Erste Impressionen von der Konferenz „Zweite Generation“ - 15. bis 16. Juni 2015 in Berlin

von Antonín Dick

5-6/2015

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Die Eröffnung der Konferenz der Zweiten Generation der Verfolgten des Naziregimes am Vormittag des 15. Juni 2015 fand im Festsaal der Berliner Stadtmission statt. Ich flüsterte meinem Nachbarn zu: „Schau mal, das Kreuz dort.“ An der Wand der Tribüne prangte ein riesengroßes christliches Kreuz aus Holz. Er sah von seinem Notizbuch auf, sagte dann grinsend: „Gott sei Dank eins ohne Haken.“

Mein Nachbar ist ein Rabbiner mit britischem Humor, sein Vater war 1933 aus Nazideutschland nach England geflohen. Man hatte es verabsäumt, die Symbole anderer Opfergruppen dort anzubringen, den Davidstern, ein Symbol der Roma und Sinti, ein Symbol der politischen Verfolgen, beispielsweise das Emblem der VVN, ein Symbol der schwul-lesbischen Bewegung, ein Symbol der Freimaurer usw. usf. Doch ein bemerkenswertes Bekenntnis war während der Eröffnung zu hören, das fast unterging, nämlich von einem Repräsentanten der Bundesstiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“, von Günter Saathoff. Als er sich vorstellte, sagte er schlicht: „Ich bin Nachkomme sowohl einer Familie von Opfern als auch einer von Tätern.“ Das ehrliche Wort hat mich tief berührt.

Was wir Verfolgtenkinder heute als Alltag in Deutschland erleben, ist die ständige Begegnung mit Kindern und Enkeln von Mitläufern, Profiteuren und Tätern der NS-Volksgemeinschaft, die nicht schmerzfrei für uns ist. Darüber wird nie gesprochen, wenn über uns, die Angehörigen der Zweiten Generation, gesprochen wird. Aber wir fühlen diese unsichtbaren Bretter, die ständig über die bestehende Kluft gelegt werden müssen, manchmal sogar über einen Abgrund.

Die Konferenz war international besucht, Teilnehmer aus Deutschland, Großbritannien, Holland, Israel, Uruguay und der Schweiz. Auf dem Workshop „Lernen aus den Erfahrungen anderer – Chance oder Bürde?“ begegnete ich auch der Leiterin des Büros Jutta Harnisch der Berliner VVN. Trotz meines Austritts aus der VVN kam sie auf mich zu, gab mir freundlich die Hand. Auf dem Workshop sprach sie dann, ohne einen schweren Vorfall zu erwähnen, von dem Respekt, den man unbedingt aufzubringen habe gegenüber jüdischen Verfolgten und ihren Nachkommen, wenn diese eine jüdische Bestattung für ihre Angehörigen vornehmen. Die Leiter der Berliner VVN, Markus Tervooren und Hans Coppi, hatten nämlich gegen mich einen regelrechten Sozialkrieg vom Zaune gebrochen, weil ich mir herausnahm, für meine liebe Mutter Dora Dick sel. A., Jüdin und kommunistische Widerstandskämpferin, eine jüdische Bestattung durchzuführen. Sie versuchten mit Brachialgewalt, Einfluss auf das Bestattungsgeschehen auszuüben. Ich erklärte u. a. wegen dieses Verhaltens meinen Abschied von der Berliner VVN. Ich rechne es aber Jutta Harnisch hoch an, dass sie mit ihrem Redebeitrag quasi eine Bitte um Entschuldigung vorgetragen hatte. Ich hatte mir fest vorgenommen, mich deswegen noch einmal an sie zu wenden.

Ich verteilte vor und während dieses Workshops die bei TREND publizierte „Resolution der Zweiten Generation der Naziverfolgten“, die ich gemeinsam mit einem anderen Kind des Exils, mit Alice M. Schloesser, vor über einem Jahr erarbeitet hatte. Danach musste ich wegen des starken Interesses noch zehn Exemplare nachkopieren. Jacques D. Barth, Angehöriger der Zweiten Generation in Holland, Sohn von aus Wien geflüchteten und in Amsterdam untergetauchten Juden, Leiter des Instituts für Holocaust-Studien in Amsterdam, lässt gegenwärtig die sechs darin erhobenen Rechtsansprüche an die deutsche Mehrheitsgesellschaft zum Schutze der Verfolgtenkinder in die niederländische und englische Sprache übersetzen, um sie in den Niederlanden und in der internationalen Öffentlichkeit verbreiten zu können.

Das Mittagessen, das ich zusammen mit der Workshop-Leiterin und anderen russisch-jüdischen Frauen einnahm, ging am Schluss über in eine Diskussion über den momentan ausgebrochenen Konflikt zwischen Russland und Deutschland im Zusammenhang mit den Ereignissen in der Ukraine. Ich kam nicht umhin zu betonen, dass die deutschen Eliten in ihrer Arroganz gar nicht verstehen würden, was Russland ist, nämlich eine Frau. Man lächelte, stimmte mir voller Zurückhaltung zu, und ich dachte bei mir, was ich stets bei diesem Thema zu denken pflege, an die Worte des Hauptes der politischen Emigration aus Nazideutschland Thomas Mann, der von der russischen Leidensfähigkeit als von einer großen geistigen Kraft sprach und nicht umsonst in seinen Epochenroman „Der Zauberberg“ diese Kraft auf gelungene Weise von einer Frau zu verkörpern suchte.

Während der Kaffeepause sprach mich Petra Hörig aus Berlin-Kreuzberg an, Tochter eines verfolgten Homosexuellen. Sie erzählte mir in großer Aufregung, dass sie von ihrem Hausbesitzer mit einer Kündigung des Mietvertrages bedroht wird. Sie wohnt seit über dreißíg Jahren in ihrer Wohnung. Sie forderte in unserem Meinungsaustausch die Anerkennung als Angehörige der Zweiten Generation, weil sie ein gerichtliches Verfahren gegen den Hausbesitzer vorbereitet. Ich stimmte ihr zu. Im Verlauf des Gespräches nahm sie Bezug auf die „Resolution“ mit dem Kernstück, dem Forderungskatalog mit den sechs elementaren Ansprüchen, zu denen ja auch die Forderung nach Schutz des Wohnraums für Nachkommen von NS-Verfolgten auf Lebenszeit gehört. Wir kamen überein, dass solche individuellen Vorstöße wichtig sind, dass es indessen heute außerdem darauf ankommt, dass sich die Verfolgtenkinder endlich verbinden und ihre rechtlichen Ansprüche an die Gesellschaft gebündelt öffentlich vortragen.

Abends versuchte ich, mit zwei Teilnehmerinnen über die Frage des Faschismus zu debattieren, nicht psychologisch, was gern getan wird, sondern politisch. Mit Erschrecken stellte ich fest, dass kein Begriff des Faschismus vorliegt. Dass die Herrschaft der Nationalsozialisten aus den Klassenkämpfen in Deutschland zwischen 1923 und 1933 hervorgegangen war, aus einer verlorenen sozialen Revolution – dieser Gedanke war ihnen fremd. Ich verwies auf Marxens Schrift „Klassenkämpfe in Frankreich“ und auf den Umstand, dass bis heute keine vergleichbare Untersuchung über die Zeit zwischen 1923 und 1933 in Deutschland vorliegt.

Auf dem Workshop „Die Praxis von Anerkennung und Entschädigung“, den Michael Teupen, der vormalige Geschäftsführer des Bundesverbandes Information & Beratung für NS-Verfolgte, leitete, wurde ich gebeten, meine Kritik an der Linie des Bundesverbandes in Sachen Zugehörigkeit zur Zweiten Generation der NS-Verfolgten vorzutragen. Ich bemängelte, dass es auf der Konferenz keinen einzigen Beitrag zum Thema Exil aus Nazideutschland gibt. Und ich kritisierte den Umstand, dass die Kinder des Exils, die im Verfolgungszeitraum zwischen 1933 und 1945 geboren wurden, nach der überraschenden Definition des Bundesverbandes angeblich nicht mehr zu den Angehörigen der Zweiten Generation gehören sollen, da zu dieser Gruppe angeblich nur die Verfolgtenkinder gehören würden, die nach 1945 geboren wurden. Ich charakterisierte diese Ausgrenzung als germanozentrisch. Ich verwies auf den enormen Beitrag, den die politischen Emigranten während und nach dem Exil für die Umwandlung Deutschlands in ein friedliebendes, antifaschistisches und demokratisches Land geleistet hatten. Der Workshop-Leiter hat meiner Kritik nicht widersprochen. Die von mir ausgearbeitete und bei TREND veröffentlichte entschädigungsrechtliche Expertise „Dürfen in Deutschland lebende Exilgeborene aus der NS-Zeit von der Entschädigung ausgeschlossen werden?“ wurde mir während des Workshops von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern förmlich aus den Händen gerissen: über zehn Exemplare. Gegen Ende des Workshops plädierte ich für ein Paper, das aus der Konferenz hervorgehen müsse: ein Arbeitspapier als Vorlage für eine Gesetzesinitiative für die Anerkennung und Entschädigung der Angehörigen der Zweiten Generation, die die Fraktionen des Bundestages erarbeiten müssten. Michael Teupen hatte auf dem abschließenden Podiumsgespräch diese Idee im Plenum der Konferenz vorgetragen. Ich signalisierte ihm nachträglich meine Bereitschaft zur Mitarbeit.

Die Bundesrepublik braucht jetzt, siebzig Jahre nach der Befreiung, endlich eine gesetzliche Regelung bzw. ein Gesetz über die Anerkennung und Entschädigung für die Nachkommen von anerkannten politisch, rassisch und religiös Verfolgten des Nationalsozialismus. Bedauerlicherweise hatte die Konferenzregie gemäß ihrer Partitur diesen vitalen Wunsch von uns Betroffenen nicht explizit in die Öffentlichkeit getragen.

Editorische Hinweise

Den Bericht erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe. Ebenso das Titelfoto "Ballett Joos".

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