Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Im „sanitären Ausnahmezustand“

Bericht
vom 15. Mai 2020
 

05/2020

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Erste Sozialproteste nach den Ausgangsbeschränkungen und Proteste in den Trabantenstädten zum Thema Polizeigewalt

Diskussion um Vorschlag aus dem Regierungslager: Teilen in der Klasse – Andere Lohnabhängige sollen Beschäftigten in Gesundheitsberufen Urlaubstage spendieren * Ein Supermarkt schloss Beschäftigte von der Prämie für Arbeit während der Corona-Krise aus… weil diese in der Notaufnahme lagen * Erste nennenswerte Proteste: Versammlungen vor Krankenhäusern in Toulouse * Polizeikessel gegen Protest… gegen Polizeigewalt in der nördlichen Paris banlieue-Zone; und zur Bilanz der polizeilichen Aspekt der Corona-Krisenverwaltung in den banlieues

Stand: Nacht vom 14. zum 15.05.2020

Abgeordnete der französischen Regierungspartei LREM haben – pardon – einen neuen Vorschlag geschissen. „Teilen in der Klasse“ ist mal wieder angesagt, also unter Lohnabhängigen: Er (der tolle Vorschlag) läuft darauf hinaus, dass Lohnabhängige anderer Sektoren künftig den abhängig Beschäftigten in Gesundheitsberufen Urlaubstage spendieren dürfen. Unter Abzug von den eigenen Urlaubstagen. Rund 100 Abgeordnete von LREM (La République en marche), also ein knappes Drittel der Abgeordneten der Regierungsformation, unterzeichneten einen entsprechenden Vorschlag in Gestalt eines Briefs an Arbeits- und Sozialminister Muriel Pénicaud. (Vgl. http://www.leparisien.fr/ und https://rmc.bfmtv.com/ oder https://www.lefigaro.fr/ ) Letztere, früher Personalchefin beim Danone-Konzern, zeigte sich mittlerweile an dem Vorschlag „interessiert“. Und die bürgerliche Rechte in Gestalt der konservativen Oppositionspartei LR wusste sich lediglich darüber zu beschweren, dass man ihr ihre Ideen klaue… Vgl. http://www.le-blog-de-roger-colombier.com

Der einflussreiche bürgerliche Fernsehsender BFM TV („B“ für business und FM für Mittelfrequenz, fréquence moyenne) leitete gleich eine Öffentlichkeitskampagne dafür ein und widmete einen Teil seines Mittagsjournals an diesem Mittwoch, den 13. Mai 20 dem Vorstoß, wobei auch Ministerin Muriel Pénicaud zu Wort kam. Untermalt mit Bildern von den Französinnen und Franzosen (oder sonstigen in Frankreich lebenden Menschen), die in den letzten Wochen an vielen Abenden je um 20 Uhr an ihren Fenstern und auf ihren Balkonen den Beschäftigten im Gesundheitswesen applaudierten.

Die Idee des „Teilens innerhalb der Klasse“ (statt das Kapital respektive den Staat, oder in diesem Falle öffentliche Arbeitgeber wie auch private Kliniken, zur Kasse zu bitten) ist nicht neu. Seit 2014 existiert bereits die gesetzliche Möglichkeit für Lohnabhängigen, Arbeitskolleginnen oder -kollegen, die kranke Kinder zu Hause haben, eigene Urlaubstage zu transferieren; was damals, unter François Hollande, als sozialer Fortschritt gefeiert wurde und 2018 auch auf die Unterstützung von Kollegen und Kolleginnen mit pflegebedürftigen Angehörigen ausgeweitet worden ist . (Vgl. https://www.aide-sociale.fr/don-jours-repos-salarie/) Dabei geht es jedoch bislang im Wesentliche um Beschäftigte im selben Unternehmen. Neu wäre, dass künftig eine rechtliche Möglichkeit zum (Urlaubs-)Teilen unter Lohnabhängigen auch sektorenübergreifend eröffnet würde.

Ausschluss von Lohnprämie… wegen Aufenthalts in der Intensivstation

Weniger zum Teilen aufgelegt erscheint derzeit das Kapital. Wie eine Nachricht, die sich über einige soziale Medien verbreitete (und bei gewerkschaftlichen Quellen verifiziert werden konnte), lautet, schloss ein Supermarkt im Unterschied zum übrigen Personal zwei Lohnabhängige von der Prämiensumme für Arbeit während des „sanitären Notstands“ aus, weil diese im fraglichen Zeitraum abwesend oder zum Teil abwesend waren. (Wir berichteten bereits generell über Konflikte rund um diese Prämien: Bericht vom 24. April 2020.)

Nur lagen die beiden mit der durch SARS Cov-2 hervorgerufenen Lungenkrankenheit COVID-19 in Notbehandlung auf der Intensivstation, im einen Falle drei Wochen (dies führte zum vollständigen Verlust der Prämie), im anderen Falle zwei Wochen; im letzteren Falle führte dies zu einer anteilsmäßigen Verringerung der Lohnprämie, da der Lohnabhängige – der 55jährige Zouhir Zerrouki, mit neunzehn Jahren Betriebszugehörigkeit – vom 07. bis zum 21. April im Krankenhaus lag. Dabei hatte er mehrere Wochen hindurch seine Gesundheit aufs Spiel gesetzt, um arbeiten zu gehen; in seinem Falle hatte sich das Risiko durch das Krankwerden realisiert. Die Lohnprämie dient ja just dazu, jene abhängig beschäftigten, die während des „sanitären Notstands“ Risiken eingingen, um die Versorgung der Bevölkerung – und die tüchtig wachsenden Profite von Monoprix zu gewährleisten…

Es handelt sich bei den Supermärkten um Monoprix- Filialen am bouvelard Gambetta in issy-les-Moulineaux, südlich von Paris, sowie in Boulogne-Billancourt südwestlich der Hauptstadt. (Eine Aktion aus Kreisen der „Gelbwesten“ dazu befindet gut unterrichteten Quellen zufolge sich in Vorbereitung; die örtliche CGT führte bereits seit Dienstag, dem 12.05. Flugblattverteilungen vor den beiden Monoprix-Supermärkten durch.)

Später als aus gewerkschaftlichen Quellen und Diskussionslisten erfuhr der Autor dann im Laufe des Mittwochs auch über bürgerliche Medien, dass diese ihrerseits darüber berichteten. Dort wusste man allerdings offenkundig von einem der beiden Fälle, nicht von den zweien; vgl.

Erste Proteste kristallisieren sich

Unmutsäußerungen hat es bereits während des confinement (d.i. die Periode der Ausgangsbeschränkungen zwischen dem 17. März und dem 10. Mai diseses Jahres) gegeben. Sei es in Gestalt einzelner Versuche, am 1. Mai d.J. zu demonstrieren, was polizeilich unterbunden wurde – wir berichteten – oder auch mit Balkondemonstrationen (wozu die CGT aufrief) und Topfklopfen (Aufruf der linkssozialdemokratischen und linkspopulistischen Wahlplattform La France insoumise /LFI). Sei es auch in Form von Arbeitskämpfen oder von Arbeitsverweigerung aufgrund gesundheitlicher Risiken, die während dieser Periode stattfanden: vgl. dazu eine on-line publizierte „Karte der Zornbewegungen am Arbeitsplatz“:

Noch zum 1. Mai 20: Das eher ziemlich linksradikale Kollektiv « Comité de solidarité avec grève et résistance - GDDK », das am diesjäjhrigen 1. Mai zum Protest auf der place de la République in Paris aufrief (vgl. https://paris-luttes.info/sortons-dans-la-rue-le-1er-mai-13879), berichtet, dass zwei der daran Teilnehmenden am 15. Juni dieses Jahres ein Prozess erwartet. Vgl. https://www.facebook.com/

Am Montag dieser Woche, dem berühmten 11. Mai 20 (dem Tag der Aufhebung der Ausgangsbeschränkungen), kamen in Toulouse zahlreiche Menschen zu Protestversammlungen vor mehreren Krankenhäusern gleichzeitig zusammen, zu denen zuvor die Beschäftigten des Gesundheitspersonals die Bevölkerung aufriefen (und in ihren Reihen konkret CGT und SUD). Bei dem Protest wurden u.a. mehr finanzielle Mittel für die, durch die Austeritätspolitik gebeutelten Krankenhäuser gefordert. Neben Angehörigen des Gesundheitspersonals kamen dazu rund 1.000 Unterstützer/innen.

Vgl. :

Unterdessen kam es, ebenfalls am frühen Abend des 11. Mai (Montag dieser Woche), auf der Pariser Vorstadtinsel Île-Saint-Denis zu einer Menschenkette – unter Wahrung sanitärer Auflage gegen die Verbreitung des Coronavirus -, um gegen Polizeigewalt zu protestieren. (Vgl. https://twitter.com/ und https://actu.frl oder https://npa2009.org ) Dies führte wiederum zu einem Polizeikessel. (Vgl. https://www.revolutionpermanente.fr/ ) Zu den Gründen des Protests, zu diesem Thema und an diesem Ort, vgl. im folgenden Abschnitt.

Die Situation in Trabantenstädten

Am diesem Montag, den 11. Mai d.J. ging die Zeit der Ausgangsbeschränkungen in Frankreich, die seit dem 17. März in Kraft warten und erheblich strenger ausfielen als jene in der BRD, zu Ende. (Wir berichteten) In ihrem Verlauf wurden bis Ende April - danach wurden keine neuen Zahlen veröffentlicht - insgesamt 15,5 Millionen polizeiliche Kontrollen durchgeführt und 915.000 Strafzettel ausgestellt; vgl. bspw. : http://www.leparisien.fr/ Ein Erstverstoß kostete in der Regel 135 Euro, Folgeverstöße oder solche mit strafverschärfenden Umständen fielen teurer aus (ab 375 e).

Am Sonntag, den 10. Mai 20, dem letzten Tag der Periode des confinement, publizierte die französisch/US-amerikanische Internetzeitung Huffington Post einen Artikel (vgl. https://www.huffingtonpost.fr), der die Frage aufwarf, warum die Menschen, die im Département Seine-Saint-Denis wohnen – dem ärmsten französischen Verwaltungsbezirk, der die nördlich und nordöstlich an Paris angrenzenden Trabantenstädte umfasst – im Vergleich zur Gesamtbevölkerung einen drei mal höheren Anteil an Strafbescheiden im Vergleich zur Gesamtzahl der durchgeführten Kontrollen aufwiesen. 17 Prozent der dort Kontrollierten erhielten demnach zu Geldbußen. Loïc Lequellec, Mitglied der Anwaltskammer des Bezirks, gab der Zeitung zur Antwort, Kontrollen würden in diesen und anderen banlieues (Vorstadtzonen) oft aggressiver durchgeführt. Polizeiangehörige fragten dort unter Umständen gar nicht nach, ob die Betreffenden über einen zum Ausgang berechtigenden Passierschein verfügten, oder ließen sich auch beim Vorzeigen eines solchen nicht beirren. Allerdings steht den Betroffenen der Rechtsweg offen, um Einspruch einzulegen, wenn sie es denn tun.

Das Département Seine-Saint-Denis weist eine stärkere Bevölkerungsdichte, aufgrund von Hochhaussiedlungen, und vielerorts auch mehr überlegte Wohnungen auf als andere. Dies war mit ein Grund, warum es manche dort Wohnenden stärker nach draußen zog. Doch dies ist keineswegs der einzige Grund für Verstöße und/oder Kontrollen. Selbst Regierungssprecherin Sibeth Ndiaye sprach bei einer Pressekonferenz am 20. März 20 davon, es gebe „ein rassistisches Geschmäckchen“ bei der Ausrichtung eines Teil der Polizeimaßnahmen.

