Resolution der Zweiten Generation der Naziverfolgten
verfasst von Dr. Antonín Dick und Alice M. Schloesser

04-2014

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Es hat kaum einen beruhigenden Klang in unserem Leben gegeben. Wir sind wie Schattenkinder …

Es sind eure flehenden Augen, eure versteckten Blicke. Und so manches Mal das Keuchen von um ihr Leben Rennenden, das unsere Stille durchstößt, unsere Träume.

Da kommen wir her, sagen wir, möchten wir sagen, aber wenn die Stunde gekommen ist, es zu erzählen, stehen wir wie vor einer schwarzen Wand. Von euch, liebe Mütter, natürlich, von euch, liebe Väter. Wir sind die Fluchten eurer Fluchten. Die Verstecke eurer Verstecke. Die Schreie eurer Schreie.

Wir sind wie außerhalb der Zeit Geborene – ewig auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Wir leben in der Sehnsucht der Entronnenen.

Wir ringen um die Bewältigung der verfolgungsbedingten Leiden, die zu beschreiben es uns immer noch die Sprache verschlägt. Wer die Sprache nicht findet, schreit. Und so manches Mal nach innen. „Wenn einem die Sprache fehlt, bleibt nur noch der Aufschrei übrig oder man lebt schweigend in der Betäubung und Sprachlosigkeit weiter“, führt Haim Dasberg, selbst ein Angehöriger unserer Generation, Mitarbeiter von AMCHA, dem Nationalen israelischen Zentrum für psychologische Unterstützung von Holocaust-Überlebenden und der 2. Generation, aus. Aber dieser Aufschrei kann der Beginn von Bewusstwerdung sein. Es mag vielleicht für die andere Seite ungewöhnlich sein, dass wir uns jetzt erst melden. Es ist nicht ungewöhnlich. „Die Langzeitfolgen von Holocaust-Traumata sind weitreichend“, stellt AMCHA fest. „Mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Krieg setzt der Holocaust seine Präsenz auf verschiedene Weisen fort. Wie eine Atombombe, die ihre Radioaktivität oft lange nach der aktuellen Explosion an weit entfernten Orten streut, vergiftet auch der Holocaust weiterhin jeden, der diesem Ereignis auf eine bestimmte Art und Weise ausgesetzt war. Bei älteren Überlebenden, die jahrelang beruflich exzessiv gearbeitet haben und damit beschäftigt waren, ihre schmerzhaften Erinnerungen zu unterdrücken, können im Laufe der Pensionierung, sowie auch durch Beeinträchtigung der Gesundheit erneut Albträume und Flashbacks auftreten.
Zur Lebenssituation der Angehörigen der Zweiten Generation in der deutschen Gesellschaft

Der Psychotherapeut Johan Lansen auf dem ersten esra-Seminar für Psychotherapeuten in Berlin am 10. November 1991: „Ich habe Ihnen die Ergebnisse zweier wichtiger Untersuchungen in den Niederlanden mitgeteilt. Damit ist nicht gesagt, dass die Lage in Deutschland für die jüdische Zweite Generation die gleiche sein muss. Die gleichen Untersuchungen in Deutschland könnten zu einem ganz anderen Resultat kommen. Unmittelbar drängt sich die Frage auf, ob die Ergebnisse vielleicht noch mehr Pathologie, schwerere Störungen zeigten? Ich habe nicht die Möglichkeit oder die Fähigkeit, eine solche Frage weiter zu bearbeiten. Ich weise aber daraufhin, dass es Punkte gibt, welche dieses ‚mehr‘ im bestätigenden Sinne beantworten könnten.
  • In Deutschland ist das Schweigen über die Spätfolgen des Holocaust stärker als bei uns in den Niederlanden. Auch scheint die Anerkennung der Spätfolgen der ersten Generation, finanziell-kompensatorisch gesehen, geringer zu sein. Und wenn man in Deutschland von Kriegsopfern redet, sind damit die in Uniform gemeint, wir meinen damit die Opfer des NS-Terrors.
  • Die Identitätsfindung ist in Deutschland sicher nicht einfacher. Vielleicht ist es für Juden in Deutschland leichter gegenüber der Mehrheit zu sagen: Nein, ich gehöre nicht dazu. Wie überall hat man jedoch natürlich auch das Bedürfnis, Teil einer Gesellschaft zu sein. Und man kann kaum ein ganzes Leben sinnvoll mit einer Protesthaltung ausfüllen, zudem bleibt man dadurch ohne echte Identität.
  • Und last but not least ist ja die Begegnung mit den noch lebenden Verfolgern fast etwas Alltägliches, das wir in Holland vermeiden können.“
Die Überlebenden, die während des Krieges Kinder waren, ringen weiterhin mit ihren grundlegenden Unsicherheiten und mit der Trauer um ihre Eltern, die sie kaum oder gar nicht kannten. Die Nachkommen dieser beiden Gruppen, die sogenannte 2. Generation, erreichen mehr Bewusstsein über den unterdrückten Schmerz, den sie indirekt durch ihre Eltern übernommen haben.“
Wir sind mittelbar Opfer des Faschismus. Wir sind Beschädigte, anders als unsere Eltern, nämlich vor allem dadurch, dass ihre schweren Beschädigungen, die sie durch die Naziverfolgung erlitten haben, an uns Kinder weitergegeben wurden. Und weil die Wucht der Verfolgung so stark für sie war, dass sie hilfebedürftig wurden, auch wenn sie dies uns gegenüber nie richtig eingestehen wollten, verkehrte sich die Eltern-Kind-Beziehung, und wir wurden, in welcher Ausprägung auch immer, zu Eltern unserer Eltern. Diese Verkehrung hatte zerstörerische Wirkungen auf uns – die Liebe, die, schuldbewusst, wie wir uns immer fühlten, in grenzenlosen Strömen fließen sollte für unsere beschädigten Eltern, überforderte uns. Kein Kind kann diese Belastungen folgenlos überstehen.
Zum Begriff der Zweiten Generation

