Hilfe für die Opfer gestern und heute
Ein Beitrag aus Anlass des Gedenkens an die Opfer der nationalsozialistischen Terrorherrschaft am 27. Januar 2015

von Antonín Dick

02-2015

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Der Magistrat von Groß-Berlin erließ am 29. Mai 1945 eine Anordnung über den Arbeitseinsatz, die unter dem Abschnitt B folgende Sonderbestimmung enthält: „Besondere Förderung im Arbeitseinsatz erfahren alle ehemaligen politischen Häftlinge, die im Jahre 1945 aus Zuchthäusern, Gefängnissen und Konzentrationslagern freigekommen sind. Alle arbeitsfähigen politischen Häftlinge werden entsprechend ihren Fähigkeiten bevorzugt in den Arbeitsprozess eingereiht.“

Diese Anordnung wurde unterschrieben von Hans Jendretzky, dem Leiter der Abteilung Arbeitseinsatz des Magistrats der Stadt Berlin. Hans Jendretzky, von Beruf Schlosser, stand als Mitglied der KPD schon vor 1933 aktiv im Widerstand gegen Hitler. In den Jahren 1933/34 war er Mitglied der illegalen Bezirksleitung der KPD in Berlin. Er wurde von den Nazis in den darauffolgenden Schreckensjahren ins Gefängnis geworfen, zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt und in NS-Konzentrationslager verschleppt. Diese Anordnung war die erste für Verfolgte des Naziregimes in der zerstörten Reichshauptstadt – drei Wochen nach der bedingungslosen Kapitulation.

Gemäß Potsdamer Abkommen der Alliierten der Anti-Hitler-Koalition vom 2. August 1945 übernahm die Alliierte Kommandatura Berlin die Administration von Berlin. In der Folgezeit wurden an den Bezirksämtern aller Stadtbezirke Ausschüsse für die „Opfer des Faschismus“ gebildet.

// Auf den Berliner Schwarzmärkten boten Nichtjuden zu Höchstpreisen „Judensterne“ zum Verkauf an. //

Am 10. Mai 1946 traf die Alliierte Kommandatura von Berlin eine bemerkenswerte Anordnung, die man ohne Übertreibung als eine Wegbereiterin der späteren Entschädigungspolitik der souverän werdenden Deutschen gegenüber den Opfern des Faschismus bezeichnen kann. Der Jendretzky-Erlass wurde universalisiert, indem Opferhilfen auf dem Gebiet der Arbeitsbeschaffung auf alle Opfergruppen ausgeweitet wurden. Diese Alliierten-Anordnung lautet im vollen Wortlaut:

„Nr. BK / O (46) 209 --- 10. Mai 1946

Bevorzugung bei der Anstellung von Arbeitskräften

1. Zur Ausmerzung der diskriminierenden Nazimethoden und Einführung einer gerechten Handlungsweise bei der Anstellung von Arbeitskräften sind folgende Regeln zu beachten:

2. Bewerber sind in der nachstehenden Reihenfolge zu bevorzugen:

I. Opfer des Faschismus, einschließlich Personen, die ihre Stellungen auf Grund ihrer Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Einstellung und Parteizugehörigkeit verloren.

II. Personen, die dem Nazismus aktiven Widerstand leisteten.

III. Personen, die zu keiner Zeit Mitglieder der NSDAP oder irgendeiner ihrer untergeordneten Organisationen waren, oder an die DAF Geldzuwendungen kommen ließen, oder die zu keiner Zeit irgendwelche politische oder verwaltungsmäßige Funktion übernahmen (im Sinne der Bestimmung Nr. 1 der Anordnung BK / O (46) 101 a. )

3. Körperlich behinderten Personen wird ungeachtet der Ursache der Behinderung mit Rücksicht auf ihre Arbeitsfähigkeit eine Beschäftigung in der in Punkt 2 (I., II. und III.) aufgeführten Reihenfolge zugewiesen.

