Editorial
Über Horch & Guck Praxen

von Karl Heinz Schubert

11/2015

trend
onlinezeitung

Ende 2014 wurde bekannt, dass über 38 Jahre lang der Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte Rolf Gössner, vom bundesdeutschen Inlandsgeheimdienst – dem Verfassungsschutz – ausgespäht und überwacht wurde. Im Oktober 2015 veröffentlichte die linke Internetplattform "linksunten.indymedia" das Material einer Recherchegruppe, wodurch eine Polizeibeamtin enttarnt wurde, die unter dem Tarnnamen „Maria Block“ mit entsprechender Legende ausgerüstet mindestens von 2009 bis 2012 in der Hamburger linken Szene als geheimdienstliche Kundschafterin unterwegs war. Im Jahr zuvor war in Hamburg bereits eine LKA-Beamtin mit der Tarnidentität „Iris Schneider“ als verdeckte Ermittlerin aufgeflogen.

Doch die bundesdeutschen Geheimdienste stützen ihre Tätigkeit nicht nur auf festangestellte Mitarbeiter*innen, sondern haben gerne auch freie Kundschafter*innen in ihren Diensten, wie die zahllosen, immer wiederkehrenden Berichte über "Anquatschversuche" zeigen.

Höchstes logistisches geheimdienstliches Ziel ist es dabei, möglichst soviele freie Mitarbeiter*innen verdeckt arbeitend unterzubringen, dass komplette Organisationen gesteuert werden können, wie das Beispiel NPD und ihr  Verbotsverfahren von 2001-2003 zeigen. Jenes Verfahren scheiterte. Denn die NPD war bis in die Führungsebenen mit V-Leute des Verfassungsschutzes durchsetzt, die quasi die Partei steuerten. Und wie der TAZ vom 5.10.2015 zu entnehmen war, reißen im zur Zeit laufenden Verfahren in Sachen Terrorgruppe NSU und ihr Netzwerk die Berichte über den Einfluss von V-Leuten auch nicht ab.

Aus dem Brandenburger Rundschreiben 6/09 (RS 6/09) vom 17. 8. 2009

"In Fällen von Delikten der Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates ist nicht nur die Polizei, sondern auch der Verfassungsschutz (Tel.: 0331/8662500) einzubeziehen. Das betrifft insbesondere die Verbreitung von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen gemäß § 86 StGB und die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen gemäß § 86 a StGB."

"Die Lehrkräfte sind verpflichtet, die Schulleitung zu unterrichten, wenn sie Kenntnis von solchen oder vergleichbaren Straftaten erhalten. Auch bei Sachverhalten, die nicht angezeigt werden müssen, kann es sinnvoll sein, die Polizei bzw. den jeweiligen Ansprechpartner Polizei der Schule zu informieren; darüber entscheidet die Schulleitung."

Aber auch die bürgerliche Mitte ist gegen "Horch & Guck" nicht gefeit, d.h. Objekt geheimdienstlicher Begierde zu werden. Der Berliner Tagesspiegel vom 23.10. 2015 berichtete ganzseitig von dem Fall des Jochen Bethkenhagen, der durch entsprechende Bespitzelung in den Verdacht geraten war, den KGB mit Informationen aus seiner Tätigkeit als Leiter der Europa-Abteilung der Brandenburgischen Landesregierung beliefert zu haben. Seit seinem Verhör durch den Verfassungschutz 2007 kämpft er gegen diesen Vorwurf und die damit zusammenhängenden Bespitzelungen juristisch an. Vergeblich. Denn: "Der Staat irrt sich nie." wie der Tagesspiegel zutreffend resumiert.

Geheimdienste mögen zwar bei ihren Horch&Guck-Aktionen "handwerkliche Fehler" machen, wie im Fall des bespitzelten Bethkenhagen aufgrund seiner jahrelangen juristischen Bemühungen schließlich eingeräumt werden musste. Aber ein Entschädigungs- oder Entschuldigungsanspruch besteht schon deshalb nicht, weil der "Staat" gemäß seiner Logik ja nur aus "Fürsorge" um unser aller Sicherheit willen handelt, oder wie es Stasi-Chef Mielke  nach seinem Rücktritt am 13.11.1989 in der DDR-Volkskammer in einer sehr schlichten Art formulierte: "Aber ich liebe euch doch, ich liebe doch alle Menschen!".

