Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Im „sanitären Ausnahmezustand“

Bericht
vom 13. April 2020

04/2020

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Staatliche Furcht vor dem „Tag danach“

Der Tag danach“ beunruhigt die französischen Polizei- und Nachrichtendienste. Gemeint ist die Zeit unmittelbar nach der Aufhebung der derzeit geltenden Ausgangsbeschränkungen. Laut einem Strategiepapier des Inlandsgeheimdiensts, das am Osterwochenende durch die Boulevardzeitung Le Parisien ausführlich zitiert wurde, fürchtet dieser ein Aufflammen sozialer Unruhen. Auszüge aus dem Dokument geistern seitdem durch bürgerliche Medien ebenso wie durch linke WhatsApp-Forengruppen.

Vorläufig scheint die Faktenlage dafür allerdings dünn zu sein. Die Zitate des Parisien basieren zunächst auf der Auswertung von Onlinemedien mit relativ geringer Reichweite in westfranzösischen Städten wie Nantes, Rennes und Rouen. Diese sind mehrheitlich an der Schnittstelle zwischen den Gelbwestenprotesten aus 2018/19 und der autonomen Szene angesiedelt und beschwören ohnehin immer die Aufstandsperspektive, nicht nur aus konkreten Anlässen. Darüber hinaus spricht das Strategiepapier allerdings von der Befürchtung, der Unmut der Protestierenden seit den „Gelbwesten“ – besser noch hätte man wahrscheinlich die gegen die Rentenreform im Winter 2019/20 angeführt – könnten sich mit dem des Personals im Gesundheitswesens zusammenballen.

Gesundheitspersonal steht unter Druck & macht Druck

Letzteres streikte in mehreren Wellen ein Jahr lang, seit dem März vorigen Jahres bis zum Beginn der Corona-Pandemie - und zwar genau dagegen, dass die aufeinander folgenden Regierungen das Gesundheitswesen kaputt sparten. Frankreich wies vor dem Beginn der Coronakrise 5.000 Intensivbetten auf, die inzwischen auf 7.000 aufgestockt wurden, in Deutschland waren es 28.000. Zugeständnisse von Regierungsseite gab es zunächst keine, abgesehen von einer Einmalprämie für das endlose überarbeitete Personal von rund 80 Euro, die eher als Spott denn als Entgegenkommen gewertet wurde. Vor dem Ausbruch der Pandemie hatte das Krankenhauspersonal jedoch nur begrenzte Mittel zur Durchsetzung, da seinen Arbeitskämpfen aufgrund der Patientenbindung Grenzen gesetzt sind und es zur Aufrechterhaltung der Versorgung unter Strafandrohung dienstverpflichtet (réquisitionné) werden kann. Bei den Demonstrationen gegen die Rentenreform floss der Unmut im Krankenhauswesen allerdings als wichtiger Faktor mit ein.

Dieses heiße Eisen bleibt für die Regierung auch künftig schwer zu handhaben, auch wenn Emmanuel Macron seit dem Beginn der Covid19-Seuche mehrmals verbal die Bedeutung des öffentlichen Gesundheitssystems betonte und eine „Aufwertung“ der Pflege- und Gesundheitsberufe ankündigte; es bleibt abzuwarten, wie diese aussehen. Angesichts der gänzlichen Planlosigkeit, mit welcher das Regierungslager zunächst in die Seuchenproblematik hineinstolperte, und der manifesten Lügen, mit denen Unzulänglichkeiten vertuscht wurden – im Jahr 2010 war ein Vorrat von einer Milliarde Gesichtsmasken angelegt worden, dieser wurde jedoch zerstört, um Lagerkosten zu sparen und um sie bei Bedarf vermeintlich in China einzukaufen – dürfte es für Sympathien im nun von Macron wie durch die Öffentlichkeit als „Helden“ gefeierten Krankenhauspersonal kaum reichen. Auch erklärt derzeit nur noch rund ein Drittel in Umfragen, dem Krisenmanagement der Regierung zu „vertrauen“.

Keine Sterne in Athen, kein Applaus für Macron

Am Donnerstag, den 09. April dieses Jahres suchte Präsident Macron ein Krankenhaus in der südlichen Pariser Vorstadt Le Kremlin-Bicêtre auf, wo Covid-Patienten behandelt werden. Journalisten waren nicht zugelassen, da Emmanuel Macron sich zuvor über „Ausrutscher in der Öffentlichkeitsarbeit“ seiner Umgebung erzürnt gezeigt hatten. Erstmals wurde ein solcher Auftritt ganz ohne Presse durchgezogen, und dies nicht wegen der Sicherheitsabstandsproblematik. Stattdessen filmten Mitarbeiter des Präsidialamts selbst die Visite und teilten die Bilder im Anschluss über die sozialen Netzwerke. Dabei wurde der Eindruck erweckt, das Krankenhauspersonal applaudiere dem Präsidenten. Allerdings hatten anwesende Beschäftigte ebenfalls gefilmt, und ihre Aufnahmen wurden durch die Gewerkschaften SUD und CGT veröffentlicht. Beifall gab es, wie sich aus ihren Bild- und Tonwiedergaben ergibt, tatsächlich. Allerdings nicht für Macron, sondern für eine Krankenschwester der Narkoseabteilung, die der CGT angehört und den Präsidenten bei seinem Auftauchen harsch kritisiert hatte.

Polizeitoter in neofaschistisch regierter Stadt

Vielleicht auch deswegen mobilisiert das Regierungslager schon vorbeugend eifrig die Polizei- und daneben auch Armeeangehörige. Bis zu 160.000 Sicherheitsheitskräfte gleichzeitig mobilisiert, um die Einhaltung der Ausgangsbeschränkungen zu kontrollieren. Diese mögen aufgrund der Ansteckungsgefahr medizinisch begründbar sein, zugleich macht die Regierung jedoch auch Politik damit. Und nicht nur sie: In der rechtsextrem regierten Stadt Béziers, deren Bürgermeister Robert Ménard die städtische Polizei in sechs Jahren verdreifachte, übernimmt diese die Kontrollen. Am vorigen Mittwoch, den 08. April d.J. kam in einem ihrer Fahrzeuge der 33jährige Obdachlose Mohamed Gabsi – seine Herkunft dürfte seine Überlebenschancen nicht aufgebessert haben – zu Tode, mutmaßlich erstickt. Er war zuvor wegen Nichteinhaltung der Ausgangssperre, die aufgrund einer Kommunalverordnung im Stadtgebiet in den Abend- und Nachtstunden eine totale ist, von ihr aufgegriffen.

Landesweit gilt kein totales Ausgangsverbot, jedoch muss jedes Verlassen der Wohnung durch ein zuvor ausgefülltes, unterschriebenes und mit der Uhrzeit versehenes Papier – das man bei sich trägt – begründet werden. Frankreichweit wurden bis Ende voriger Woche (d.h. 11./12. April 20) insgesamt neun Millionen Personenkontrollen durchgeführt und eine halbe Million Geldbußen verhängt, in einem halben Dutzend Fälle gegen „Serientäter“ auch mehrmonatige Haftstrafen.

Kampagne gegen häusliche Gewalt

Zugute halten muss man der Regierung unterdessen einen einzigen Punkt, nämlich, dass sie zugleich eine Informationskampagne zum Thema häusliche Gewalt auflegte. Die Anzeigen und/oder nachbarlichen Hinweise an die Behörden wegen (des Verdachts von) Gewalt gegen Kinder sollen seit Beginn der Ausgangsbeschränkungen um zwanzig Prozent zugenommen haben. Hingegen sank lt. Angaben aus dem Innenministerium in der zweiten Märzhälfte 2020 die Anzahl derer wegen Gewalt zwischen (Ehe)partner/inne/n zunächst um rund ein Viertel von 2.000 wöchentlich auf rund 1.500 wöchentlich, bevor sich der Wert ab Anfang April d.J. wieder auf rund 2.000 pro Woche einpendelte. Hier griff anscheinend zunächst der (in diesem Falle unerwünschte) Effekt der Ausgangsbeschränkungen, bevor die dazu eingeleiteten Gegenmaßnahmen ihrerseits wirken konnten.

Um es Frauen zu erleichtern, gegen gewalttätige Partner um Hilfe zu rufen und nicht wegen der Mobilitätssperren in der Falle zu sitzen, wurde eine Notfall-Telefonnummer (3919) eingerichtet, und Anzeigen zum Thema können auch in Apotheken abgegeben und an die Polizei weitergeleitet werden.

