Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Sozialprotest in Frankreich

02/2020

trend
onlinezeitung

Bericht vom 17. Januar 2020

Häfen blockiert, Streiks im Schulwesen und bei
Anwält-innen gegen die Renten-„reform“

Das aktuelle Titel des aggressiv konservativ-wirtschaftsliberalen französischen Wochenmagazins Le Point (Ausgabe vom 16.01.20) lautet: „Wie die CGT Frankreich ruiniert.“ – Vgl. https://boutique.lepoint.fr/ - Empirisch belegt dieser Titel wohl nur Eines, nämlich dass es bisweilen Individuen gibt, die sich (mit allem Verlaub) redlich darum bemühen, zu verdienen, auf die Fr… nein, nicht doch. Unterdessen kommentierte eine Stimme in einer WhatsApp-Gruppe der Streikunterstützer/innen sarkastisch: „Da sieht man doch, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden!“

Auch am gestrigen Donnerstag, den 16. Januar 20 demonstrierten wiederum Zehntausende Menschen in Paris (ein paar Aufnahmen werden wir in Bälde veröffentlichen) und Hunderttausende in ganz Frankreich gegen die Regierungspläne zum Umbau des Rentensystems.

Mehrere bürgerliche Medien versuchten dabei beharrlich den Eindruck zu erwecken, die Mobilisierung gehe unablässig zurück. Der einflussreiche Privatfernsehsender BFM TV (B für business und FM für „Mittelfrequenz“) warf am Abend gar die Suggestivfrage auf: „Wer sind die letzten Streikenden, wie halten sie durch?“

Ausmaß und Entschlossenheit der kurz zuvor zu Ende gegangenen Demonstration besagten jedoch das Gegenteil. Das Innenministerium und den Streikenden wenig wohl gesonnene Medien veröffentlichten Zahlenangaben, die den Eindruck erwecken sollten, die Mobilisierung sei rückläufig, und verglichen diese zu dem Zweck mit dem Donnerstag der Vorwoche. An jenem 09. Januar 20 waren die Demonstrationen, nach dem Rückgang in der Weihnachts- und Neujahrsperiode, tatsächlich die größten. Danach folgten einige weitere Demonstrationen, die ebenfalls groß ausfielen (wie am Samstag, den 11. Januar d.J.), doch darunter lagen. An diesem Donnerstag, den 16.01.20 nahm die Beteiligung jedoch gegenüber den dazwischen liegenden Protestzügen, wie am vorigen Samstag und zu Wochenbeginn, wieder zu.

Nach 24stündiger Besetzung durch streikende Beschäftigte zusammen mit Lehrkräften und Protestierenden aus anderen Sektoren wurde die riesige Müllverbrennungsanlage in Ivry-sur-Seine, einer Vorstadt südöstlich von Paris, geräumt. (Vgl. https://actu.fr) Ähnliche Besetzungsaktionen sind auch andernorts in Frankreich zu verzeichnen ; vgl. zu Cherbourg : https://www.ouest-france.fr/

Unterdessen entwickelten vor allem die Hafenblockaden dieser Woche etwa in Saint-Nazaire, Le Havre und Marseille einige Wirkung. (Vgl. https://www.francetvinfo.fr) Der Flugzeughersteller Airbus in Toulouse soll etwa bereits an Nachschub von einzelnen Bauteilen mangeln. Zugleich äußerten sich mehrere Arbeitgeberverbände der Transportbranche besorgt über die Auswirkungen der Hafenstreiks und -blockaden. (Vgl. https://www.lefigaro.fr/ )

Währenddessen breitet sich eine Aktionsform aus, die darin besteht, auf symbolische Weise die Ausübung der eigenen Funktion unter den aktuell herrschenden Bedingungen abzulehnen. So warfen Pflegekräfte beispielsweise im nordfranzösischen Lille ihre weißen Kittel in einer symbolischen Aktion vor dem örtlichen Gebäude der Krankenversicherung ab. (Vgl. https://www.lavoixdunord.fr/ ) Auch Ärztinnen und Ärzte machten bei solchen Aktivitäten mit; vgl. https://www.cnews.fr / Das Krankenhauswesen zählt derzeit, nach dem Bildungswesen, zu den mit am stärksten mobilisierten Gruppen in den Demonstrationen und den Protesten. Allerdings sind die Streik-Auswirkungen auf diesem Sektor nur begrenzt, da im Krankenhauswesen (bei Zuwiderhandeln sanktionsbewehrte) Dienstverpflichtungen oder réquisitions rechtlich möglich sind, während diese etwa in den Transportbetrieben nicht zulässig wären, trotz des Gesetzes über den Service minimum (Mindestdienst) von 2007: Letzteres verpflichtet die Transportunternehmen, Streikvorsorge zu treffen, erlaubt jedoch keinerlei Dienstverpflichtungen von Streikenden. - Dennoch sind die Krankenhäuser bei den Straßenprotesten sichtbar vertreten.

Beim öffentlich-rechtlichen Rundfunksender Radio France wurden die Neujahrswünsche der Direktorin eine Woche zuvor durch den, zum unpassenden – oder gar zu passenden – Moment loslegenden und nicht enden wollenden Chor unterbrochen; mit dem „Sklavenchor“ von Giuseppe Verdi. (Vgl. https://www.20minutes.fr/)

Den Anfang bei den symbolkräftigen „Büttel-hinschmeißen“-Aktionen (vgl. auch https://www.bfmtv.com/) machten wohl die Anwältinnen und Anwälte. Diese befinden sich seit dem 06. Januar 20 im Streik (natürlich nicht alle, und ansonsten nicht vollständig; aus eigener Praxis: Asylrechtstermine etwa lässt man nicht platzen, um nicht rechtlich Schwächere zu gefährden). Bei einem Auftritt der Justizministerin Nicole Bellebouet in Caen wurden ihr zahlreiche Roben – seit 1971 ist die Berufskleidung bei Gericht gesetzliche Pflicht – vor die Füße geworfen. (Vgl. https://www.bfmtv. und https://www.ouest-france.fr/normandie/ sowie https://france3-regions.) Die Ministerin setzte ihre Rede scheinbar ungerührt fort, ihr fiel keine Reaktion ein, was jedoch umso größeres Missfallen erweckte. Auch in anderen Städten fanden später solche Rübe-ab-, nein, nicht doch: solche Robe-Ablegen-Aktionen statt. (Vgl. aus Djion: https://france3-regions.francetvinfo und aus Nanterre bei Paris: https://actu.fr/)

Bei den Anwältinnen und Anwälten verhält es sich so, dass diese (der Autor zählt dazu) bislang über eine eigene Rentenkasse verfügen. Diese weist einen Überschuss auf, da (a.) im Falle dieser unserer Berufsgruppe das Verhältnis zwischen Rentner/inne/n und Beitragszahler/inne/n eine relativ niedrige „Rentenbezieherquote“ aufweist und weil (b.) zwar nicht alle Anwältinnen und Anwälte hohe Einkommen beziehen, beileibe nicht!, jedoch der Durchschnittsverdienst im Vergleich jedenfalls zu einer Reihe von Berufsgruppen vergleichsweise hoch liegt. NatÜrlich mit erheblichen Unterschieden innerhalb der Berufsgruppe. Die Regierungspläne sehen vor, diese besondere Rentenkasse abzuschaffen und in die allgemeine künftige Rentenversicherung einzugliedern. Dies würde auch mit höheren Beiträgen einhergehen; für Anwältinnen und Anwälte unterhalb von 40.000 Jahreseinkommen vor Versteuerung (d.i. ein Drittel der Gesamtzahl) würde der Beitragssatz von 14 % auf 28 % des Einkommens steigen. Es wird damit gerechnet, dass vor allem für viele Berufseinstieger/innen sowie für viele mehr oder minder sozial agierende – etwa staatliche Verfahrenskostenhilfe (Aide juridictionnelle) statt Honoraren akzeptierende – Kanzleien dies das Aus bedeuten könnte. Die Antworten, die aus der Berufsgruppe heraus gegeben wird, sind allerdings doppelter Natur: Lehnen die Einen die aktuell geplanten Verschlechterungen für ALLE Arbeitenden (ob selbständig oder lohnabhängig; unter den Anwältinnen waren im Jahr 2016 nur 4,7 % lohnabhängig, die übrigen Freiberufler/innen) ab, halten die Anderen vorwiegend an einer eigenen Kasse für die eigenen Berufsgruppe fest. Hier könnte man sicherlich über die jeweiligen Antworten konkret diskutieren. Die aktuelle Verschlechterung abzulehnen, löst jedoch einen weitgehenden Konsens aus.

Zu Wochenanfang unterbreitete die Justizministerin Bellebout den Kompromissvorschlag, eine eigene Kasse aufrecht zu erhalten, die jedoch nach den allgemeinen (künftig für alle Einkommensbezieher/innen verschlechterten) Regeln funktionieren soll. Bislang fand dies keine hinreichende Zustimmung.

In Paris stürmten unterdessen Lehrkräfte die Schulbehörde (le rectorat), im Rahmen einer Aktion black prof (profs = Lehrkräfte) unter sarkastischer Anlehnung an den Finanzriesen BlackRock, dessen Rolle bei der Anbahnung der „Reform“ in Frankreich derzeit besonders heftig umstritten ist. (Vgl. https://paris-luttes.info/)

Aktionen von Lehrkräften, vom symbolträchtigen Hinwerfen von Heften vor den Türen der Schulbehörde bis zu Besetzungen, fanden unterdessen auch in zahlreichen anderen französischen Städten statt:
 

Nächster zentraler Aktionstag (nach dezentralen am 22. und 23. Januar d.J.): am Freitag, den 24. Januar 20! Dem Tag, an dem der Ministerrat – le conseil des ministres – , also das Regierungskabinett den Gesetzentwurf absegnen soll, um ihn im Anschluss im Februar in die Nationalversammlung (das parlamentarische „Unterhaus“) einzubringen.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe.