Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Im „sanitären Ausnahmezustand“

Bericht
vom 27. April 2020
 

05/2020

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Das Berufungs-Urteil zu Amazon Frankreich während der Corona-Krise fiel am Freitag, den 24.04.20 – Auch zum Urteil in der Sache CGT gegen Carrefour (Lille) – Vielerorts finden Auseinandersetzungen um die künftige Wiederaufnahme der Arbeit statt

Wir kündigten in unserem letzten Artikel zu Frankreich (mit Stand vom Freitag, den 24. April d.J.) das zweitinstanzliche Urteil zu Amazon Frankreich an, das damals noch vom Berufungsgericht Versailles erwartet wurde. Es ging und geht um die Gesundheitsgefährdung von Lohnabhängigen während der Corona-Krise. Der Amazon-Konzern hatte Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil des Gerichts von Nanterre bei Paris vom 14. April dieses Jahres eingelegt. Es geht um die Berechtigung des Unternehmens, Lohnabhängige während des „sanitären Notstands“ zum Ausführen von Bestellungen einzusetzen (dieser gilt in Frankreich bis zum 11.05.20, wird jedoch voraussichtlich bis zum 23. Juli 20 verlängert, jedoch unter Lockerung der Ausgangsbeschränkung in der folgenden Phase ab dem 11. Mai).

Nun fiel dieses viel erwarteten Urteil auch, im weiteren Verlauf des Freitag Nachmittag (24. April 20); zum Inhalt: In der Substanz läuft das 24 Seiten umfassende Berufungsurteil darauf hinaus, dass Amazon – wie auch in erster Instanz - dazu verurteilt bleibt, für alle abhängig Beschäftigte eine Risikoanalyse für ihre jeweiligen Arbeitsplätze unter den Bedingungen der Epidemie/Pandemie zu erstellen. Die betreffenden Risiken werden für jedes einzelne der sechs Logistikzentren von Amazon in Frankreich, um die es konkret geht – für diese sechs Zentren hatte zuvor die Arbeitsinspektion (inspection du travail, eine Art Gewerbeaufsicht) Versäumnisberichte erstellt; insgesamt weist Amazon in Frankreich 23 Standorte auf – im Urteilstext hervorgehoben.

Zusätzlich unterstreicht das Urteil, dass bislang in mehreren Fällen das Beschäftigten-Vertretungsorgan CSE an den betreffenden Standorten rechtswidrig nicht angehört wurde. (CSE bedeutet: Comité social et économique, also „Wirtschafts- und Sozialausschuss“ – sehr vergröbert mit einem deutschen Betriebsrat vergleichbar, jedoch mit unterschiedlichen Aufgaben & Vollmachten diesem gegenüber, insbesondere gehört der Arbeitgeber dem französischen CSE im Unterschied zum deutschen BR an. Insbesondere, um ihn zu zwingen, vor dessen gewählten Mitgliedern seine Entscheidungen anzukündigen und deren Gründe im Einzelnen darzulegen; die Sitzungsprotokolle können im Falle eines späteren gerichtlichen Verfahrens gegen bestimmte Beschlüsse herangezogen werden.)

Das Berufungsgericht – die Cour d’appel – verurteilt folgerichtig, zuerst vor dem CSE jedes betroffenen Standorts die Risikobewertung darzulegen und diese mit ihm zu debattieren, bevor die dazu gehörigen Richtlinien vom Unternehmen verabschiedet werden.

Im Unterschied zum erstinstanzlichen Urteil aus Versailles vom 14.04.20 wird Amazon jedoch dazu autorisiert, eine breitere Sparte von Dienstleistungen anzubieten. Wie auch in erster Instanz akzeptierte das zuständige Gericht es also faktisch, die Verkaufserlebnis von Amazon einer Art gesellschaftlicher Bedarfsprüfung, also der Fragestellung nach gesellschaftlicher Notwendigkeit des jeweiligen Produkts – im Kontext der Corona-Krise – zu unterziehen. Bis dahin ging der Amazon-Konzern in Frankreich einfach hin und behauptete gegenüber den Protesten von abhängig Beschäftigten, die nicht ihre Gesundheit durch Arbeit während der sanitären Krise auf beengtem Raum riskieren mochten, man beschränke sich „in Frankreich und Italien (bis zum Ende der Corona-Krise) auf dringend erforderliche Lieferungen“; schlug jedoch einfach alle möglichen Bestellungen der Rubrik „dringend erforderlich“ zu.

Laut dem erstinstanzlichen Urteil vom 11. April dieses Jahres durfte der Dienstleister Amazon während der Dauer des „sanitären Notstands“ nur Grundbedarfsgüter wie Nahrungsmittel und medizinischen Bedarf, bspw. Fieberthermometer, ausliefern.

Das Berufungsurteil fügt dem nun eine breitere Produktpalette hinzu, auch wenn es die Angebotspalette ebenfalls einschränkt.

So dürfen künftig auch Produkte aus den Bereichen „High-Tech, Informatik, Bürobedarf“, Haustiernahrung/Heimtierbedarf, „Körperpflege“ sowie „Lebensmittelhandel, Getränke und Haushalt“ angeboten und ausgeliefert werden. (Ausgeschlossen bleiben also die im Vorfeld durch die Gewerkschaften besonders monierten Lieferungen etwa von Videospielen und Sex-Toys, wohl auch Heimwerkerartikel.)

Ein zweiter Unterschied im Vergleich zum erstinstanzlichen Urteil liegt darin, dass auch die Cour d’appel de Versailles – die zweite Instanz – ein pro Verfehlung (etwa pro illegal ausgelieferte Bestellung) oder pro Tag verspäteter Umsetzung fällig werdendes Strafgeld festsetzt, dieses jedoch heruntersetzt. Im erstinstanzlichen Urteil beträgt es eine Million Euro pro verbotener Handlung, im Berufungsurteil sind es je 100.000 Euro.

Vgl. dazu einzelne ausgewählte Artikel:

Und die Reaktion der klagenden Gewerkschaftsvereinigung Union syndicale Solidaires:

https://solidaires.org/Amazon-echec-et-mat

Anmerkung: Sowohl die Presse als auch die gewerkschaftliche Reaktion legen den Schwerpunkt darauf, dass Amazon auch in der Berufungsinstanz verloren habe, verurteilt bleibe und weiterhin Verbote einhalten müsse.

Lille

Ein Urteil fiel am selben Tag auch im nordfranzösischen Lille. Dort hatte der Gewerkschaftsdachverband CGT gegen die Supermarktkette Carrefour geklagt, in ihrer Niederlassung im ebenfalls nordfranzösischen Lomme nur noch die Abteilungen „Nahrungsmittel“, „Hygienebedarf“, Gesundheitsprodukte sowie Schreibbedarf zu öffnen, den Rest des Supermarkts – mit Ausnahme dieser Sparte – jedoch für die Dauer des „sanitären Notstands“ für den Publikumsbedarf zu schließen.

In diesem Falle unterlag jedoch die CGT, die bei ihren Forderungen verliert und 1.000 euro Prozesskosten an Carrefour zahlen soll. Das Gericht erhielt es nicht für erwiesen, dass die Öffnung oder Schließung weiterer als der genannten Abteilungen einen besonderen Einfluss auf die Risiken für das Supermarktpersonal habe. (Hat sie möglicherweise auch nicht speziell, jedoch wohl für den Personalbedarf während der Krise und den Zulauf an Kundinnen und Kunden?)

Sonstiges

Auch andernorts fanden und finden Konflikte um die Öffnung oder vorläufige Nichtöffnung von Arbeitsstätten während der Fortdauer der akuten sanitären Krise statt:

Liebe Leser/innen, wir bleiben am Ball!

Editorischer Hinweis

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.

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