Ein Artikel der Tageszeitung 20 minutes vom 03. April 20 benennt unterdessen einige Ursachen, warum hier auch die Sterblichkeit an Covid-19 um 67 Prozent über dem regionalen Durchschnitt liegt: In dem Bezirk lebten auch besonders viele Angehörige prekärer Beschäftigtengruppe, darunter vielfach in Gesundheits- oder Verkaufsberufen, die unter den derzeitigen Bedingungen weiterarbeiten müssten, während sich andere – insbesondere „höher qualifizierte“ - Berufsgruppen in Kurzarbeit befänden oder im Home Office arbeiteten. (Wir berichteten bereits; vgl.: Rechtsextreme und Verschwörungsgläubige zur Coronakrise und zur zitierten Quelle : https://www.20minutes.fr )

Auch vor diesem Hintergrund wuchsen die Spannungen im Laufe der Wochen. An der Grenze zwischen Seine-Saint-Denis und dem Nachbarbezirk Hauts-de-Seine (er umfasst die Vorstädte nordwestlich und westlich von Paris) kam es Mitte April ungefähr ferner zu zwei Ereignissen, die auch landesweite Aufmerksamkeit hervorriefen und mehrere Nächte lang zu Unruhen mit Bränden sowie durch Anwohner/innen gezündeten Feuerwerkskörpern führten.

In der Nacht vom 18. zum 19. April 20 wurde ein Dreißigjähriger marokkanischer Abstammung, der ohne Sturzhelm auf einem nicht zugelassenen Motorroller fuhr, in Villeneuve-la-Garenne (Hauts-de-Seine) beim Zusammenstoß mit der Tür eines Polizeiautos an einem Bein schwer verletzt. Die Polizeiversion lautet, er sei von selbst auf das Polizeifahrzeug zugerollt, nachdem er seine Fahrbahn geändert habe. Viele Stimmen vor Ort bezweifeln das und geben an, ein Beamter habe die Tür ruckartig geöffnet, um den Fahrer zum Sturz zu bringen. Von der Polizei selbst gab es, zu unterschiedlichen Zeitpunkten, widersprüchlich Angaben; vgl. https://www.liberation.fr/ Der Betroffene selbst, er war kurzzeitig im Fernsehen auf seinem Krankenhausbett zu sehen, rief die Einwohner/innen zur Besonnenheit auf und fügte hinzu: „Ich bin kein Engel, doch (mein Bein zu verlieren) hatte ich nicht verdient.“

Eine Woche später wurde publik, ein junger Mann – er war möglicherweise in eine Bauhütte eingebrochen- sei nächtlich vor der Polizei geflüchtet, dabei bei der Île de Saint-de-Denis (an der Grenze zwischen beiden o.g. Bezirken) in einen Arm der Seine gesprungen und beinahe ertrunken. Die Polizisten zogen ihn aus dem Wasser, doch wurden dabei rassistische Sprüche aufgezeichnet („Ein Kanake, das schwimmt nicht“, „Du hättest ihn mit einem Stein beschweren sollen“; vgl. bspw. : https://www.charentelibre.fr/ ) und es kam möglicherweise zu Misshandlungen im Polizeiauto. Zwei beteiligte Polizeibeamte wurden nach Bekanntwerden des Skandals am 27. April 20 vom Dienst suspendiert. Vgl. https://www.20minutes.fr/ und https://www.francetvinfo.fr sowie http://www.leparisien.fr/

Und zur Strafanzeige der beiden Urheber des Videofilms von der Szene: http://www.leparisien.fr/

Im Zuge beider Affären brannte es mehrere Nächte lang an mehreren Stellen in umliegenden Städten (vgl. u.a. https://www.bondyblog.fr oder https://fr.sputniknews.com/ ); und die extreme Rechte nutzte dies wiederum als Anlass zur öffentlichen Agitation, um die Polizei dazu aufzurufen, „das Pack unschädlich zu machen“ (vgl. https://www.laprovence.com)

Mittlerweile sind diese Unruhen wieder abgeklungen. Die Sprengkraft der sozialen Frage bleibt. Es fragt sich nur, wie und mit welchen Auswirkungen diese Dynamik sich eventuell Luft verschafft.

Editorischer Hinweis

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.

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