Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Sozialprotest in Frankreich  

03/2020

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Bericht vom 03./06. Februar 2020
Neue Debatte um Polizeigewalt

Die Damen und Herren von der Polizei waren sehr unzufrieden. Da hat man schon ein Imageproblem, und nun fällt einem auch noch der Staatspräsident in den Rücken! Am vorigen Donnerstag, den 31. Januar d.J. reiste Emmanuel Macron zur Eröffnung der jährlich im Januar stattfindenden Comicmesse im südwestfranzösischen Angoulême an. Dort drückte ihm der 45jährige Comiczeichner Jul – mit bürgerlichem Namen Julien Berjeaut – ein T-Shirt für ein gemeinsames Photo in die Hand. Auf ihm hatte er das offizielle Motto der Messe, BD 2020 – das Kürzel steht für bandes dessinées, also Comicstrips – in LBD 2020 abgewandelt. Dadurch ändert sich der Sinngehalt. LBD, in der Langfassung lanceur de balles de défense (Werfer von Verteidigungskugeln), ist die Gattungsbezeichnung für Gummigeschossgewehre, die bei der französischen Polizei im Einsatz sind. Die bekannteste Variante ist der LBD 40, wobei die Zahl für das Kaliber, in Millimetern ausgedrückt, steht.

Auf dem T-Shirt von Jul sieht man ferner eine Katze, die zwei kreuzförmig übereinander geklebte Pflaster über dem oder anstelle des linken Auges trägt. Etwas Blut rinnt über das Heftpflaster. Die Anspielung wurde in Frankreich allgemein verstanden. Rund fünfundzwanzig Menschen verloren im vergangenen Jahr bei Demonstrationen, überwiegend im Zusammenhang mit den Protesten der Gelbwestenbewegung, ihr Augenlicht auf einer Seite infolge des Einsatzes solcher Gummigeschosse.

Am bekanntesten wurde der, eher zum linken Flügel zählende, Gelbwestenexponent Jérôme Rodrigues: Ihm wurde am 13. Februar 2019 auf der place de la République in Paris, auf der er zu dem Zeitpunkt ruhig stehend verweilte – während andere Personen an den Rändern des Platzes in Auseinandersetzungen verwickelt waren – ein Auge zerschossen. Am 28. Dezember 19 wurde er, anlässlich einer Demonstration zur Streikunterstützung in Paris im Zusammenhang mit der derzeit umkämpften Rentenreform, erneut an einem seiner beiden Augen verletzt. Dieses Mal allerdings entweder durch einen Knüppelschlag oder durch eine harte Berührung mit einem Polizeischild, in einem kleinen Handgemenge.

Prominent wurde auch der Fall des 41jährigen Leiharbeiters aus Valenciennes, dessen Vorname Manuel im November vergangenen Jahres durch nahezu alle Medien ging. Bei den Protesten am 16. November 19, aus Anlass des ersten Jahrestags der Gelbwestenbewegung, war er in Paris auf der place d’Italie an einem Auge, das dabei zerstört wurde, verletzt wurden. In diesem Falle zeigten jedoch erstmals Videos genau, wie das Gummigeschoss ihn traf, während er offenkundig ruhig und mehrere Hundert Meter entfernt von den andernorts stattfindenden Zusammenstößen herum stand. Dieses Mal berichteten auch bürgerliche Leitmedien breit und mit empörtem Unterton. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate erfasste eine Welle der Entrüstung auch relevante Teile der bürgerlichen, mindestens der liberalen Öffentlichkeit weit über die „üblichen Verdächtigen“ auf der Linken, bei den Gelbwesten und sozialen Bewegungen hinaus. Erstmals hatte das Verschwinden des 24jährigen Partygängers Steve Maia Camiço am 21. Juni vergangenen Jahres – dem Abend des jährlichen Musikfests - in Nantes einen solchen Effekt gezeitigt. Alle Welt redete auch in etablierten Medien von dem jungen Mann nur noch mit seinem Vornamen.

Diesbezüglich gab es in den letzten Monaten politischen Streit zwischen den Kritikern und Innenminister Christophe Castaner – einem früheren rechten Sozialdemokraten und jetzigen Parteigänger Macrons -, der sich etwa im vorigen Juni, fünf Tage vor dem Verschwinden von Steve, dahingehend äußerte, er lehne den Gebrauch des Begriffs „Polizeigewalt“ ab. Dieser suggeriere, eventuell zu beklagende Einzelfälle von Verfehlungen hätten in irgendeiner Art und Weise System; nicht doch, das durfte nicht sein.

Zwar sagt auch sein oberstes Vorgesetzter, Staatschef Emmanuel Macron, in der Sache nichts Anderes. Doch verband er diese Aussage, die er vorige Woche in Angoulême sinngemäß wiederholte – die Polizei sei nicht gewalttätig, es gebe jedoch individuelle Fehltritte, für diese gebe es Verfahren – mit einer Aufforderung an die Polizisten: Er dulde keine Übertretungen des Dienstrechts (déontologie), ansonsten fordere er Sanktionen. Und er akzeptierte es, mit dem von Jul gezeichneten T-Shirt vor den Kameras zu posieren.