In dieser Ausgabe veröffentlichen wir auf  Reinhold Schramms Wunsch dessen  Erinnerungen, wie es vor 20 Jahren zu seinem Berufsverbot als Lehrer für Fachpraxis in Berlin infolge seiner Tätigkeit für das MfS in Westberlin kam. Sein "Blick zurück" halten wir für ein anschauliches Beispiel, das die Leser*innen in die Motivationen, Denkweisen und DDR-Praktiken des Horch & Guck blicken lässt.

Seine Ausspähungen, die er uns sozusagen exemplarisch für seine gesamte MfS-Tätigkeit mitteilt, stammen aus der Zeit Mitte der 1970er bis frühe 1980er Jahre:

  • Zum Beispiel das innerbetriebliche Verteilen von linken Flugblättern bei der Reichsbahn. Schramm bezeichnet die Flugis zwar als inhaltlich "berechtigt", handelt aber strikt nach den sogenannten betrieblichen Sicherheitsinteressen. Kurzum: er agiert als Werkschützer des Reichsbahneigentümers DDR gegen die Lohnarbeiter*innen-Interessen.  Solche kamen z.B. in der damals regelmäßig erscheinenden Flugschrift "Der Drachen" des "Anarchistischen Arbeiter-Bunds" oder in den diversen Betriebszeitungen der K-Gruppen zum Ausdruck.
     
  • Oder das Ausspähen der "verbliebenen Aktivisten des DR-Streikkomitees" 1980. Was war an ihnen so interessant? Waren sie Trotzkist*innen? Waren sie die "fünfte Kolonne des Imperialismus in den Reihen der Arbeiterbewegung" oder? Bereits vor dem Reichsbahnstreik hatte die SEW, die nicht nur ideologisch, sondern auch ökonomisch und politisch eine Filiale der SED war, etliche Funktionäre aus Apparat und Vorstand sowie reichlich Mitglieder wegen der politischen Speichelleckerein der SEW gegenüber der SED und DDR verloren. (Mitgliederstand 1974 = 7.500, 1980 = 5.300)  Diese sammelten sich u.a. bei der Zeitschrift Klarheit und wurden fortan gezielt vom MfS ausgespäht. Als die SEW in jene massive Erosion geriet, bemühten sich auch andere linke politische Zusammenhänge, so wie auch Schramms Zielgruppe, um politisch-ideologische Einflussnahme auf SEW-Dissident*innen.

Reinhold Schramm glaubt offensichtlich (nach Biermanns Ausweisung und  Bahros Verhaftung, Solidarnosz usw.) mit seinen Ausspähungen im linken Spektrum, die DDR als das vermeindlich historisch fortschrittliche Staatsgebilde vor weiteren Legitimationsverlusten schützen zu müssen. Nachvollziehen kann ich seine Denke, akzeptieren aber nicht.

Seine Horch&Guck-Aktivitäten sind Herrschaftspraktiken, die Bürger*innen, in dem Fall seine Genoss*innen/Kolleg*innen,  nur als Objekt behandeln und wo deren politische Aktivitäten selbstherrlich von ihm als  MfS-Kundschafter auf ideologisches Fehlverhalten reduziert werden. Entsprechende Informationen werden aus Gründen der DDR-Staatsraison an deren Geheimdienst zwecks Weiterbehandlung übermittelt. Ergo: Denk- und Handlungsmuster, die einem sozialemanzipatorischen Anspruch diametral entgegen stehen.