Der Begriff der Zweiten Generation umfasst im hier benutzten Sinne des Wortes die Töchter und Söhne von Opfern des Hitlerfaschismus, die im Zeitraum zwischen 1933 und 1945 den vielfältigen Verfolgungen durch das nazistische Terrorregime ausgesetzt wurden und im Sinne der geltenden Entschädigungsgesetze als politisch, rassisch, religiös oder anderweitig Verfolgte des Nationalsozialismus anerkannt sind. Die Töchter und Söhne jüdischer Verfolgter gehören dazu ebenso wie die Töchter und Söhne verfolgter Roma und Sinti, die Töchter und Söhne von politisch Verfolgten ebenso wie die von religiös Verfolgten. Die Töchter und Söhne von Opfern der nazistischen Gesundheitspolitik gehören dazu ebenso wie die Töchter und Söhne von anderweitig von den Nazideutschen aus der Gesellschaft ausgestoßenen Menschen, die sie nicht als wirkliche Menschen ansahen. Es zählen die Töchter und Söhne aller als Verfolgte des Naziregimes anerkannten Menschen zu den Angehörigen der Zweiten Generation.
Das Selbst! Die Zersplitterungsgefahr! Etliche von uns verloren später die Fähigkeit, eine Familie zu gründen oder diese auf Dauer zu halten. Einer der vielen Folgeschäden. Wie auch die Überempfindlichkeit gegen posttraumatische Reaktionen, die Neigung zur Abwehr von Außenimpulsen, die Neigung zur Verfälschung der Realität, das Fallen in tiefe Trauer und die Spuren hinterlassende Schwerstarbeit an der Integrität der verletzten Persönlichkeit.

Wir brauchen Hilfe, auch im materiellen Sinne des Wortes.

Gefühlsmäßig umschweben viele von uns mit unseren stillgelegten Kindheiten manchmal, wenn wir miteinander reden und uns vortasten, rettende rechtliche Inseln wie beispielsweise § 5 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches, wo vom Recht der Hinterbliebenen auf eine angemessene wirtschaftliche Versorgung die Rede ist, obwohl wir, deren Eltern bereits von uns gegangen sind, gar keine Hinterbliebenen im rechtlichen Sinne des hier benutzten Wortes sind, sondern längst erwachsen gewordene Kinder von Opfern des Faschismus, die, mit schweren Beschädigungen, inzwischen auch körperlichen, beladen, auf Entscheidungen der Mehrheitsgesellschaft, solidarische Hilfen betreffend, warten. Entschädigung, Wiedergutmachung, Lastenausgleich, gleichgültig, wie man die Hilfen nennt, denn wir alle, die Kinder der Naziverfolgten, brauchen sie dringend, sie sind für uns von existentieller Bedeutung, Garantien für ein Weiterleben in Heilung und Würde:

1. finanzielle Entschädigung mit dem Ziel, den Anspruchsberechtigten ausreichenden sozialen Schutz und das Recht auf ein würdiges und unabhängiges Dasein zu gewährleisten sowie umfassende Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben finanziell sicherzustellen

2. rechtliche Garantien für angemessenen Wohnraum auf Lebenszeit

3. Sicherstellung einer besonderen Gesundheitsfürsorge wie Therapien, Präventivmaßnahmen, Gesprächskreise von Betroffenen, Erholungsreisen und Kuren

4. Beihilfen wie Stipendien und Förderungen für die gesellschaftlich hochanerkannte Erinnerungsarbeit, die unsere Generation leistet

5. besondere soziale und medizinische Unterstützung für die Alterssicherung

6. Sicherstellung einer uneingeschränkten Mobilität mit den öffentlichen Verkehrsmitteln durch entsprechende Kostenübernahmen

Es ist das wichtigste Wünschen unserer Eltern, mit denen wir schmerzerfüllt trauern – der lebenden wie der inzwischen von uns fortgegangenen Überlebenden von Stigmatisierung und Extermination, von familiärer Destruktion und Isolation, von Illegalität, von Lagerhaft, von Folter, von Mord, von Flucht und von Emigration – an die jetzige deutsche Gesellschaft: Es möge ihren Kindern nichts Schlimmes widerfahren. Es möge ihnen gut gehen.

Das Mitgefühl in der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft für die Überlebenden, für deren Familien und für die Nachkommen der nicht mehr unter uns weilenden Überlebenden wächst. Davon kündet indirekt auch das bewegende Bekenntnis, das der Bundespräsident Joachim Gauck auf dem Festakt 60 Jahre Yad Vashem in der Deutschen Oper Berlin am 4. März 2014 abgelegt hat: „Deutschland ist der Konfrontation mit den Opfern nationalsozialistischer Vernichtungspolitik in der Nachkriegsära weitgehend ausgewichen. Westdeutschland wollte vergessen, Schuld verdrängen, die Vergangenheit unter den Aufbauleistungen des Wirtschaftswunders begraben. Viele, die im NS-Regime Verantwortung getragen hatten, gingen straffrei aus, die meisten Widerstandskämpfer hingegen galten als Vaterlandsverräter. Und für die Opfer der deutschen Grausamkeiten fehlte damals das Mitgefühl.“

Berlin, den 14. April 2014

Gelesen und rechtskräftig unterschrieben von:

Dr. Antonín Dick, geboren in Royal Leamington Spa, County Warwickshire, United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland

Alice M. Schloesser, geboren in Roubaix / Lille, Département Nord, République francaise

  • Die Resolution ist offen für alle Töchter und Söhne von Opfern des Faschismus, die unterschreiben möchten. Sie geht an die Repräsentanten aller demokratischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, an den Deutschen Bundestag, an das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, an die Opferverbände, an gesellschaftliche Einrichtungen und Vereine, die sich mit der NS-Verfolgung auseinandersetzen, sowie an die Presse.

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Zehn wichtige Bücher zur Zweiten Generation der Naziverfolgten

1. Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte e. V: Fachtagung zum Thema „Zweite Generation“ am 22. Oktober 2009, Köln 2009
2. Helen Epstein: Die Kinder des Holocaust. Gespräche mit Söhnen und Töchtern des Holocaust, München 1991
3. Esra: Spätfolgen bei NS-Verfolgten und deren Kindern, Berlin 1991
4. Ilse Grubrich-Simitis: Extremtraumatisierung als kumulatives Trauma. Psychoanalytische Studien über seelische Nachwirkungen der Konzentrationslagerhaft bei Überlebenden und ihren Kindern, in: Psyche 33, Seite 991-1023, 1979
5. Anna Maria Jokl: Zwei Fälle zum Thema ‘Bewältigung der Vergangenheit‘, Frankfurt am Main, 1997
6. Hans Keilson: Sequentielle Traumatisierung bei Kindern, Gießen 2001
7. Ilany Kogan: Der stumme Schrei der Kinder: Die Zweite Generation der Holocaust-Opfer, Gießen 2009
8. William G. Niederland: Folgen der Verfolgung: Das Überleben-Syndrom, Frankfurt am Main 1980
9. Alexander Rossberg / Johan Lansen (Hrsg.): Das Schweigen brechen: Berliner Lektionen zu Spätfolgen der Schoa, Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien 2003
10. Hans Stoffels / Ralf P. Beigel / Nahid Freudenberg / Niklas Schmidt (Hrsg.): Schicksale der Verfolgten. Psychische und somatische Auswirkungen von Terrorherrschaft, Berlin 1991
 

Editorische Hinweise

Den Resolutionstext erhielten wir von den AutorInnen. Es ist von ihnen beabsichtigt, diese Resolution in die im Frühjahr 2015 in Berlin geplante Konferenz "Zweite Generation" des Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte E.V. einzubringen.

Die Ankündigung dieser Konferenz siehe hier in dieser Ausgabe.

Das Titelbild und die ergänzenden Texte stammen von Dr. Antonín Dick.