Dies war kein revolutionärer Akt. Emmanuel Macron liebt es, bei manchen Auftritten eine verständige bis kumpelhafte Pose einzunehmen. Vor etwas über einem Jahr wurde dies nach einem Besuch auf den Antillen zum Vorwurf erhoben, weil er mit schwarzen Karibikjugendlichen mit freiem Oberkörper posiert hatte, obwohl es nach Haschisch roch, wie er selbst anmerkte. Einer der jungen Männer war daraufhin mit einem „Stinkefinger“ auf einem der Photos zu sehen. Der Präsident gebe die Staatsmacht der Lächerlichkeit preis, tobte daraufhin die politische Rechte ein paar Tage lang.

Ähnlich reagierten nunmehr die Polizeigewerkschaften auf Macrons jüngsten Auftritt. Der Generalsekretär der stärksten Polizeigewerkschaft, Alliance – Fabien Vanhemelryck – reagierte etwa mit den Worten, Polizei und Gendarmerie seien „die letzten Festungswälle der Republik“ (les derniers remparts de la République) in diesen „Zeiten des Chaos“. Und man „erwartet etwas Anderes von einem Präsidenten, als dass er sich mit einem T-Shirt zeigt, das suggeriert, die Einsatzkräften sorgten dafür, dass Demonstranten ein Auge verlieren“. Der Zeichner Jul selbst analysierte die Szene anders: „Macron ist sich darüber bewusst, dass Kritik verdaut und in seinen eigenen Diskurs integriert werden kann, wenn er ihr nur mit genügend Intelligenz und Humor begegnet.“

Neue Vorfälle ließen die Polemik erst in den letzten Wochen wieder aufleben. So hatten Polizisten bei den Demonstrationen gegen die Rentenreform am 09. Januar d.J. etwa eine Demonstration, die lediglich in der Nähe ihrer Spalierreihe ihr Handy am Boden aufheben wollte - und der als „moderat“ geltenden Gewerkschaft UNSA bei der RATP angehörte - geschlagen. Die Bilder eines Videos gingen quer durch die Medien.

Um auf die aufflammende Debatte zu reagieren, tat Innenminister Christoph Castaner nun eine Ankündigung: Er werde, verlautbarte er Ende Januar, die umstrittene Polizeigranate GLIF4 aus dem Verkehr ziehen.

Diese enthält den Strengstoff TNT und verströmt beim Aufplatzen Tränengas, soll aber auch eine Blend-Schock-Wirkung entfalten. Als im Jahr 2014 ein Lohnabhängiger der Fabrik Alsetex, wo die Geschosse hergestellt wurden, bei einem Arbeitsunfall zu Tode kam, wurde die Produktion vorübergehend eingestellt. Im selben Jahr kam ein Untersuchungsbericht der Dienstinspektion IGPN – die dem Innenministerium, jedoch nicht direkt der Polizeihierarchie untersteht und die Einsatzkräfte kontrollieren soll, mit umstrittener Effizienz – zu dem Ergebnis, explodiere diese Granate auf Oberkörperhöhe, könne ein Tötungsrisiko bestehen. 2017 hatte die Regierung ihren Entschluss verkündet, die Herstellung von Granaten einzustellen. Allerdings sollten ihre vorhandenen Bestände noch benutzt werden, bis diese aufgebraucht seien, „bis zum Zeithorizont 2020 bis 2022“. Welcher nun also erreicht sein dürfte.

Anscheinend wie aus heiterem Himmel verkündete Innenminister Castaner nun am 27. Januar dieses Jahres die GLIF4 werde nunmehr aus dem Verkehr gezogen. Die Kehrseite dieser Ankündigung ist aber, dass die GLIF4 umgehend durch eine andere Granate ersetzt wird – die GM2L -, die zwar kein TNT, sondern andere Substanzen enthält, jedoch eine vergleichbare Sprengwirkung aufweist.

Die sozialdemokratisch geprägte, traditionsreiche „Liga für Menschenrechte“ (LDH) begrüßte diese Maßnahme, obwohl sie sie auch als „reichlich spät kommend“ bezeichnete. Anders reagierten mehrere Anwälte in einem Kommuniqué, unter ihnen Arié Alimi – obwohl selbst einer der Rechtsvertreter und Vorstandsmitglieder der LDH -, die von einer „PR-Operation“ (opération de communication) sprachen und auf den Austausch dieser Polizeiwaffe durch eine andere, vergleichbare hinwiesen.

Parallel dazu waren in allerjüngster Zeit keine neuen Vorfälle von Polizeigewalt zu verzeichnen. Die Ursache liegt aber nicht so sehr in einem weniger repressiven Vorgehen der Polizei. Die Regierung schien sie vielmehr taktisch zurückzupfeifen, um keine Bilder von Konfrontationen zu produzieren. Denn während sie gleichzeitig überall verkündet, die Sozialproteste gingen angeblich ständig zurück, wäre es kontraproduktiv, gleichzeitig eine permanente Gewaltdebatte in den Medien laufen zu haben. Erwecken diese doch einen anderen Eindruck als den der Beruhigung. Totschweigen von Protesten scheint der Regierung derzeit lieber, als auf den Knüppel zu setzen.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe.