Dürfen in Deutschland lebende Exilgeborene aus der NS-Zeit von der Entschädigung ausgeschlossen werden?
Eine entschädigungsrechtliche Expertise

von Antonín Dick

04-2015

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In der aktuellen Ausgabe der Verbandszeitung ÜBERLEBEN des Bundesverbandes Information & Beratung für NS-Verfolgte wird eine entscheidende Frage gestellt – die nach dem Personenkreis der Zweiten Generation der Verfolgten des Naziregimes. Die Antwort der Referentin für Recht des Bundesverbandes Information & Beratung für NS-Verfolgte Anke Wolf lautet: „Grundsätzlich sind das die Nachkommen der NS-Verfolgten, die nach Kriegsende geboren wurden." 1) Diese Rechtsauffassung ist jedoch grundgesetzwidrig, weil damit all diejenigen Nachkommen von NS-Verfolgten aus der Anerkennung und Entschädigung ausgegrenzt werden, die im Verfolgungszeitraum zwischen 1933 und 1945 im Exil ihrer geflohenen Eltern geboren wurden und seit Rückkehr nach der Befreiung in Deutschland wohnen und arbeiten. In diesem Zusammenhang fällt es auch auf, dass in dem umfangreichen Programm der Konferenz „Zweite Generation", die der Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte am 15. und 16. Juni 2015 in Berlin ausrichten wird, nicht ein einziger Beitrag den Kindern der Emigranten gewidmet ist.

Demgegenüber wird in der nationalen wie internationalen Fachliteratur zur Zweiten Generation der Naziverfolgten mit einem solchen juristischen Bretterzaun „Vor dem 8. Mai 1945 geborene Emigrantenkinder haben keinen Zutritt zur Zweiten Generation!" überhaupt nicht operiert. Diese Ausgrenzung wäre in Ansehung der Rechtsvorschrift § 4 Abs. 2 Ziff. 2 des Bundesentschädigungsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland auch gesetzeswidrig. Zwei repräsentative deutsche Sammelbände, die auch Beiträge von Nachkommen der politischen Emigranten enthalten, sollen hier als argumentativer Beleg genügen. 2) Und im Gegensatz zu dieser tendenziösen Konferenzausrichtung ist auf internationalen Fachtagungen und Konferenzen das wichtige Thema ‚Nachkommen von emigrierten Verfolgten des Naziregimes‘ permanent gegenwärtig.

Konferenz „Zweite Generation“
15. bis 16. Juni 2015 in Berlin

Workshop 16:
Aus dem Ankündigungstext
"Im Verlauf der letzten Jahre kontaktierten zunehmend Angehörige der „Zweiten Generation“ den Bundesverband für NS-Verfolgte. Die Fragen nach materiellen Entschädigungen standen dabei zunächst im Hintergrund, vornehmlich wurde das Gespräch gesucht mit einem Gegenüber, das in der Lage ist, das jeweilige Verfolgungsschicksal zu verstehen und nachzuempfinden
Im Workshop werden Fragen zu einer möglichen Entschädigungsleistung für die Angehörigen der „Zweiten Generation“ thematisiert ebenso wie die Aspekte „Wahrnehmung der Bedarfe“ dieses Personenkreises im politischen und öffentlichen Bereich sowie die gesicherte psychotherapeutische Betreuung derjenigen, die einer derartigen Unterstützung bedürfen.
Michael Teupen wurde 1950 geboren. Er ist Dipl. soz. Päd. und verfügt über diverse Zusatzausbildungen im therapeutischen Bereich. Zudem ist er anerkannter Psychotherapeut."

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Im Folgenden sollen geltende Rechtsnormen und Rechtsvorschriften erörtert werden, die die unveräußerlichen Ansprüche von Anti-Nazi-Emigranten und ihrer Familien, die aus politischen Gründen nach Deutschland wieder zurückgekehrt waren, zu ihrer rechtlichen Grundlage haben und mithin jedweden Versuch zur Exklusion der Emigrantenkinder ad absurdum führen. Eine Diskriminierung der im Exil vor der Befreiung geborenen und in Deutschland lebenden deutschen Staatsbürger hat auch keinen Bestand vor den ethischen Normen des Gemeinwesens der Bundesrepublik Deutschland. Soeben erhielt die Schriftstellerin Ursula Krechel den Gerty-Spies-Preis für ihren bedeutsamen Emigranten-Roman „Landgericht". Die Jury erklärte dazu: „Ihr Roman tritt ein für die Erinnerung an die Emigranten, die unter den Nazis fliehen mussten, die um ihr Leben und das ihrer Familien zu retten, unsägliches Leid ertragen mussten." 3) Die Autorin hatte für ihren Emigranten-Roman bereits den Deutschen Buchpreis erhalten.

1. Emigration aus Nazideutschland als entschädigungsrechtlich relevanter Sachverhalt

1. Klar und unmissverständlich heißt es in Rechtsvorschrift § 2 Abs. 3 des Gesetzes über die Anerkennung und Versorgung der politisch, rassisch oder religiös Verfolgten des Nationalsozialismus (PrVG) des Berliner Senats: „Als Verfolgte gelten auch Personen, die nach dem 30. Januar 1933 aus politischen, rassischen und religiösen Gründen ausgewandert sind, deportiert oder ausgewiesen worden sind."