4. Keine Bevorzugung wird auf Grund von Wehrdienst oder Kriegsauszeichnungen (Medaillen, Anerkennungsschreiben, Rang usw.) gewährt.

5. Von Beschäftigung entlassene oder ausgeschlossene Personen gemäß der Bestimmungen Nr. 1 der Anordnung BK / O (46) 101 a. der Alliierten Kommandatura dürften mangels unbeschäftigter Arbeitskräfte der in Frage kommenden Berufe seitens der Arbeitsämter auf dem Wege des Sondereinsatzes unerwünschter oder schwerer Arbeit zugewiesen werden.

Im Auftrage der Alliierten Kommandatura Berlin:

G. F. N. REDDAWAY, Oberstleutnant
Vorsitzführender Stabschef “

// Von Anfang an war es die Leitlinie der Entschädigungspolitik Walter Ulbrichts, die Kämpfer gegen den Faschismus über die Opfer des Faschismus zu stellen. //

Vor Gründung der DDR entwickelten Repräsentanten der Westemigration, die zugleich Widerstandskämpfer gegen den Faschismus waren, die Grundzüge für eine Entschädigungspolitik, die die Gleichstellung aller Verfolgten des Naziregimes zur Voraussetzung hatte. Die Anordnung zur Sicherung der rechtlichen Stellung der anerkannten Verfolgten des Naziregimes vom 5. Oktober 1949 (ZVOBL Nr. 89 S. 765) erlangte hinter dem Rücken Walter Ulbrichts, unter dem Schutz der Sowjetischen Militäradministration, zwei Tage vor Gründung der DDR, Gesetzeskraft. Der Überlebende des Holocaust, Widerstandskämpfer und Palästinaemigrant Helmut Eschwege dazu: „Am 12. März 1949 bekam ich die Mitteilung vom Rat der Stadt Dresden, Ortsausschuss Opfer des Faschismus, dass die Prüfungskommission mich in ihrer Sitzung vom 10. März 1949 anhand der Unterlagen als ‚Kämpfer gegen den Faschismus‘ anerkannt habe. Es folgte am 5. Oktober 1949 eine Anordnung zur Sicherung der rechtlichen Stellung der anerkannten Verfolgten des Naziregimes. Hierzu erschienen am 10. Februar 1950 im Gesetzblatt die Durchführungsbestimmungen. Auch sie kannten noch keinerlei Unterschiede der Verfolgtenkategorien. Die Betreuung aller von diesem Gesetz erfassten Personen war damals bereits sehr großzügig. Ihnen wurde genügend Wohnraum zugeteilt, sie bekamen zusätzlich Kohlen und mitunter auch Lebensmittel und selbst Möbel, man kümmerte sich, besonders um ihre Gesundheit und half ihnen bei der Einordnung am Arbeitsplatz. Später kam noch der Kündigungsschutz hinzu, ebenso war ein gewisser Teil des Lohnes steuerfrei. Man ging mit allen möglichen Sorgen zu den Dienststellen der Verfolgten des Naziregimes (VdN) und bekam im Rahmen des Möglichen auch Hilfe.“1)

// In der amtlichen Sprache des vom Oberbürgermeister Ernst Reuter geleiteten Senats von Westberlin wurden noch im Jahre 1952 Widerstandskämpfer gegen die nationalsozialistische Terrorherrschaft, die grausam verfolgt und in den Gefängnissen und Konzentrationslagern gequält und zu Tode gefoltert wurden, als „Gemaßregelte“ bezeichnet. // 2)

Siebzig Jahre nach der Befreiung Deutschland durch die Alliierten der Anti-Hitler-Koalition wird am 15. und 16. Juni 2015 in Berlin eine Konferenz zur Hilfe und Unterstützung der Zweiten Generation der Opfer des Nationalsozialismus stattfinden. Durchführen wird diese Konferenz der demokratische Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte, der seinen Sitz in Köln hat. Die Konferenz „Zweite Generation“ wird von der Bundesstiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft, von der den Grünen nahestehenden Hans Böckler Stiftung sowie von der den Linken nahestehenden Rosa Luxemburg Stiftung gefördert. Die Räumlichkeiten zur würdigen Ausrichtung der Konferenz „Zweite Generation“ wird das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche zur Verfügung stellen.

Die Konferenz „Zweite Generation“, die erste überhaupt seit der Befreiung im Jahre 1945, wird zu einem Zeitpunkt einberufen, da Tausende von Flüchtlingen, Opfer von Terror und politischer Verfolgung, Opfer von Kriegen und Bürgerkriegen, Opfer einer neuen Art von Faschismus, eines islamistischen Faschismus, der eine Folge des europäischen Faschismus ist, nach Deutschland kommen. Überall im Land entstehen Willkommensbündnisse für Flüchtlinge, die zu Hilfe und Solidarität aufrufen. So heißt es beispielsweise im Aufruf des Willkommensbündnisses für Flüchtlinge in Steglitz-Zehlendorf von Berlin: „Die Flüchtlinge, die zu uns kommen, besitzen bei ihrer Ankunft oftmals nur die Sachen, die sie am Leibe oder in einer kleinen Reisetasche tragen können. Gezielte Sachspenden werden deshalb dringend benötigt. Das Willkommensbündnis Steglitz-Zehlendorf unterstützt die Flüchtlingsunterkünfte im Bezirk bei der Sammlung von Sachspenden.“ 3)

// Die Hauptschimpfwörter auf Berliner Schulhöfen sind „Opfer“ und „Jude“//

In ihrer diesjährigen Neujahrsansprache sagte die Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Das ist vielleicht das größte Kompliment, das man unserem Land machen kann: dass die Kinder Verfolgter hier ohne Furcht groß werden können.“ Das ist wahr. Oder realistischer gesagt: Wir wollen es hoffen. Es bleibt aber demgegenüber als empirischer Befund auch festzuhalten, dass noch heute, siebzig Jahre nach der militärischen Niederschlagung der Naziherrschaft, Kinder von Verfolgten des Naziregimes in Deutschland diskriminiert werden. So ist es im Jahre 2014 im Stadtbezirk Steglitz-Zehlendorf von Berlin vorgekommen, dass ein Angehöriger einer Familie von NS-Verfolgten, Kind des Holocaust, Kind des Widerstands und Kind des Exil, der schon seit Jahrzehnten hierzulande lebt und auf Grund der politischen Konstellationen des deutschen Nachkriegs in die soziale Zwangslage geraten ist, Altersrente mit Grundsicherung beziehen zu müssen, als Asylbewerber und nach dem Asylbewerberleistungsgesetz behandelt wird. Auf der Konferenz „Zweite Generation“ wird daher auch die Frage nach dem „Schutz vor Diskriminierung“ gestellt werden müssen, wie es in dem Pressetext der wachsamen und engagierten Organisatoren dieser Konferenz heißt. Ohne Zweifel wird sich dies auch positiv auf den Status von Kindern von Flüchtlingsfamilien heutiger Verfolgungen auswirken.
 

Literaturhinweise

1) Helmut Eschwege: Fremd unter meinesgleichen. Erinnerungen eines Dresdner Juden, Berlin 1991, Seite 61-62
2) Büro für Gesamtberliner Fragen des Senats von Berlin: Berliner Schicksal 1945 – 1952. Amtliche Berichte und Dokumente, Druckhaus Tempelhof 1952, Seite 209
3) Willkommensbündnis für Flüchtlinge in Steglitz-Zehlendorf, c/o DRK Berlin Süd-West, Düppelstraße 36, 12163 Berlin

Editorische Hinweise
Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.

Mit Bezug auf die in diesem Artikel erwähnte "Konferenz zur Hilfe und Unterstützung der Zweiten Generation der Opfer des Nationalsozialismus" verweisen wir auf: