Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Im „sanitären Ausnahmezustand“

Bericht
vom 17. April 2020

04/2020

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Ministerieller Druck auf die Arbeitsinspektion eskaliert – Amazon reagiert auf das Urteil vom Dienstag, den 14. April: Drohung mit dem altbekannten Argument „Arbeitsplätze-Erpressung“ – Bildungsgewerkschaften laufen Sturm gegen Instrumentalisierung für das Wiederanfahren der Ökonomie – Hunger droht in Französisch-Guyana und Mayotte

Das nennt man „Sinn für Prioritäten haben“: In der sanitären Krise und während die Zahl der Kurzarbeiter/innen in Frankreich neun Millionen erreicht, hat die amtierende Arbeitsministerin Muriel Pénicaud augenscheinlich nichts Wichtigeres zu tun, als disziplinarrechtliche Schritte gegen einen unbotmäßige Arbeitsinspektor einzuleiten. Die „Arbeitsinspektion“ (inspection du travail) in Frankreich ist eine Art Gewerbeaufsicht, die über die Einhalt bestehender Arbeitsschutzvorschriften, Arbeitsgesetze und auch geltender Kollektivverträge durch die Unternehmen zu wachen hat.

Ein Bediensteter des Gewerbeaufsichtsamts im ostfranzösischen Département Marne, Anthony Smith, nahm es mit diesen Aufgaben jedoch in ihren Augen zu genau. Nunmehr droht ihm deswegen die Kündigung !), vorläufig bleibt er bis zu einer definitiven Entscheidung vom Dienst suspendiert. Das CGT-Mitglied hatte sich „erdreistet“, in dienstlichen Schreiben mehrere Arbeitgeber auf die einzuhaltenden Schutzvorschriften gegen das Risiko einer Kontamination mit em neuartigen Coronavirus (SARS Cov-2) hinzuweisen. Darüber hinaus hatte er ein Gerichtsverfahren im Weg der – auf eine Einstweilige Verfügung abzielenden – Eilklage gegen einen Arbeitgeber, der Heimpflege (Zu-Hause-Betreuung) organisiert, angestrengt. Dieses zielte darauf ab, den im Sozial- und Pflegesektor tätigen Arbeitgeber dazu zu zwingen, seinen Mitarbeiter/inne/n Schutzmaterial wie etwa Schutzmasken zur Verfügung zu stellen, nachdem bereits dortige Angestellte an Covid-19 erkankten. Bekanntlich herrscht in Frankreich ein schreiender Mangel an Gesichtsmasken – eine Großbestellung wurde durch die Regierung in China (ja doch) aufgegeben und soll nun bis „Ende Juni“ d.J. eintreffen, bravo aber auch -, doch die vorhandenen bzw. nun auch durch eine Reihe von französischen Unternehmen im Rhythmus von sechs Millionen Stück wöchentlich produzierten Masken werden vorrangig für das Gesundheitspersonal reserviert; müssten also auch Krankenpflegern und Krankenschwestern in der Heimpflege zugute kommen.

Die CGT protestiert energisch gegen diese gravierende Drohung aus dem Arbeitsministerium; vgl. http://cgt-tefp.fr/ – Vier Branchengewerkschaften, die beim Personal der Arbeitsinspektion vertreten sind (CGT, SUD, FSU und CNT) rufen nun dagegen gemeinsam die Internationale Arbeitsorganisation (englisch und deutsch: ILO, französisch: OIT) an. Vgl. dazu: https://assawra.blogspot.com

Amazon reagierte inzwischen auf das Urteil vom Dienstag, den 14. April 20, das den Konzern dazu zwingt, sich für die Dauer der akuten sanitären Krise auf lebensnotwendige Lieferungen (Nahrungsmittel und Gesundheitsprodukte wie bspw. Fieberthermometer) zu beschränken. Amazon muss infolge des Urteils sechs Logistikzentren in Frankreich vorläufig dichtmachen, um die vom Gericht geforderte Risikobewertung an den Arbeitsplätzen durchzuführen. Am Montag, den 20. April 20 wollte Amazon jedoch dort, wo es rechtlich zulässig bzw. nach dem Gerichtsurteil erlaubt ist, ursprünglich wieder öffnen. Nunmehr kündigt die Amazon-Zentrale jedoch an, das Datum stehe in Frage; vgl. https://www.lesechos.fr/

NACHTRÄGLICHER ZUSATZ: Laut neuesten Meldungen ist eine Wiederöffnung am Mittwoch, den 22. April geplant – wohl, um abzuwarten, wie die am Dienstag, den 21. April geplante Anhörung im Berufungsverfahren (vgl. unten) läuft. -


Der Konzern kündigte an, Berufung gegen die Einstweilige Verfügung vom 14. April d.J. einzulegen; vgl.
https://www.francetvinfo.fr/ - Die Berufungsverhandlung dazu findet nun am Dienstag, den 21. April vor dem zweitinstanzlichen Gericht in Versailles statt: https://www.lefigaro.fr/

Und, vor allem, droht der Konzern nun mit einem altbekannten hübschen „Argument“: dem der Arbeitsplätzeerpressung; und bejammert, nun seien „Tausende von Beschäftigten zur Kurzarbeit verdammt“ (Vgl. https://www.lesechos.fr/)

Bereits vor dem Urteil hatten die Praktiken von Amazon in Frankreich in den Augen Vieler derart zum Himmel gestunken, dass es auch aus der Regierung ein paar harsche offizielle Worte in Richtung Amazon gegeben hat. Und sogar die CFDT rief seit voriger Woche zum Streiken bei Amazon auf… Vgl. : https://www.cfdt.fr/ und https://www.francebleu.fr/  oder https://www.bfmtv.com/ - Beim wirtschaftsliberalen Fernsehsender BFM TV beklagte sich unterdessen zu später Abendstunde ein Wirtschaftsredakteur darüber, Amazon würden infolge des Gerichtsurteils Maßnahmen aufgezwungen, denen andere Arbeitgeber entgingen…

Heftige Konflikte scheinen sich im öffentlichen Bildungswesen abzuzeichnen. Französische Schulen sollen voraussichtlich ab dem 11. Mai 20 wieder öffnen (gutgut, in mehreren deutschen Bundesländern noch früher, doch die Pandemie hat Frankreich ungleich stärker als die Bundesrepublik erfasst: mit rund 16.000 im Vergleich zu rund 3.000 Toten bisher…). Die unerklärte bzw. in den offiziellen Erklärungen ziemlich deutlich durchschimmernde Motivation dahinter lautet, die Produktion in vielen Unternehmen können nicht wieder auf Vor-Krisen-Niveau anfahren, wenn Eltern wegen ihrer noch der Aufsicht bedürfende, jüngeren Kinder zu Hause bleiben müssten; diese Eltern durften sich bislang krankmelden, werden jedoch in Kürze nun ebenfalls unter die Kurzarbeitsregel fallen, und zwar ab dem 01.05. diese Jahres (vgl. http://www.leparisien.fr)

Nun wirft der Unterrichts-Ausfall seit Mitte März d.J., bzw. seine Ersetzung durch Heimarbeit, Fern- und Online-Unterricht, zwar durchaus Probleme aus Sicht der Bildungsbeschäftigten selbst auf. Denn objektiv sehen sich die Schüler/innen dabei erheblich ungleichen Voraussetzungen ausgesetzt, je nachdem, wie die Eltern bei der Arbeit für die Schule helfen oder eben nicht behilflich sein können – je nach kulturellem und bildungsmäßigem Gepäck, Erwerbstätigkeit oder nicht in dieser Periode, Personenzahl auf dem vorhandenen Wohnraum und Wohnungsgröße, Ausstattung oder Schlecht- bzw. Nichtausstattung mit Computern und anderem technischem Material. Doch die Regierungsentscheidung, die überwiegend rein ökonomischen und nicht in erster Linie pädagogischen Imperativen folgt/gehorcht, stößt auf nahezu einhellige Ablehnung. Ihn formulierten auf den TV-Bildschirmen in den letzten Tagen etwa die Lehrerin und bekannte linke Aktivistin Mathilde Eisenberg oder der CGT-Bildungsgewerkschafter Benjamin Amar (er stauchte in der Nacht vom 16. zum 17. April die halb durchgeknallte neoliberale Predigerin Agnès Verdier-Molinié auf BFM TV tüchtig zusammen). Dazu gibt es mittlerweile auch Aufrufe aus gewerkschaftlichen Kreisen.

Vgl. bspw. :

Besorgnis erregend bleibt unterdessen die Lage in mehreren französischen „Übersee“gebieten, wo die soziologische Zusammensetzung der Bevölkerung – mit einem hohen Anteil an Beschäftigten im „informellen Sektor“ insbesondere auf der Insel Mayotte (im Indischen Ozean, Teil des Komoren-Archipels, seit 2009 das „101. Französische Département“) - und eine Kombination aus Wohnverhältnissen und hohen Außentemperaturen das von der „Metropole“ (d.h. Festlandfrankreich) übernommene Modell der Ausgangsbeschränkungen das Leben extrem erschweren. Die Verhältnisse in den einzelnen französischen „Überseebezirken“ und „Überseeterritorien“ (in bzw. an der Karibik, im Nordatlantik, im Indischen Ozean, im Westpazifik) sind dabei durchaus unterschiedlich. Vor allem auf Mayotte sowie in Französisch-Guyana droht jedoch Teilen der Bevölkerung nunmehr schlichtweg Hunger. Auch darauf werden wir diesen Spalten zurückkommen.

Vgl. dazu u.a. :

Editorischer Hinweis
Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe.