Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Air France: Fliegen ohne Flugzeug
16.10.2015
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10/2015

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  Siehe den 1. Bericht  vom 12.10. in dieser Ausgabe

Auch in Frankreich sind die Temperaturen gesunken, nur noch drei Grad Celsius Tiefsttemperatur waren Mitte dieser Woche zu verzeichnen. Doch die soziale Temperatur befindet sich, zwar nicht gerade auf dem Siedepunkt – von Zeiten wie während der Auseinandersetzungen um die „Rentenreformen“ 2003 und 2010 oder die weitgehende Abschaffung des Kündigungsschutzes für junge Lohnabhängige (2006, „Anti-CPE-Bewegung“) sind wir weit entfernt -, doch auf dem Wege der Erwärmung.

Ein wichtiges Symptom dafür ist, dass der stärkste Gewerkschaftsdachverband im Land, die CGT, sich dazu entschlossen hat, der so genannten „Sozialkonferenz“ fern zu bleiben, welche am Montag, den 19. Oktober 15 rund um Präsident François Hollande und Premierminister Manuel Valls stattfinden wird. (Vgl. dazu die regierungsoffizielle Präsentation: http://travail-emploi.gouv.fr/evenements-colloques, ) Es soll dabei um „Beschäftigung“ (Beschäftigungspolitik, Beschäftigungsförderung...) gehen, und es handelt sich um die vierte „sozialpartnerschaftlich“ angelegte zentrale Veranstaltung dieser Art seit Beginn der Amtszeit von Präsident François Hollande im Mai 2012.

Wie auch schon bei der letzten Ausgabe im Juli 2014 will die CGT bei der Farce nicht mitmachen, kündigt es dieses Mal jedoch mehrere Tage vorher deutlich an. (Vgl. http://www.liberation.fr und http://www.lexpress.fr) Doch noch zu Anfang Oktober 15 hatte sie für dieses Mal ihre Teilnahme zugesagt. Die Verlaufsformen des Konflikts bei Air France - wir berichteten ausführlich -, und vor allem die Festnahme von fünf Lohnabhängigen im Morgengrauen am Montag, den 12. Oktober haben nun zu einer gegenläufigen Entscheidung geführt. (Vgl. http://www.lemonde.fr und http://www.lanouvellerepublique. oder http://www.rfi.frsowie http://actu.orange.fr) CGT-Generalsekretär Philippe Martinez meinte dazu, er habe nichts gegen einen „soziale Dialog“, könne jedoch mit einem „sozialen Monolog“ (der Gegenseite) nichts anfangen; vgl. http://www.europe1.fr - Der Karikaturist der liberalen Abendzeitung ,Le Monde’, Plantu, lässt Premierminister Valls dazu sagen: „Die CGT kommt nicht? Und dabei hatte ich mich (im Vorfeld) angestrengt“ – und zeichnet ihn im zerrupften Hemd an einem Tisch sitzend, die Schere vor sich liegend, mit welcher er sich den Air France-Look verpasst hatte.

Am Montag früh gegen sechs Uhr hatten bei fünf Lohnabhängigen Hausdurchsuchungen stattgefunden, im Anschluss wanderten sie in den Polizeigewahrsam. Ein sechster wurde ebenfalls in Polizeigewahrsam genommen, nachdem er sich infolge einer Vorladung freiwillig zu den Behörden begeben hatte. Unter ihnen befinden sich Mandatsträger und frühere Kandidaten der CGT. Die Betroffenen gehören meist der Logistik bei Air France (Lagerhallen, Mechanik...) an, die in der jüngsten Vergangenheit bereits massiv unter Stellenabbau – minus 40 % in diesem Bereich über die letzten Jahren – gelitten hat.

Laut Auffassung der Staatsanwaltschaft war eine solche Maßnahme (der frühmorgendlichen Hausdurchsuchung und Festnahme) „wie in Fällen von Gewaltdelikten üblich“ notwendig, „um Absprachen zwischen den Beschuldigten zu verhindern“. Der Polizeigewahrsam dauerte für die sechs Lohnabhängigen insgesamt dreißig Stunden. (Rein rechtlich ist eine Höchstdauer von 24 Stunden zulässig, die einmal um weitere 24 Stunden verlängert werden darf. Nur bei Delikten nach dem „Terrorismus“-Strafrecht ist eine Ausweitung auf insgesamt 96 Stunden rechtlich möglich.)

