Peter Trotzig Kommentare zum Zeitgeschehen

Es gibt keine Richtungswahl! – Lohnarbeitslosigkeit lässt sich nicht abwählen!
09/05

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„Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das funktionierende Kapital, Umfang und Energie seines Wachstums, also auch die absolute Größe des Proletariats und die Produktivkraft seiner Arbeit, desto größer die industrielle Reservearmee. Die disponible Arbeitskraft wird durch dieselben Ursachen entwickelt wie die Expansivkraft des Kapitals. Die verhältnismäßige Größe der industriellen Reservearmee wächst also mit den Potenzen des Reichtums. Je größer aber diese Reservearmee im Verhältnis zur aktiven Arbeiterarmee, desto massenhafter die konsolidierte Übervölkerung, deren Elend im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Arbeitsqual steht. Je größer endlich die Lazarusschichte der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto größer der offizielle Pauperismus. Dies ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation. Es wird gleich allen andren Gesetzen in seiner Verwirklichung durch mannigfache Umstände modifiziert, deren Analyse nicht hierher gehört.“ (Marx, Kapital Bd. 1, S. 673, 674)

Rot-Grün oder Schwarz-Gelb? Sie sagen, es gehe um eine „Richtungswahl“ und behaupten wieder einmal, bei den Wahlen würden die Weichen gestellt für Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung. Der „Kampf gegen die Arbeitslosigkeit“ steht wieder ganz oben an. Mit „ideologiefreier“, pragmatischer Wirtschaftspolitik zurück zur „Vollbeschäftigung“. Es stört die Anti-Ideologie-Ideologen wenig, dass ihr wirtschaftlicher Sachverstand sich seit Jahrzehnten blamiert und als pure Ideologie erweist, die allenfalls dazu taugt ihre sozialen Schweinereien zu rechtfertigen, aber nicht die Lohnarbeitslosigkeit zu beseitigen. Das ökonomische Bewegungsgesetz der bürgerlichen Gesellschaft reguliert die Politik und nicht die Politik die Ökonomie!

Im Schlusswort „Über den menschlichen Willen “ seines Buches „Nebensache Mensch" führt Rainer Roth auf eindrucksvolle Weise vor, wie blamiert und abgedroschen mittlerweile die Phrasen über die Beseitigung der Lohnarbeitslosigkeit im Kapitalismus sind. Lohnarbeitslosigkeit lässt sich nicht abwählen! Um sie selbst samt ihren sozialen Folgen zu beseitigen, muss das System der Lohnarbeit abgeschafft werden!

Jede Phase kapitalistischer Entwicklung wird durch die bürgerliche Politik „zeitgemäß“ interpretiert.

Selbst die CDU formulierte im Ahlener Programm von 1947 noch – dem damaligen Mainstream folgend – dass die kapitalistische Wirtschaftsordnung den sozialen Interessen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden sei. Weltwirtschaftkrise, Depression, Krieg und Zusammenbruch ließen wenig Interpretationsspielsraum.

Mitte der 60iger Jahre – vor dem Hintergrund des „Wirtschaftswunders“, das sich nur der besonderen sozialen und ökonomischen Wirksamkeit des Weltkriegs verdankte - wollten bürgerliche Politiker in diesem unserem Lande den Menschen weiß machen, dass nunmehr alle angeblich dem Kapitalismus „angedichteten“ Tendenzen zu sozialer Polarisierung und existenzieller Unsicherheit überwunden seien. Es gehe nunmehr nur noch aufwärts mit Wirtschaftswachstum und Beschäftigung.

"Unsere Wirtschaft blüht, unser Wohlstand ist keine Privileg für  wenige mehr, sondern eine Selbstverständlichkeit für alle. Ist  schon der Wirtschaftsaufbau des total verwüsteten Landes vielen  wie ein Wunder vorge­kommen, muß man heute 20 Jahre nach Kriegsende, erst recht die Dauer  unserer Konjunktur be­staunen. Wir kennen keine allgemeine Wirtschaftskrise mehr, kaum noch Rückschläge, nicht einmal mehr Stillstand in der Wirtschaft. Die Vollbeschäftigung ist längst zum Dauerzustand geworden."  Theodor Blank auf dem CDU-Parteiag von 1965.  

Mit dem Auslaufen des Nachkriegsbooms wurden diese Sprüche eingestellt. Seit der Weltwirtschaftskrise 1974/75 entwickelt sich die Kapitalakkumulation geradezu idealtypisch in der von Marx beschriebenen Form, inkl. mehr oder weniger schroffer Krisen und der progressiven Produktion einer industriellen Reservearmee. Seit dieser Zeit streiten sich die politischen Freunde der Marktwirtschaft darüber, wie die Arbeitslosigkeit zu überwinden sei. Die Lohnabhängigen seien Schuld, zu hoch ihre Ansprüche, zu teuer daher die Arbeit. Je stärker die asoziale Dynamik des Kapitals hervortritt, desto lauter werden die Rufe, auf „überzogene“ soziale Ansprüche zu verzichten, sich den Erfordernissen der Akkumulation zu beugen und den Kräften des Marktes zu vertrauen. Diese marktgläubige Ideologie und die daraus abgeleiteten Maßnahmen zur Erhöhung des Drucks auf Lohnabhängige, jede „nicht sittenwidrige“ Arbeit und jede Verschlechterung ihrer sozialen Lage zu akzeptieren, nennen sie dann Pragmatismus und beschimpfen alles als ideologisch, was die ökonomischen Ursachen und sozialen Folgen der Misere halbwegs nüchtern bilanziert. Glauben ist gefragt, wo Sprüche und Versprechungen beständig durch die Wirklichkeit lügen gestraft werden. Das wiederum treibt manche „modernen“ Menschen lieber gleich zurück zum religiösen Original. 

Linke Alternative?

Der in Meinungsumfragen ermittelte Zuspruch zu dem neuen Projekt einer linken Partei, die sich dem Anspruch nach nicht einfach der ökonomischen Logik als Zwangsgesetz beugen will, zeigt, dass es immerhin eine nennenswerte Anzahl von Menschen gibt, die den Ideologen der Marktwirtschaft nicht mehr traut. Aber die „Neue Linke“ ist eine Reformpartei und alle, die die Lohnarbeitslosigkeit im Kapitalismus selbst in praktischen Schritten überwinden wollen, müssen vor dem Hintergrund der „Globalisierung“ letztlich nationalistisch werden. Lafontaines ekelhafte Sprüche über die „Fremdarbeiter“, die „uns“ angeblich mit Dumping-Preisangeboten die Arbeitsplätze wegnehmen, und die sozialen Standards kaputt machen, sind der folgerichtige Ausdruck eines Sozialreformismus, der nicht daran denkt, das Privateigentum an Produktionsmitteln, die Warenproduktion und das Geld in Frage zu stellen. Schießen die einen gegen die Ansprüche auf zu hohe Bezahlung von Lohnarbeit, so die anderen gegen die Billiganbieter von Lohnarbeit aus „fremden“ Ländern. Schuld an der Misere ist in keinem Fall das Kapital, sondern sind die Lohnabhängigen selbst.

Marktwirtschaftlicher Pragmatismus eben, Vordergründiges! Bloß nicht „ideologisch“ werden, bloß nicht Privateigentum und Markt in Frage stellen! (In einem Fernsehinterview verteidigte Herr Lafontaine den Gebrauch des Wortes „Fremdarbeiter“ damit, dass der auch in den anderen Parteien schon benutzt worden sei. Klar, die neue Linkspartei ist ganz normal ... eben auch normal nationalistisch. Was soll die Aufregung?)

Das alles spricht nicht gegen das Vorhaben von Reformen, wohl aber gegen einen Reformismus, der auf der irrigen Annahme beruht, man könne die Lohnarbeitslosigkeit und deren verheerende soziale Folgen aus der Welt schaffen, ohne die verursachenden Produktionsverhältnisse abzuschaffen.

Die Lohnarbeitslosigkeit verschwindet weder durch „angebotsorientiertes“ Senken der Löhne noch durch „nachfrageorientiertes“ Anheben der Löhne. Von außergewöhnlichen Umständen wie den ökonomischen Auswirkungen eines imperialistischen Weltgemetzels einmal abgesehen, produziert das Kapital progressiv eine industrielle Reservearmee für seine Verwertungsbedürfnisse. Der gefeierte und massiv betriebene Fortschritt in der Arbeitsproduktivität dient im Kapitalismus der Kostensenkung und damit der Ausdehnung der unbezahlten Mehrarbeit. Der Profit als treibendes Motiv der Produktion verlangt bei Bedarf die Freisetzung von Lohnarbeitskräften.

Wer sich dem Tabu „Privateigentum“ beugt muss sich natürlich die Frage nach der „Bezahlbarkeit“ wohlgemeinter Reformen gefallen lassen und vorrechnen können, wo das Geld herkommen soll. Bezahlbarkeit heißt: Wie lässt sich das mit den Erfordernissen von Kapitalverwertung vereinbaren? Bedroht die Reform das ökonomische „Naturgesetz“ der Verwertung? Dabei sehen dann alle Reformisten so schlecht aus wie Oskar Lafontaine! Im Lichte „ökonomischer Vernunft“ sind die meisten Reformen heute nicht bezahlbar. Haben wir nicht schon genug Pleiten? Das Kapital muss entlastet werden, mehr Profit machen können, sonst gibt es noch mehr Arbeitslose.  

Kommunismus – was sonst?

Nein, der Kommunismus ist nicht out! Seine Entstellung im Realsozialismus kann man durch die Brille der kapitalistischen Marktwirtschaft oder unter Bezugnahme auf die Ziele sozialer Emanzipation kritisieren. Der Anspruch auf gesellschaftlich geplante Produktion und Verteilung ist vor dem Hintergrund kapitalistischer Entwicklung zumindest theoretisch so aktuell, wie er nur sein kann.

Schaut man sich den Realsozialismus durch die Brille der kapitalistischen Marktwirtschaft an, dann gab es da auch Lohnarbeitslosigkeit, nämlich „verdeckte Lohnarbeitslosigkeit“. Das ist ganz einfach! Jede Lohnarbeit, die nicht kapitalproduktiv ist, also nicht das vorgeschossene Geld vermehrt, gilt als nutzlose, vergeudete Arbeit. Nach diesen Kriterien hätten eben im Realsozialismus viele Menschen arbeitslos sein müssen. So die beeindruckenden Befunde der Ökonomen. Eine gesellschaftliche Produktion, die nicht der Vergrößerung einer angelegten Menge Geldes dient, können sich diese Giganten des Geistes einfach nicht vorstellen und darum ist Arbeit, die bloß Gebrauchsgegenstände schafft und nicht ihren Gegensatz als Kapital progressiv reproduziert eine wegzurationalisierende Größe, bloßer Kostenverursacher, der den Profit schmälert, statt ihn zu schaffen.

Die eigentliche Ursache des Elends und Untergangs dieses Realsozialismus kommt dabei gar nicht in Betracht. Es handelte sich nämlich nicht um gesellschaftliche Planung von Produktion und Verteilung, sondern um Parteiplanung von Produktion und Verteilung, eine Planung zudem, die zwar auf staatlichem Eigentum an den wichtigsten Produktionsmitteln beruhte, aber die Produktion von Waren und demzufolge die Verteilung mit Hilfe von Wertausdrücken (Preisen) plante. Es war eine geplante, staatssozialistische Marktwirtschaft, gelenkt durch eine Partei mit diktatorischer Machtfülle, der die meisten Menschen unterworfen und ausgeliefert waren. Von daher macht es natürlich Sinn, dieses System mit den Kriterien der Marktwirtschaft zu begutachten und ihr „verdeckte Arbeitslosigkeit“ anzudichten. Schließlich waren ja fast alle Merkmale der Marktwirtschaft vorhanden. (Im Gegensatz zu den Ökonomen, machen aber „die Betroffenen“ sehr wohl und zu Recht einen Unterschied zwischen „verdeckter“ und tatsächlicher Lohnarbeitslosigkeit.)

Das Scheitern des Realsozialismus beweist keinesfalls die Unmöglichkeit gesellschaftlicher Planung von Produktion und Verteilung. Es beweist allein das Scheitern einer staatlichen Planung von Warenproduktion im Vergleich mit privatkapitalistischer Warenproduktion. (Es muss hinzugefügt werden, dass es sich hierbei nicht um ein rein ökonomisches Scheitern im Sinne eines Zusammenbruchs handelte, sondern um eine politisch gewollte und/oder zugelassene Abschaffung eines Systems, das seinen proklamierten Zielen Hohn sprach und dessen soziale Bilanz immer katastrophaler wurde. Man sollte so auch mit dem Privat-Kapitalismus verfahren! ... und wenn der sich so unblutig abschaffen ließe, wie der „blutrünstige Kommunismus“, dann wäre das sehr schön!)

Wer an dem Anspruch festhält, die durch das Kapital selbst erzeugte existenzielle Unsicherheit und Not zu überwinden, der kommt an der Notwendigkeit gesellschaftlicher Planung von Produktion und Verteilung nicht vorbei. Die effektiven Formen dieser gesellschaftlichen Planung können nur in theoretischer Arbeit angedacht und müssen letztlich in praktischen Suchbewegung gefunden werden. Es steht lediglich fest, dass dazu das kapitalistische Privateigentum an Produktionsmitteln und damit das System der Lohnarbeit fallen muss. Nur so wird der Weg frei für eine Produktion und Verteilung, in der die Arbeitsprodukte ihren Warencharakter verlieren und daher die Individuen ihre Gesellschaftlichkeit nicht mehr in Gestalt des Geldes als verdinglichte, fremde Macht reproduzieren müssen. Nur auf dieser Basis lässt sich gesellschaftlich entscheiden wie der Produktivitätsfortschritt genutzt werden soll (Größe des Mehrprodukts, Umfang der Akkumulation, Länge der individuellen Arbeitszeiten, Art und Umfang der Konsumtion, etc.)

Durch Wahlen lässt sich das alles nicht bewerkstelligen, sondern nur durch die solidarische, auf soziale Emanzipation gerichtete Aktivität der lohnabhängigen Menschen in ihrer überwältigenden Mehrheit.

Editorische Anmerkungen

Peter Trotzig schreibt ab der Nr. 1-05 in unregelmäßigen Abständen seine Kommentare zum Zeitgeschehen. Dieser wurde am 29.8.2005 erstellt.