2. In § 1 Ziff. 8 der Durchführungsbestimmungen für die Anordnung zur Sicherung der rechtlichen Stellung der anerkannten Verfolgten des Naziregimes (VdN) vom 10. Februar 1950 des Ministeriums für Arbeit und Gesundheitswesens der DDR heißt es klar und unmissverständlich: „Als VdN werden anerkannt: Personen, die emigrieren mussten, um sich der Verfolgung zu entziehen, und im Ausland einen organisierten Kampf gegen das Naziregime geführt haben."

3. In § 1 Ziff. 12 der Durchführungsbestimmungen zu der Anordnung zur Sicherung der rechtlichen Stellung der anerkannten Verfolgten des Naziregimes (VdN) vom 10. Februar 1950 des Ministeriums für Arbeit und Gesundheitswesen der DDR heißt es klar und unmissverständlich: „Als VdN werden anerkannt: Juden, die aus rassischen Gründen in Haft waren oder die emigrierten oder illegal leben mussten, um der Zwangsdeportierung zu entgehen."

4. Klar und unmissverständlich heißt es in Rechtsvorschrift § 4 Abs. 2 Ziff. 2 des Bundesentschädigungsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland: „Als Auswanderung im Sinne dieses Gesetzes gilt auch, wenn der Verfolgte vor dem 8. Mai 1945 aus den Verfolgungsgründen des § 1 seinen Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt aus dem Reichsgebiet nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 oder dem Gebiet der Freien Stadt Danzig verlegt hat."

2. Emigration aus Nazideutschland als entschädigungsrechtlich relevanter Sachverhalt für die Nachkommen der Emigranten

Die Anordnung zur Sicherung der rechtlichen Stellung der anerkannten Verfolgten des Naziregimes vom 5. Oktober 1949 basiert u. a. auf der Rechtsnorm, dass Nachkommen von Verfolgten des Naziregimes, wozu auch die Nachkommen der politischen Emigranten gehören, rechtliche Hilfe und materielle Unterstützung seitens der Gesellschaft zustehen. So heißt es beispielsweise in § 5 der Anordnung zur Sicherung der rechtlichen Stellung der anerkannten Verfolgten des Naziregimes: „Kindern anerkannter Verfolgter des Naziregimes oder anerkannten Verfolgten des Naziregimes können Zuschüsse zu den Stipendien zum Studium von der VdN-Dienststellen beim Ministerium für Arbeit und Sozialfürsorge des Landes gewährt werden." Dieses Gesetz ist kein DDR-Gesetz, da es bereits vor Gründung der DDR von der Deutschen Wirtschaftskommission für die Sowjetische Besatzungszone beschlossen wurde. Vielmehr ist es Bestandteil der Gesetzgebung der Alliierten der Anti-Hitler-Koalition auf der Grundlage des Potsdamer Abkommens vom 2. Dezember 1945. Die Rechtsnorm der Verantwortung der Gesellschaft für die Nachkommen der NS-Verfolgten, d. h. für die Kinder des Holocaust, für die Kinder des Widerstands sowie für die Kinder des Exils, ist demzufolge bis zum heutigen Tage gültig. Und dies gilt, staatsrechtlich gesehen, unabhängig davon, in welchem Staatsgebilde die Deutschen de facto leben, denn es gilt als oberste völkerrechtlich verbindliche Prämisse die Gesetzlichkeit des Potsdamer Abkommens der Alliierten der Anti-Hitler-Koalition. Verfassungsrechtlich konstituiert sich diese Rechtsnorm qua Befreiungsgesetz des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, wie Artikel 139 auch explizit im Grundgesetz genannt wird. Sein vollständiger Wortlaut: „Die zur ‚Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus‘ erlassenen Rechtsvorschriften werden von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht berührt." Mit anderen Worten: Die zum Schutze der Nachkommen der Verfolgten des Naziregimes von den Alliierten der Anti-Hitler-Koalition erlassenen Rechtsvorschriften und normativen Vorgaben sind bis heute rechtsgültig, und sie gelten auch und nicht zuletzt für die Kinder des Exils. Damit derogiert Artikel 139 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland jede Rechtsvorschrift, die auf Diskriminierung von in Deutschland lebenden Kindern des Exils hinauslaufen würde, wie sie beispielsweise durch die oben genannte willkürliche, durch geltendes Recht nicht abgedeckte Aussage, dass vor der Befreiung im Exil ihrer Eltern geborene Bürger der Bundesrepublik Deutschland in entschädigungsrechtlicher Hinsicht angeblich rechtlos bleiben müssen, in die Welt gesetzt wird. Diese Aussage sagt etwas über deren Autoren aus, nichts aber über den entschädigungsrechtlich gültigen Rechtszustand in der Bundesrepublik Deutschland.

3. Verantwortung der deutschen Gesellschaft für ausgebürgerte, verbannte und emigrierte Bürger und deren Nachkommen

Etwa 500 000 Menschen sind aus dem „Dritten Reich" im Verfolgungszeitraum zwischen 1933 und 1945 emigriert: politisch, rassisch und religiös verfolgte Menschen. Zu den politisch Verfolgten zählten Arbeiterfunktionäre, Sozialdemokraten, Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten, Gewerkschafter, Christen, linksalternative Künstler und Schriftsteller, Journalisten, Wissenschaftler, Ärzte, Verleger, Galeristen, Lehrer und Hochschullehrer, Kulturfunktionäre, Juristen, Pädagogen, Staatsfunktionäre, und – staatsrechtlich nicht zu vernachlässigen – staatenlose Nazigegner, die sich zum Zeitpunkt der Herrschaft von Nazideutschen auf dem Territorium des Deutschen Reiches von 1937 aufhielten 4). Man schätzt, dass etwa 5 % von diesen ins Ausland geflohenen Verfolgten des Naziregimes nach 1945 zusammen mit ihren Nachkommen nach Deutschland zurückgekehrt sind. Dazu zählten in beträchtlichem Umfange politisch engagierte Menschen, die schon vor 1933 im mehr oder weniger organisierten Widerstand gegen Hitler standen. So kämpfte beispielsweise mein Vater Albin Dick politisch und mit der Waffe in der Hand gegen die Henlein-Faschisten 5), und meine Mutter Dora Dick beteiligte sich bereits vor 1933 in Berlin an den Abwehrkämpfen der Berliner Arbeiterschaft gegen den Aufstieg der menschenverachtenden Nazis. 6) Meine Mutter musste nach Machtantritt Hitlers in die Illegalität gehen, weil sie auf den Verhaftungslisten der SA und SS stand. Sie war Jüdin und aktive Nazigegnerin. Im Prager Exil wurde sie Mitglied mehrerer antifaschistischer Gruppen, die kulturpolitische Auslandsarbeit im Kampf gegen Nazideutschland leisteten. Sie war Mitglied der exponierten Zeichner-Gruppe, die auch regelmäßig in der antifaschistischen Pressearbeit in Erscheinung trat. Im englischen Exil gehörte sie zu den Aktivisten, die den Freien Deutschen Kulturbund (FDKB), die zahlenmäßig stärkste Emigrantenorganisation in Großbritannien, aufbauten. Meine Mutter war u. a. Ausstellungsassistentin des antifaschistischen Malers und Schriftstellers Oskar Kokoschka, des Mitbegründers und langjährigen Präsidenten des FDKB. Im mittelenglischen Royal Leamington Spa / County Warwickshire gründete sie eine Ortsgruppe des FDKB. Der FDKB leistete auf dem Gebiet der antifaschistischen Kultur – und Bildungsarbeit Außerordentliches, und seine politischen, kulturpolitischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Beiträge für den Neubeginn eines demokratischen Deutschland nach der militärischen Niederringung der nazistischen Gewaltherrschaft sind von bleibendem Wert und haben nichts an Aktualität eingebüßt. 7) Mein Vater arbeitete fast während der gesamten Kriegszeit, d. h. von 1940 bis 1945, als Schlosser und Elektroschweißer unter Lebensgefahr in den ständig von deutschen Bombern angegriffenen Rüstungswerken von Coventry, um seinen Beitrag zur militärischen Niederringung Nazideutschlands zu leisten 8). Nach der Kapitulation der Nazideutschen kehrten meine Eltern nach Deutschland zurück, um ihre ganze Kraft und Erfahrung in den Dienst des Aufbaus eines freien, demokratischen und friedfertigen Deutschland zu stellen. Sie waren selbstlos. Mein Vater half in leitender Funktion beim Wiederaufbau freier Gewerkschaften. Meine Mutter war aktive Teilnehmerin der politischen Wiedergeburt einer demokratischen Frauenbewegung im Rahmen des Demokratischen Frauenbundes. Als Modellschneiderin in einem international agierenden Bekleidungsunternehmen wurde sie Vorsitzende des Frauenausschusses der Industriegewerkschaft Textil und Bekleidung des DGB in Berlin und blieb noch bis weit über ihre Berufsjahre hinaus beratendes Mitglied dieses wichtigen Gremiums gewerkschaftlicher Frauenemanzipation. Soll dies alles jetzt plötzlich vergessen sein? Weg für immer wie weggewischt? Und dazu noch im bedeutsamen Erinnerungsjahr der Würdigung des 70. Jahrestages der Befreiung Deutschlands und Europas von der Nazi-Herrschaft durch die Alliierten der Antihitler-Koalition? Wo doch die Emigrierten zu den tapferen Befreiern gehörten? 9)

Die Rückkehr der politischen Emigranten mit ihren Familien nach Deutschland unmittelbar nach der Befreiung war also alles andere als eine private Entscheidung zu einem bloßen Wohnortwechsel. Sie kamen mit bindendem Auftrag politischer Parteien, Gruppierungen und auch der Befreier, der Alliierten der Anti-Hitler-Koalition, ins zerstörte und naziinfizierte Deutschland zurück, bereichert durch die politischen Erfahrungen in den entwickelten demokratischen Strukturen der Aufnahmeländer, bereichert durch ihre Teilnahme am antifaschistischen Befreiungskampf an der Seite der befreienden Mächte der Anti-Hitler-Koalition. Sie kamen aus Frankreich, aus den Niederlanden, aus der Tschechoslowakei, aus Schweden, aus Großbritannien, aus den USA, aus Süd- und Mittelamerika, aus Australien, aus Neuseeland, aus Palästina, aus dem Spanischen Bürgerkrieg und von der Front des Krieges der Roten Armee, die gegen Nazideutschland kämpfte. Sie alle waren vor, während und unmittelbar nach dem Sturz Hitlers Angehörige einer politischen Avantgarde, die angetreten war, die demokratische Erneuerung Deutschlands schöpferisch mitzugestalten. Das Haupt der politischen Emigration, der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann, ließ sich nach 1945 mit seiner jüdischen Familie in der Schweiz nieder und begleitete aktiv und kritisch den demokratischen Neuanfang in beiden deutschen Teilstaaten. In Deutschland West war das Haupt des geistig-politischen Demokratisierungsprozesses der jüdische Emigrant Adorno, der während der Emigration mit Thomas Mann zusammengearbeitet hatte. Er wurde Leiter des wiedergegründeten Instituts für Sozialforschung in Frankfurt / Main. In Deutschland Ost war das Haupt des geistig-politischen Demokratisierungsprozesses der jüdische Emigrant Jürgen Kuczynski, der während der Emigration mit Thomas Mann im Briefwechsel stand. Er wurde Leiter des neugegründeten Instituts für Wirtschaftsgeschichte an der Akademie der Wissenschaften in Ostberlin. Beide Institute wurden im deutschen Nachkrieg zu Flaggschiffen von internationaler Bildung und Erziehung der Jugend im komplizierten deutschen Nachkrieg. Beide hervorragende Protagonisten des Exils führten zusammen mit einer ganzen Plejade hochgebildeter und hochmotivierter Emigranten die notwendigen geistigen Prozesse zu einer radikalen Umkehr des deutschen Volkes im Sinne der Zielsetzungen des Potsdamer Abkommens vom 2. August 1945, deren Hauptzielsetzung wie folgt vereinbart wurde: „Die endgültige Umgestaltung des deutschen politischen Lebens auf demokratischer Grundlage". So steht es völkerrechtlich verbindlich formuliert in Kapitel III Hauptabschnitt A Abschnitt 3 / IV dieses Abkommens. Und hat heute noch Gültigkeit im zerbrechlichen deutschen Alltag.

In beiden deutschen Teilstaaten haben in wichtigen Führungsfunktionen viele hervorragende politische Emigranten Leistungen des Aufbaus von unschätzbarem Wert erbracht – auf dem Gebiet der politischen Organisation des zerstörten Landes, der Wirtschaftsführung, der Bildung und Erziehung, der Kulturpolitik, der Wissenschaft, der Kunst und Literatur. Ohne den selbstlosen Einsatz dieser inspirierten Menschen, die oft unter Hintansetzung ihrer persönlichen Interessen in ihre Heimat zurückgekehrt waren, wäre das heutige demokratische und friedliebende wiedervereinigte Deutschland undenkbar. Sie internationalisierten Deutschland von Anfang an.

Angesichts dieser einzigartigen Aufbauleistung der Zurückgekehrten steht es völlig außer Frage, dass auch den Nachkommen dieser Zurückgekehrten die aktive Sorge und Verantwortung der deutschen Gesellschaft ohne Wenn und Aber zusteht, denn sie haben oft genug erhebliche Nachteile mit irreversiblen Folgen für ihre Persönlichkeitsentwicklung hinnehmen müssen: gesundheitliche, soziale, in Hinblick auf Sozialisation, Sprache und Bildung sich auswirkende Störungen, die bis heute fortwirken. Das war der Preis für diese Aufbauleistung. Die sich hieraus ergebende Verantwortung der deutschen Gesellschaft für die Nachkommen ist ein Auftrag der Ersten Generation. Er gehört wie das Politische zum Vermächtnis der politischen Emigranten, das in jedem einzelnen Fall uneingeschränkt zu respektieren ist. Hier sind von den Opfern des Faschismus, nicht zuletzt auch von den zurückgekehrten Emigranten, herausragende Leistungen für Deutschland erbracht worden, die klarerweise zu einer Gegenleistung seitens der Gesellschaft verpflichten. Das Sozialstaatsprinzip, das u. a. auf dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit aufbaut, genießt Verfassungsrang. „Soziale Leistungen sollen, soweit sie in der Verantwortung des Gemeinwesens stehen, Ausdruck sozialer Gerechtigkeit sein", führte dazu der international renommierte Sozial- und Verfassungsrechtler Hans Zacher aus. 10)

4. Leistungen der Nachkommen für die Versorgung und Pflege der alternden Überlebenden der NS-Verfolgung

Die Angehörigen der Zweiten Generation, namentlich auch die Nachkommen der Emigranten, handelten in dem Augenblick sofort, als es darum ging, ihren alternden und hilfebedürftigen Eltern jede nur erdenkliche menschliche Hilfe und Unterstützung zuteil werden zu lassen. Und sie tun es noch heute. Die Kinder der Verfolgten begriffen die Sorge und Verantwortung für ihre pflegebedürftig gewordenen Eltern als Auftrag, als eiserne Pflicht, als Verteidigung der bedrohten Existenz, geschuldet dem außergewöhnlichen Willen zum Überleben im Schatten der Verfolgung in den dunklen Nazijahren 11). Für die Kinder des Exils, für alle Kinder der Naziverfolgten, gab es diesbezüglich keine Zurückhaltung. Sie warfen sich mit derselben Bedingungslosigkeit in diese Aufgabe, oft genug unter Vernachlässigung der eigenen Gesundheit, wie ihre Eltern einst handelten. Sie schreckten nicht davor zurück, ihre berufliche Tätigkeit an den Nagel zu hängen, auch auf die Gefahr hin, später selbst, im Rentenalter, in eine prekäre Einkommenssituation zu geraten. Für diese pflegerische Arbeit erhielten sie seitens des Staates keinerlei Vergütung, nicht einmal eine Aufwandsentschädigung. Die Außenwelt hat dieses gemeinsame Ringen von Kind und Eltern um das Überleben kaum wahrgenommen. Die Kinder der Verfolgten übernahmen oft dabei auch Versorgungspflichten, die eigentlich in den Aufgabenbereich des Gemeinwesens gehörten, und übernahmen sich nicht selten dabei, weil die besondere Verpflichtung der Gesellschaft zur Versorgung und Pflege von Überlebenden der nazistischen Verfolgung im staatlichen Gesundheitswesen der Bundesrepublik Deutschland unverantwortlich unterentwickelt ist. Und dies übrigens im völligen Gegensatz zur Theresienstädter Erklärung (Terezin Declaration) vom 30. Juni 2009, die auch von der Bundesrepublik Deutschland feierlich unterschrieben wurde. Dort wird die für alle Unterzeichnerstaaten gültige Rechtsnorm als verbindlich formuliert: „Recognizing that Holocaust (Shoah) survivors and other victims of the Nazi regime and its collaborators suffered unprecedented physical and emotional trauma during their ordeal, the Participating States take note of the special social und medical needs of all survivors and strongly support both public and private efforts in their respective states to enable them to live in dignity with the necessary basic care that it implies." 12) Hier sind überdurchschnittliche Leistungen seitens der Nachkommen der Zweiten Generation erbracht worden, namentlich auch von den Emigrantenkindern, die seitens der deutschen Gesellschaft zweifelsohne anzuerkennen und entsprechend dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit nicht nur mit Worten zu würdigen sind. Das ist der Preis für die Vernachlässigung der Pflichten des Staates gemäß Theresienstädter Erklärung vom 30. Juni 2009 gegenüber den alternden Überlebenden des faschistischen Terrors.

5. Leistungen der Nachkommen der NS-Verfolgten auf dem Gebiet der Erinnerungsarbeit

Was im Kern die Angehörigen der Zweiten Generation antreibt, hat der Wissenschaftler und Arzt Ralf Seidel auf der Fachtagung des Bundesverbandes Information und Beratung für NS-Verfolgte in Köln am 22. Oktober 2009 zum Thema „Zweite Generation" auf tiefgründige Weise herausgearbeitet: „Der leider so früh verstorbene israelische Psychiater und Schriftsteller Yossi Hadar, selbst Sohn von Überlebenden des Holocaust, hat einmal darauf hingewiesen, dass Angehörige der Zweiten Generation auf einer ständigen Suche nach der ‚verlorenen Zeit‘ seien, ähnlich wie Marcel Proust in seinem gleichnamigen Roman." 13)

Die Kontinuität der Erinnerungsarbeit der Elterngeneration ist damit gesichert. Dass diese Suche von den Kindern des Widerstandes, von den Kindern des Exils sowie der Kinder des Holocaust unterschiedlich akzentuiert wird, ist evident. Die Kinder des Widerstandes konzentrieren sich in ihrer Erinnerungsarbeit vor allem auf die Geschichte des organisierten Widerstands, auf den Alltag im Nationalsozialismus sowie auf die Erforschung der Lebensschicksale, der Strukturen und des Widerstands in den Konzentrationslagern und Ghettos. Die Kinder des Exils konzentrieren sich vor allem auf die Geschichte der Emigration aus Nazideutschland, auf die Erforschung der Lebensbedingungen der Emigranten in den Aufnahmeländern sowie auf die Auslandsarbeit der organisierten Hitlergegner. Für die Kinder des Holocaust stehen das unfassbare Geschehen des Holocaust und die Rettung des jüdischen Erbes in seiner Gesamtheit im Vordergrund der Erinnerungsbemühungen. Was letztere Aufgabenstellung anbetrifft, so haben wir hier auszugehen von „der besonderen geschichtlichen Verantwortung des deutschen Volkes für das jüdische Leben in Deutschland, angesichts des unermesslichen Leides, das die jüdische Bevölkerung in den Jahren 1933 bis 1945 erdulden musste, geleitet von dem Wunsch, den Wiederaufbau jüdischen Lebens in Deutschland zu fördern und das freundschaftliche Verhältnis zu der jüdischen Glaubensgemeinschaft zu verfestigen und zu vertiefen", wie der Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden rechtsverbindlich festlegt.

Natürlich müsste eine solche gesetzlich geregelte Verpflichtung des Staates für alle Opfergruppen und alle Bereiche und Aspekte der Erinnerungsarbeit entwickelt werden – und zwar als eine Art allgemein verbindliches Grundrecht für alle Nachkommen von NS-Verfolgten, denn Erinnerungsarbeit ist Staatsräson. Und die Kinder des Holocaust, die Kinder des Exils und die Kinder des Widerstands sind die natürlichen Erben des Vermächtnisses der NS-Verfolgten. Sie wissen in des Wortes tiefster Bedeutung Bescheid. Wie wir Autoren der „Resolution der Zweiten Generation der Naziverfolgten" im vierten Anspruch der sechs dort erhobenen Ansprüche der Zweiten Generation klar herausgestellt haben 14), geht es um verbindliche Verpflichtungen des Gemeinwesens der Bundesrepublik Deutschland für die Sicherstellung der Erinnerungsarbeit, die jetzt zunehmend auch von den Vertretern der Zweiten Generation der Naziverfolgten leitend übernommen wird. „Ohne Erinnerung gibt es keine Identität", sagt die ehemalige Koordinatorin der Bundesregierung für die deutsch-polnischen Beziehungen Gesine Schwan. Diese Rechtsnorm ergibt sich rechtserheblich aus Artikel 139 des Grundgesetzes der Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland in Einheit mit den bereits zitierten und auch anderen Rechtsvorschriften des Potsdamer Abkommens zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, um die es im folgenden Abschnitt dieser Expertise gehen wird.

6. Leistungen der Nachkommen der NS-Verfolgten auf dem Gebiet der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und Antisemitismus

Die rechtskräftige Gültigkeit des Potsdamer Abkommens der Alliierten der Anti-Hitler-Koalition vom 2. August 1945 ist durch Artikel 139 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gegeben. In der Präambel zu Kapitel III des Potsdamer Abkommens wird proklamiert: „Der deutsche Militarismus und Nazismus werden ausgerottet …" In Kapitel III Hauptabschnitt A Abschnitt 3 / III heißt es: „Die Nationalsozialistische Partei mit ihren angeschlossenen Gliederungen und Unterorganisationen ist zu vernichten …" In Kapitel III Hauptabschnitt A Ziffer 4 heißt es: „Alle nazistischen Gesetze, welche die Grundlagen für das Hitlerregime geliefert haben oder eine Diskriminierung auf Grund der Rasse, Religion oder politischer Überzeugung errichteten, müssen abgeschafft werden. Keine solche Diskriminierung, weder eine rechtliche noch eine administrative oder irgendeiner anderen Art, wird geduldet werden." Vergleich man diese gesetzlichen Vorgaben der internationalen Völkerfamilie für das deutsche Volk aus dem Jahre 1945 mit der Realität der deutschen Gegenwart, wird man nachdenklich. Muss man, wenn man aufmerksam die gegenwärtige Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland verfolgt, nachdenklich werden. Der Antisemitismus erhebt wieder frech sein Haupt. Die Gespenster der Vergangenheit, die Gespenster von längst überwundenem Nationalismus und Neofaschismus, dringen in die Mitte der Gesellschaft vor. Besetzen sie, oft ohne dass es eine Gegenwehr gibt. Die immer noch nicht aufgeklärten politischen Verbrechen und Morde des Nationalsozialistischen Untergrunds sind ein Zeichen äußerster Bedrängnis für die deutsche Demokratie. Die Nachkommen der Widerstandskämpfer, die Nachkommen der Überlebenden des Holocaust und die Nachkommen der Emigranten, sie alle stehen in der ersten Reihe, wenn es darum geht, die Gefahren für die Demokratie in der Bundesrepublik abzuwehren und die Demokratie unwiderruflich in der deutschen Gesellschaft zu verankern. Und zweifelsohne ist sie in Gefahr. Die Verteidiger der Demokratie sind dabei, sich zusammenzuschließen und neue Stärke und Solidarität zu zeigen. Exemplarisch für diese neue antifaschistische Demokratiebewegung mag hier die Manifestation Tausender von Menschen am 14. September 2014 vor dem Brandenburger Tor in Berlins Mitte stehen, als sie leidenschaftlich aufbegehrten gegen Rassismus und Antisemitismus. Sowohl die Bundeskanzlerin Angela Merkel als auch der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland Dieter Graumann, selbst Angehöriger der Zweiten Generation der Naziverfolgten, forderten auf dieser Manifestation der Demokratie im Geiste des Potsdamer Abkommens die Bürger der Bundesrepublik Deutschland zu mehr Zivilcourage auf, die Verteidigung einer toleranten, weltoffenen und demokratischen Gesellschaft selbst in die Hand zu nehmen, nicht zuzulassen, dass Bürger jüdischen Glaubens der Bundesrepublik Deutschland schutzlos verbalen und körperlichen Angriffen durch einen neonazistischen Mob ausgesetzt werden. Die neuen Gefahren für den Bestand eines Verfassungsstaates in Deutschland wurden nicht zuletzt offenbar im Zusammenhang mit den erschreckenden Untaten des Nationalsozialistischen Untergrundes. Auf einer hochkarätig besetzten Podiumsdiskussion zu Entstehung, Gefährlichkeit und staatlichem Versagen gegenüber dem Nationalsozialistischen Untergrund, die im Juni 2013 in der Berliner Gedenkstätte „Topographie des Terrors" stattgefunden hatte 15), nahmen auch Nachkommen von Opfern des Faschismus teil.

7. Grundgesetzlich geschützter Zusammenhalt der Verfolgtenfamilien

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sieht keine Auseinanderreißung der Familie vor, wie sie beispielsweise die Nazis betrieben, erst recht nicht eine entschädigungsrechtlich induzierte Auseinanderreißung von Opferfamilien der NS-Verfolgung, ganz im Gegenteil, der Schutz des Familienverbandes in sozialer, seelischer, kultureller und rechtlicher Hinsicht wird hierzulande ausdrücklich unter den Schutz des demokratischen Staates gestellt. In Artikel 6 Abs. 1 heißt es klar und unmissverständlich: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung." Bereits von uns gegangene Verfolgte des Nationalsozialismus, die in einem rettenden Fluchtland vor dem 8. Mai 1945, dem Tag der Befreiung, Nachkommen bekommen haben, würden energischen Protest erheben, wenn sie von dem unfassbaren Vorhaben erfahren würden, dass ihre Kinder von der Anerkennung als Angehörige der Zweiten Generation und einer daraus resultierenden Entschädigung ausgeschlossen werden sollen, nur weil sie im Anti-Hitler-Exil vor dem Tag der Befreiung geboren wurden. Dieses Vorhaben käme ja einer nachträglichen Bestrafung wegen unseres politischen Engagements für Deutschland gleich, würden die aus Nazideutschland emigrierten Menschen denken!

Und geradezu existentiell ist auch dieser Gesichtspunkt bei der Betrachtung des familiären Zusammenhalts von Opferfamilien der nazistischen Verfolgung: Die enge Verfolgtenkind-Verfolgten-Beziehung 16) sicherte den Naziverfolgten im Grunde das Überleben und Leben. Wer diese fundamentale Daseinstatsache der Opfer des Faschismus leugnet – und die zitierte Diskriminierung der vor der Befreiung im Exil geborenen Kinder des Exils ist Teil dieser Leugnung! – handelt gegen die vitalen Lebensinteressen der Opferfamilien. Der ehemalige Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland Dieter Graumann, Angehöriger der Zweiten Generation, sagte unlängst in einem Interview zu dieser außergewöhnlichen Überlebensgemeinschaft: „Wir haben ihnen ja quasi alles ersetzt, was sie verloren hatten. Wir waren für sie die Zukunft, der Hoffnungsstrahl, eigentlich ihr einziger Grund, weiterzumachen. Ganz sicher: Wir waren ihre Rettung." 17)

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Ausgrenzung der vor dem 8. Mai 1945 im Exil ihrer verfolgten Eltern geborenen Kinder aus den Entschädigungsleistungen des deutschen Staates für die Zweite Generation ist, wie detailliert hier nachgewiesen, aus historischen, entschädigungsrechtlichen, politischen, sozial- und familienrechtlichen Gründen von vornherein ausgeschlossen. Und zwar für alle Zeiten! Die im Exil geborenen Nachkommen ihrer vom Naziregime verfolgten Eltern, gehören unabdingbar zur Zweiten Generation der NS-Verfolgten, und dies gilt unabhängig von dem Umstand, wann diese Nachkommen im Exil das Licht der Welt erblickt haben.

Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland steht gegenüber den Opfern des Faschismus und ihren Familien im Wort. Der Bundesminister des Auswärtigen, Hans-Dietrich Genscher, gab am 12. September 1990 aus Anlass des Abschlusses des Zwei-plus-Vier-Vertrages in Moskau eine offizielle Erklärung ab. Darin führte er aus: „Wir gedenken in dieser Stunden aller Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft. Wir gedenken des unendlichen Leids der Völker, nicht nur derjenigen, deren Vertreter um diesen Tisch versammelt sind. Unsere Gedanken gelten dabei in besonderer Weise dem jüdischen Volk. Wir wollen, dass sich dies niemals wiederholen wird." Und am Schluss dieser Erklärung gelobte er vor allem Teilnehmern des Abschlusses des Zwei-plus-Vier-Vertrages: „Wir werden uns unserer Verantwortung stellen, und wir werden ihr gerecht werden." Diese Erklärung ist ein verbindlicher Rechtsstandpunkt der Bundesrepublik Deutschland, der entschädigungspolitische und entschädigungsrechtliche Orientierung auch für die Verbindlichkeiten des deutschen Staates gegenüber den Angehörigen der Zweiten Generation der Verfolgten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gibt. Die Eröffnung eines neuen Verschiebebahnhofes auf den oft unsicheren Gleisen der Anerkennung und Entschädigung der Opfer des Faschismus und ihrer Nachkommen kann es für die Kinder des Holocaust, die Kinder des Exils und die Kinder des Widerstands angesichts dieser völkerrechtsverbindlichen Erklärung der Regierung der Bundesrepublik Deutschland eigentlich nicht mehr geben.

Einundfünfzig Millionen Menschen befinden sich derzeit auf unserem Globus auf der Flucht vor Verfolgung und Krieg. In gar nicht so ferner Zukunft wird jeder vierte oder dritte Bürger der Bundesrepublik Deutschland ein Mensch mit Migrationshintergrund sein. In geradezu stürmischen Schritten beginnt sich hierzulande eine Willkommenskultur gegenüber den Einwanderern und Flüchtlingen herauszubilden. Eine Mut machende Entwicklung in Deutschland! Aus welchem Grund, so fragen wir uns allerdings, soll diese Willkommenskultur Halt machen vor den Kindern der aus Nazideutschland geflohenen Menschen, die nach der Befreiung im Jahre 1945 wieder nach Deutschland zurückkehrten? Und zudem im Zuge einer selbstlosen Absicht der Eltern? Nämlich zu helfen? Selbstlos und voller Hingabe zu helfen? Deutschland freizumachen von den Trümmern? Den materiellen wie geistigen? Obwohl sie vor den Nazideutschen aus Deutschland fliehen mussten? Einen hohen menschlichen Preis dafür zahlen mussten? Soll das jetzt alles plötzlich vergessen sein? Und ausgerechnet jetzt – während der Feiern zum siebzigsten Jahr der opferreichen Befreiung des deutschen Volkes von der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus, an der doch gerade sie als bewusst handelnde Anti-Nazi-Emigranten einen so unerhörten Anteil hatten?

Der Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte, der seit Jahren eine ebenso bewunderungswürdige wie wirkungsvolle Arbeit für die Durchsetzung der Lebensinteressen der Zweiten Generation leistet, sollte die Hände lassen von auch nur einer einzigen Form der Diskriminierung. Die Nachkommen der vor den Nazideutschen ins schützende Ausland Geflüchteten, die vor dem 8. Mai 1945 im schützenden Ausland geboren wurden und bereits seit Jahrzehnten als gleichberechtigte Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland hierzulande leben und arbeiten, gehören ohne jede Ausnahme und für immer zur leidgeprüften Gruppe der Zweiten Generation der Naziverfolgten.

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Anmerkungen und Literaturhinweise:

1) Anke Wolf, in: ÜBERLEBEN, (Hrsg.) Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte, Heft 12 / 2014, Seite 2.

2) esra, Samson Verlag Berlin, Heft 1 /1991 und „Helle Panke" e. V. / Rosa Luxemburg Stiftung Berlin: Die Zweite Generation. Kinder von antifaschistischen Widerstandskämpfern und Emigranten, Heft 175, Berlin 2013.

3) Die Welt vom 13. 03. 2015: „Landgericht"-Autorin Ursula Krechel erhält den Gerty-Spies-Preis.

4) Als Staatenlose galten beispielsweise alle Juden ab dem 15. September 1935 im Deutschen Reich. Nach § 2 Abs. 1 des Reichsbürgergesetzes vom 15. September 1935 konnte kein Jude mehr Staatsangehöriger des Deutschen Reiches sein. Es hieß gemäß dieser Rechtsvorschrift des deutschen Staates klar und unmissverständlich: „Reichsbürger ist nur der Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes, der durch sein Verhalten beweist, dass er gewillt und geeignet ist, in Treue dem Deutschen Volk und Reich zu dienen."

5) Peter Sonntag: Bewegende Odyssee. Zum 100. Geburtstag eines Namenlosen, der von den Nazis ins Exil getrieben wurde, in: Prager Zeitung vom 17. 10. 2013.

6) Antonín Dick / Dora Dick: Es war mir in Deutschland zu still. Gespräche über die Emigration, noch unveröffentlichtes Manuskript, Berlin.

7) Charmian Brinson / Richard Dove: Politics By Other Means. The Free German League of Culture in London 1939 – 1946, London and Portland 2010.

8) Antonín Dick / Dora Dick: Es war mir in Deutschland zu still. Gespräche über die Emigration, ebenda.

9) In diesem Zusammenhang ist auch unbedingt auf die historiographische Schwammigkeit des Begriffs „Kriegsende" zu verweisen, wie er in der zitierten Aussage der Verbandszeitung ÜBERLEBEN des Bundesverbandes Information & Beratung für NS-Verfolgte verwendet wird. Es wird dort vom „Kriegsende" gesprochen, nicht von der Befreiung. Der Terminus „Kriegsende" bringt aber in diesem Zusammenhang lediglich die Innensicht der Nazideutschen im Jahre 1945 zum Ausdruck, nicht aber, worauf es in diesem Zusammenhangt ankommt, die Außensicht der Befreier vom deutschen Faschismus, die historisch eine völlig neue Epoche in Deutschland und Europa einleiteten und grundsätzlich das Handeln, Fühlen und Denken der aus Nazideutschland emigrierten Deutschen zum Ausdruck bringt.

10) Hans Zacher: Verfassung und Sozialrecht – Aspekte der Begegnung, in: Hartmut Maurer (Hrsg.): Das akzeptierte Grundgesetz, München 1990, Seite 69.

11) Zur Herausbildung einer besonderen Überlebensgemeinschaft zwischen Verfolgten des Naziregimes und ihren Kindern siehe auch Antonín Dick / Alice M. Schloesser: Resolution der Zweiten Generation der Naziverfolgten, in: TREND online-Zeitung 04/ 2014.

12) Terezin Declaration, www.EU 2009.cz.

13) Ralf Seidel: Verfolgung. Entfremdung. Aneignung. Über Entschädigungsverfahren und das Fortwirken von Traumen in der Zweiten Generation, in: Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte: Fachtagung zum Thema „Zweite Generation" am 22. Oktober 2009 in Köln.

14) Antonín Dick / Alice M. Schloesser: Resolution der Zweiten Generation der Naziverfolgten", ebenda.

15) Antonín Dick: Er meinte es so. Das Dickicht, die Last und der Anwalt. Eine Podiumsdiskussion zum NSU, junge Welt, 5. Juni 2013.

16) Zur Herausbildung einer besonderen Überlebensgemeinschaft zwischen Verfolgten des Naziregimes und ihren Kindern ist gesichertes Wissen im Rahmen der Forschung der letzten Jahre herausgearbeitet worden. Siehe dazu auch Antonín Dick / Alice M. Schloesser: Resolution der Zweiten Generation der Naziverfolgten, ebenda.

17) Dieter Graumann: „David, ab heute heißt du Dieter", in: ZEIT Magazin Nr. 24 / 2014 vom 25. 06. 2014.

Editorische Hinweise
Wir erhielten den Text vom Autor für diese Ausgabe.