Nationalistisches Gepöbel im Grenzgebiet

Die generellen Auflagen sind erheblich strenger als meistenorts in Deutschland, wobei auch das Ausmaß der Seuche ein anderes ist: Zu Wochenbeginn wies Frankreich rund 14.000 Tote auf, Deutschland rund 2.500 Tote. Französische Staatsbürger wurden in diesem Kontext im Grenzgebiet in manchen deutschen Städten angepöbelt, ja mit Steinen beworfen. Am Osterwochenende verurteilten zunächst mehrere Bürgermeister(innen?) im Saarland und dann auch das Außenministerium in Berlin solche Vorkommnisse.

Öffentliche Dienste und französischer Postkonzern

In den öffentlichen Diensten – wo Arbeitsniederlegungen zuvor angekündigt werden müssen, anders als in der Privatwirtschaft – hinterlegte die CGT eine Streikwarnung für die Periode vom 1. bis zum 30. April 20. Daraufhin blies ihr zunächst in Teilen der öffentlichen Meinung auch ein ziemlich kalter Wind ins Gesicht, in bürgerlichen Medien wurde dies als verantwortungslos dargestellt. In Wirklichkeit geht es allerdings nicht um einen tatsächlich stattfindenden, kollektiv durchgeführten Arbeitskampf. Vielmehr handelt es sich um um eine juristische Rückendeckung für alle auftauchenden Fälle von Arbeitsverweigerung infolge von Gesundheitsgefährdung – im Zusammenhang mit der sanitären Krise -, in denen die Arbeitgeber sich weigern, die Ausübung des Rechts auf individuelle Arbeitsverweigerung anzuerkennen. Grundsätzlich dürfen Lohnabhängige bei einer Gefährdung für ihr Leben oder ihre Gesundheit ihre Arbeitsleistung zurückzuhalten. Dabei behalten sie ihren vollständigen Lohnanspruch, sofern der Arbeitgeber entweder für diese Gefährdung verantwortlich war oder ihr nicht unter Ausschöpfung aller vorhandenen Möglichkeiten Abhilfe verschafft. In diesem Falle kann der Arbeitgeber überdies keinerlei disziplinarrechtliche Sanktionen wegen Arbeitsverweigerung aussprechen. Verweigert allerdings der Arbeitgeber das Vorliegen eines solchen Zustands, dann müssen die abhängig Beschäftigten sich gerichtlich ihr Recht erstreiten, eventuell auch eine bereits erlittene Sanktion oder gar Kündigung anfechten. Um eine solche Zwangslage von vornherein zu vermeiden, sprach die Gewerkschaft eine allgemeine Streikankündigung aus, die die Beschäftigten vor Sanktionen schützt, da sie sie so auf ein Grundrecht berufen können. Allerdings entfällt im Streikfalle, anders als beim Zurückbehaltungsrecht, auch jeglicher Bezahlungsanspruch.

Deswegen optieren die Lohnabhängigen, wo immer möglich, dennoch eher für das individuelle Arbeitsverweigerungsrecht, von dem jedoch oft in konzertierter Weise, also durch viele Einzelne auf einmal, Gebrauch gemacht wird. Beim französischen Postkonzern sind es mindestens 10.000 Beschäftigte, die in diesem Rahmen die Arbeit niederlegten. Ende März d.J. verurteilte ein Pariser Gericht überdies (auf Antrag der Basisgewerkschaft SUD-PTT hin) La Poste dazu, nachzuweisen, welche Schutzvorkehrungen gegen Risiken einer Ansteckungs getroffen würden.

Arbeitskampf bei der Müllabfuhr in Poitiers

In den kollektiven Streik traten dagegen fünfzig Beschäftigte der Müllentsorgung im westfranzösischen Poitiers, deren Dienst vor einem Jahr frisch ge-outsourced worden war. Die Privatfirma, bei der sie nun angestellt sind, griff auf einen Trick zurück und lässt sie seit Beginn der Coronakrise jede zweite Woche durch Kurzarbeitgeld vom Staat bezahlen. Dieses beträgt in Frankreich 84 Prozent des Nettogehalts, liegt damit höher als in Deutschland, und wird derzeit an acht Millionen Beschäftigte ausgezahlt. Voraussetzung ist die vorübergehende Unmöglichkeit einer Weiterbeschäftigung. Im Falle von Poitiers geht es dem Arbeitgeber jedoch schlicht darum, Kosten vom Staat übernehmen zu lassen. Die Beschäftigten arbeiten zwar nur jede zweite Woche, sollen dann aber acht statt sonst üblichen drei Tonnen Abfälle entsorgen. Ferner sieht der Staat vor, dass Firmen – auf freiwilliger Basis – ihren Beschäftigten, die in der Coronakrise weiterarbeiten, bis zu 2.000 Euro Jahresprämie ausbezahlen und die dafür aufgewendeten Gelder von der Unternehmensbesteuerung ausnehmen können. Bei der Müllabfuhr in Poitiers sollten es jedoch nur 150 Euro Jahresprämie werden. Daraufhin traten rund drei Viertel der Belegschaft in den Streik. Betrug mit Kurzarbeitergeld durch die Arbeitgeber auf der Suche nach Einsparungsmöglichkeiten gibt es jedoch auch andernorts.

Amazon amazont

Besonderen Konfliktstoff birgt die Frage, welche Dienstleistungen oder Produktionen in der derzeitigen Situation als unabdingbar gelten und weiterarbeiten sollen. Beim Lieferanten Amazon bemängeln Gewerkschaftsvertreter/innen, dass Lohnabhängige nicht nur zum Liefern von Bestellungen etwa medizinischen Materials aufgefordert würden, sondern zur Auslieferung etwa von DVDs, von Videospielen und Sex-toys. Dazu erlitten abhängige Beschäftigte Druck von ihrer Hierarchie.

Der Zorn stieg noch an, seitdem mindestens ein Covid19-Ausbruchsfall bei Amazon, in einer Lagerhalle in Saran in der Nähe von Orléans, bestätigt wurde. Ursprünglich hatte Amazon infolge des Eintritts Ausrufung der Mobilitätsbeschränkungen durch die Regierung am 17. März das Personal an den Standorten noch aufstocken wollen, um den erwarteten oder eintreffenden Kundenbestellungen nachzukommen – also mehr Leute auf den vorhandenen Raum zu packen versucht, statt Sicherheitsabstände einzuführen. Auch Wirtschaftsminister Bruno Le Maire sprach daraufhin einige kritische Worte in Richtung Amazon aus. Zwei leitende Manager mussten daraufhin ihren Hut nehmen, der bisherige Europa-Chef Roy Perticucci und die Leiterin des betroffenen Standorts in Saran, Ana Fernandes ; offiziell völlig-ohne-Zusammenhang-mit-den-bedauerlichen-Vorfällen-und-aus-familiären-Gründen.

Daraufhin erklärte Amazon seine Bereitschaft, sich in Frankreich und Italien auf die dringlichsten Lieferungen zu beschränken – doch dies bleibt Auslegungssache. Die Interpretation durch die Direktion erfolgte derart großzügig, dass Anfang April d.J. sogar die sozialpartnerschaftlich ausgerichtete Gewerkschaft CFDT einen Streikaufruf für Amazon abgab.

Ministerielle Strafanzeige gegen die CGT

Hinter den Kulissen heftigsten Druck erfährt unterdessen die Arbeitsaufsicht (inspection du travail), die dem Arbeits- und Sozialministerium untersteht und über die Einhaltung bestehender Lohnabhängigenrechte und Arbeitsvorschriften, derzeit natürlich zuvörderst auch über Maßnahmen gegen sanitäre Risiken zu wachen hat. Dort tobt ein Ausrichtungskampf um die Tragweite von Kontrollen, während die oberste Vorgesetzte - Arbeitsministerin Murielle Pénicaud - eifrig gegen den „Defätismus“ auch auf Arbeitgeberseite und gegen die Arbeitsunwilligkeit in der Coronakrise zu Felde zieht. Und infolge von Briefwechseln zwischen der CGT und einem Direktor im Arbeitsministerium, Yves Struillou, vom 18. und 19. März 20 drohte Letzterer nun gar der CGT mit einer Strafanzeige. Grund dafür: Amtsanmaßung, welche ihm zufolge vorliege, weil die CGT fälschlich den Eindruck erwecke, das Ministerium erlaube es Lohnabhängigen in der aktuellen Situation grundsätzlich, von ihrem ihrem Zurückbehaltungsrecht Gebrauch zu machen.

Editorischer Hinweis
Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe. Eine erheblich gekürzte Fassung wurde in der Wochenzeitung Jungle World vom 16. April 20 veröffentlicht.