, den postkapitalistisch orientierten Linken, in Bezug auf die Konzernherrschaft und ihre Voraussetzungen?
Ich möchte insbesondere nach unseren Aufgaben in den Betrieben und Gewerkschaften fragen. Einerseits, da ich nach 30 Jahren als Arbeiter (25 Jahre Betriebsratsmitglied) bei Opel in Bochum und als IG Metall-Linker immer noch im Rahmen der Kollegengruppe „Gegenwehr ohne Grenzen“ - GOG - an der Betriebsarbeit, an den alltäglichen Auseinandersetzungen ebenso wie an den Zukunftsdiskussionen teilnehme. Andererseits, da ich den Blick auf die Alltagserfahrungen der Produzierenden bei vielen Linken sträflich vernachlässigt sehe, wobei ich jedoch die erst in den letzten 10 Jahren wieder aufgenommenen kapitalismuskritischen Diskussionen, - etwa im Rahmen der Welt-, Europa- und lokalen Sozialforen - absolut mitreissend und vorwärtstreibend finde.

Bloß kein Mythos „Arbeiter“ ! Doch für die im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung kleine Minderheit der aktiven Linken und wegen ihrer sozialen Zusammensetzung scheint mir nicht unbedeutend, dass viele Linke meiner Erfahrung nach oft einen schwierig zu beschreibenden bewusstseinsmäßigen Bezug zum Gebrauch ihrer Sachen haben. Sie fahren mit Bahn, Bus, Auto, Rad usw., benutzen Duschen, Tassen und Kulis, essen Bananen und Pommes , ohne eine Anschauung davon zu haben, dass und wie all diese Sachen nicht um ihrer selbst willen produziert worden sind, sondern zuerst deswegen, Mehrwert zu erzeugen. Und gleichzeitig für den Gebrauch. Und - zum großen Teil - auch in Zukunft gewünscht werden und hergestellt werden müssen ! Dass außerdem hinter all solchen Produkten Produzierende gesehen werden müssen, die sich anstrengen, unter Druck sind, Ängste haben, ihr Leben meist nicht anders kennen als sich tagtäglich in einer Fabrik, einem Büro rumzuärgern, in Wechselschicht, in täglichen Auseinandersetzungen mit Vorgesetzten und mit Debatten untereinander ohne Ende, und – auch mal mit Spass bei ihrer Arbeit! Unsicherheit, auch Missachtung der „Normalos“ als Bild-Leser, usw. scheint oft genug dazu zu führen , dass sich Linke eher unter ihresgleichen nur wohlfühlen, dort ihren Streit führen, ihren Feierabend, ihre Freizeit leben, oft auch ihren Berufsalltag, oder sich nach ödem Berufsalltag mit wenig erlebtem Agitationserfolg verständlicherweise lieber schnell unter ihresgleichen mischen... Und sich wundern, warum die Leute sich so wenig wehren...

So bewirkt die verbreitete Unterschätzung der Rolle der Produktionssphäre, und damit der Produzierenden, ihrer Erfahrungen, ihrer Bewusstseinslage, dass das für unser aller Leben grundlegende Feld der materiellen Reproduktion weitgehend der Aktivität und ideologisch-politischen Ausrichtung durch die Herrschenden überlassen bleibt.

Linke Schwärmerei über „die Arbeiter“ oder gar „die Arbeiterklasse“, über ihre Bedeutung für die notwendige Umwälzung der Gesellschaft und über ihre Rolle in einer „neuen“ Gesellschaft ist oft Ausdruck einer ebenso schiefen und oberflächlichen Einschätzung, nur mit umgekehrtem Vorzeichen.

In seiner Auseinandersetzung mit dem „traditionellen Marxismus“ versucht Moishe Postone „ein neues Verständnis des Verhältnisses der Arbeiterklasse zur Möglichkeit der Aufhebung des Kapitalismus“ anzuregen. „Die Aufhebung des Kapitalismus muß auch im Sinne der Abschaffung der proletarischen Arbeit verstanden werden und folglich auch im Sinne der Abschaffung des Proletariats. Das gestaltet die Frage nach dem Verhältnis des gesellschaftlichen und politischen Handelns der Arbeiterklasse zur möglichen Abschaffung des Kapitalismus äußerst schwierig. Es impliziert, daß solches Handeln und das, was gewöhnlich als Klassenbewußtsein der Arbeiter bezeichnet wird, innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Gesellschaftsformation verbleibt – und zwar nicht notwendigerweise deshalb, weil die Arbeiter materiell und geistig korrumpiert würden, sondern weil proletarische Arbeit dem Kapital nicht grundlegend widerspricht. Die politischen und gesellschaftlichen Aktionen der organisierten Arbeiterklasse waren historisch bedeutsam für die Prozesse, durch die die Arbeiter sich selbst als Klasse innerhalb des Kapitalismus konstituiert und verteidigt haben, bei der Entfaltung der Dynamik zwischen Lohnarbeit und Kapital und, besonders in Westeuropa, bei der Demokratisierung und Humanisierung der kapitalistischen Ordnung. Wie militant auch immer die Aktionen und die mit der Selbstbehauptung des Proletariats verbundenen Subjektivitätsformen gewesen sind, sie weisen dennoch nicht in die Richtung einer Aufhebung des Kapitalismus. Sie stellen eher kapitalkonstituierende denn über das Kapital hinaus weisende Formen von Handeln und Bewußtsein dar. Das wäre selbst dann der Fall, wenn die Struktur der Lohnarbeit wirklich global würde – was im Zuge der gegenwärtigen Form der Globalisierung des Kapitals auch erreicht werden dürfte-, und sich die Arbeiter entsprechend organisierten. Es geht nicht nur einfach um die Frage, in welchem Umfang das Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit sich globalisiert hat (obwohl auf einer konkreteren Ebene der Analyse die räumliche Ausdehnung des Kapitals bedeutende Konsequenzen hat). Es geht auch nicht um ´Reformismus` - das grundlegende Problem ist nicht, daß Politik, die auf der Existenz der Arbeitskraft als Ware fußt, zu gewerkschaftlichem Bewußtsein führt. Es geht vielmehr darum, daß das Kapital letztlich auf proletarischer Arbeit beruht – daher kann die Aufhebung des Kapitals nicht auf der Selbstbehauptung der Arbeiterklasse basieren. Selbst die ´radikale` Auffassung , daß zum Beispiel die Arbeiter das Mehrprodukt produzieren und deshalb seine ´rechtmäßigen` Besitzer wären, läuft auf die Abschaffung der Kapitalistenklasse hinaus – aber nicht auf die Aufhebung des Kapitals. Das würde die Aufhebung der Wertform des Mehrprodukts und der kapitalbestimmten Form des Arbeitsprozesses erfordern.“ (Anm. 1)

In diesem Sinne (- auch wenn Postone hier militante Aktionen und Kämpfe um Reformen zu einseitig als „kapitalkonstituierend“, statt auch die Widersprüche vorantreibend ansieht -) in die Richtung einer Aufhebung des Kapitalismus weisende Erfahrungen und Überlegungen sind aus der Theorie - im Sinne gesammelter und aufgearbeiteter Erfahrungen - sowie aus der Wirklichkeit der heutigen Reproduktion der Gesellschaft zu gewinnen und mit der Vorstellung einer anderen Produktionsweise zu verknüpfen.

Im Folgenden geht es darum, Produktions- und Kampferfahrungen in der Auto-Fabrik beispielhaft in den Blick zu nehmen, um so die Chance zu nutzen, einer anderen Welt vielleicht auch auf diesem Weg ein Stück näher zu kommen.
 

Editorische Anmerkungen

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