Reinhold Schramm erhielt nicht nur wegen seiner vielen Kundschafterberichte über linke Strömungen Berufsverbot -die nach 1989 den westlichen Geheimdienste sowieso zugänglich waren -  sondern vor allem wegen der nachhaltigen Störung des "Vertrauensverhältnisses" zu seinem Dienstherrn, indem er keine Auskünfte über diese Berichtstätigkeit zur weiteren Verwendung durch die Behörden gab. Für seine Weiterbeschäftigung wurde daher juristisch eine "Unzumutbarkeit in sich" staatsfürsorglich konstruiert, womit sich der Berliner Senat in eine jahrzehntealte Berufsverbotetradition für Kommunist*innen stellte, die mit umkehrtem politischem Vorzeichen auch in der DDR praktiziert worden war.

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Geheimdienste sind grundsätzlich von ihrer Zweckbestimmung her nicht nur an Personengeschichten, wie z.B. an Schramms Kundschafterberichten, interessiert, sondern vor allem an Handfestem: Daten und Fakten über Rüstungspolitik, Streitkräfte- und Kriegsfallplanung, Manövertätigkeiten, Konzern- und Industriezweigananlysen usw. usf. (siehe dazu z.B. David Gill, Ulrich Schröter, Das Ministerium für Staatsicherheit, Berlin 1991).

Von daher war es keinesfalls außergewöhnlich, dass der Untersuchungsausschuss (NSA)/Ausschuss des Deutschen Bundestages am 01.10.2015 mitteilte, der Bundesnachrichtendienst (BND) habe in Asylverfahren zusammen mit der NSA, dem Auslandsgeheimdienst der USA, regelmäßig Asylbewerber*innen über Informationen und Sachverhalte aus ihren Heimatländern befragt, die für die "Sicherheit der Bundesrepublik" relevant erschienen.

Ein Schelm, wer glaubt, dass die schleppende Bearbeitung der Asylanträge nur mit der gewachsenen Zahl der Refugees zusammenhängt. Weiteres zur Flüchtlings- und Asyfragefrage siehe in den Rubriken  "Kommentare zum Zeitgeschehen" und "Das besondere Dokument" sowie "Hintergründe & Gegenstandpunkte".

In der BRD Flüchtling sein hieß immer, den Geheimdiensten Rede und Antwort stehen zu müssen. Diese Praxis bildete erst unlängst (wieder) den Stoff für einen Spielfilm. Im "Westen", so sein Titel,  wird nach der Romanvorlage "Lagerfeuer" erzählt, wie die Chemikerin  Nelly Senff mit ihren beiden Kindern Katja und Aleksej aus der DDR nach West-Berlin flüchtet und wie sie im Flüchtlingslager Marienfelde in die Fänge des US-Geheimdienstes gerät und unter Druck gesetzt wird.

Flüchtling in der BRD sein hieß aber auch immer, im Lager oder in einer ähnlichen Unterkunft gleichsam wie im Wartesaal ab-/ausgesondert leben zu müssen. Mit dieser TREND-Ausgabe wollen wir Tatsachenmaterial zu diesem Thema wieder zugänglich machen, das aus den Anfängen der BRD-Geschichte stammt und wenig bekannt ist, obgleich zu dieser Zeit bereits die praktischen und juristischen Weichen gestellt wurden, wie sie heute noch wirken und das reaktionäre Massenbewußtsein formen. Wir beginnen mit einer Auflistung der rund 230 Lager für jüdische »Displaced Persons« (DPs), wie sie zwischen 1945 und 1957 betrieben wurden.

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Von Jens Benicke erhielten wir "eine Kritik an der Politik des Leninismus". Ins Zentrum seiner Kritik rückt er dabei Lenins "Was tun?" von 1902. Benicke spürt den Zusammenhang zwischen Lenins Realanalyse der russischen Klassenverhältnisse (Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland, 1896-1899, LW Band 3) und seinem Parteikonzept, weswegen Benicke  die spätere  "unhistorische Übernahme der Leninschen Positionen" durch KPdSU und Komintern kritisiert. Leider untersucht er die Leninsche Parteikonzeption im Hinblick auf ihre Ableitung aus den russischen Klassenverhältnisse nicht näher, sondern erledigt sie stattdessen mit der Feststellung, Lenins Argumentation basiere auf "Gedanken" von Kautsky. Aussagen, wie sie Kautsky und  Lenin treffen, dass im 19.Jahrhundert das Proletariat nicht Träger der Wissenschaft ist, sondern die Intelligenz, entspringen nicht dem Denken, sondern in diesen Analysen spiegelt sich die damalige objektive Realität (richtig) wider.

Nun ist aber die heutige Klassenrealität eine völlig andere, obgleich die Produktionsweise in ihrer Grundstruktur unverändert durch die Verwertung des Werts in privat- und staatskapitalistischen Formen bestimmt wird. Gemessen daran, ist die Überlebheit des Leninismus in der Lesart von Stalin, Trotzki und Co. plus heutiger Epigonen evident. Eine Ideologiekritik an diesen Lesarten, wie Benicke sie vorbringt, trifft aber das Problem linker "Organisierung heute" nicht. Die Leninsche dialektisch-materialistische Methode zur Entwicklung einer proletarischen Klassenorganisation, die den heutigen Klassenverhältnissen gerecht wird, ist gleichwohl aktueller denn je.

Frank Braun widmet sich in seinem Beitrag genau diesem Problem, indem er die programmatische Entwicklung der DKP, die sich bekanntlich als eine marxistische und vor allem leninistische Organisation selbstreferenziert, vor ihrem 21. Parteitag unter die Lupe nimmt. Für ihn bleibt die DKP jedoch den Beweis schuldig, "daß eine kommunistische Partei auch praktisch, gemessen an der Klassenwirklichkeit von heute, unverzichtbar ist und daß diese den 'Marxismus-Leninismus' als ideologische und theoretische Leitschnur haben muß." Für eine programmatische Debatte von Kommunist*innen, wie die DKP sie zur Zeit führt, fordert er daher statt Polarisierung entlang leerer Formeln:

"Es muß sich um die bewußte Aneignung der produktiven Kräfte durch die Produzenten handeln! So etwas ist nur mit dem Bruch mit den alten Gewohnheiten und dem Bruch mit der Trennung von Hand- und Kopfarbeit, nur mit Beseitigung der bürgerlichen Bildungsprivilegien, mit Kritik von männlichem Chauvinismus und Sexismus, mit Kritik des Rassismus zu machen. Diese geradezu kulturrevolutionären Anstrengungen müssen aber für die Massen außerhalb einer kommunistischen Partei bei dieser schon ablesbar sein."

Martin Gohlke erinnert in seinem Aufsatz an "zwei bahnbrechende Dokumente", gemeint sind Paul Lafargues "Recht auf Faulheit" von 1883  und "Das Manifest gegen die Arbeit" der Krisisgruppe von 1999. Er möchte, inspiriert von diesen beiden Texten, für ein "Recht auf materielle Existenz" agitieren und dem Arbeitsethos eine Absage erteilen. Während Paul Lafargues Schrift eher ideengeschichtlich wirkt, hat das Krisis-Manifest dagegen die Funktion in linken Diskurszusammenhängen  ein apokalytisches Ende des Kapitalismus mithilfe "kategorialer Kritik"(Gohlke) zu behaupten, um nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus die Geschichte der Arbeiter*innenbewegung als soziale Aufhebungsbewegung für beendet zu erklären. Offensichtlich hat der Autor Sympathien für bestimmte Kernthesen des Krisis-Manifests, obgleich er einräumen muss, dass die Empirie der Verhältnisse nicht den Begriffen entspricht, wie sie von der Krisisgruppe werttheoretisch gebraucht werden.

Schlussendlich bleibt für mich nur noch, für die zugesandten Texte zu danken, verbunden mit der Hoffnung, dass sie den Widerstreit der Meinungen anregen und das Interesse an der wissenschaftlichen Durchdringung der uns bedrückenden Verhältnisse zum Zwecke ihrer Aufhebung befördern.

TREND(s) im Netz - hier die jüngsten Zahlen:

Die BesucherInnenzahlen vom Oktober 2015, in Klammern 2014, 2013

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