Am 02. Dezember 2015 wird nun der Prozess gegen die Beschuldigten im Pariser Vorort Bobigny (Bezirkshauptstadt des Départements Seine-Saint-Denis, wo auch der Pariser Flughafen Roissy-Charles de Gaulle liegt bzw. beginnt) stattfinden. Zu dem Prozess wird bereits breit mobilisiert; vgl. https://www.facebook.com/events/855874607853467/ . Angeklagt werden sie wegen „gemeinschaftlich begangener vorsätzlicher Gewalthandlungen“, also einer Straftat aus dem Bereich der Körperverletzung (obwohl hauptsächlich die Hemden zweier Spitzenmanager Schaden davontrugen); vgl. u.a. http://www.humanite.fr/ . Und hier kommen die Beschuldigten selbst zu Wort, wenngleich vermittelt über die bürgerliche Presse: https://communismeouvrier.wordpress.com- Gegen insgesamt 26 Beschäftigte laufen jedoch strafrechtliche Ermittlungen, vgl. vgl. http://www.lefigaro.fr

Gleichzeitig hat die Direktion von Air France disziplinarrechtliche Schritte gegen insgesamt zwanzig ihrer Lohnabhängigen eingeleitet. Fünf von ihnen wurden bereits ohne Bezüge (ohne Lohnfortzahlung) vom Dienst suspendiert; vgl. http://www.lefigaro.fr/

Rund um diese Affäre hat jedoch bereits eine massive Solidarisierung stattgefunden. Bereits am Montag Nachmittag demonstrierten rund 150 Menschen – Gewerkschafter bei Air France, aber auch Auswärtige, unter ihnen der französische KP-Vorsitzende Pierre Laurent – beim Unternehmenssitz am Flughafen Roissy-Charles de Gaulle. Eine weitere Solidaritätskundgebung, die größer ausfallen dürfte, wird mit mehr Vorbereitungszeit für den Freitag, 22. Oktober 15 in Paris geplant. Vgl. http://www.cgt.fr

Unterdessen häufen sich auch die Petitionen und anderweitige Solidaritätsaktionen statt, bisweilen unter witzigen Titeln wie „Ich gebe mein Hemd für die Freiheit“; vgl. http://jedonnemachemise.wesign.it/fr Letztere Aktion ruft nun frankreichweit dazu ab, am Samstag dieser Woche (17. Oktober) um die Mittagszeit seine alten Hemden vor den Präfekturen (Vertretungen des Zentralstaats) in den Bezirkshauptstädten abzuladen.

Für Wind & Wirbel sorgte auch, dass zwei Arbeiter und CGT-Mitglieder am Dienstag, den 13. Oktober sich weigerten, dem Staatspräsidenten François Hollande bei seinem Besuch auf der Werft im westfranzösischen Saint-Nazaire die Hand zu drücken – auf den Bildern sieht man, wie sie die Hände im Rücken verschränkt halten, während sie ihn in Sachen Politik zur Rede stellen -, und nahezu zeitgleich sein ultraliberaler Wirtschaftsminister Emmanuel Macron in Lyon und in Figeac von Lohnabhängigen ausgepfiffen wurde. Manche Beobachter sehen hierin sogar bereits eine Art Wendepunkt im sozialen Klima gekommen (so lautet die Einschätzung einer orthodox-kommunistischen/neostalinistischen Webseite) – was vielleicht ein bisschen viel Optimismus beinhaltet. Vgl. dazu im Näheren unter anderem:

- (Erste Meldung:) http://canempechepasnicolas.over-blog.com

- (Video:) http://canempechepasnicolas.over-blog.com/

- (Erklärungen eines der beteiligten Gewerkschafter:)

- http://tempsreel.nouvelobs.com
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http://canempechepasnicolas.over-blog.com
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http://canempechepasnicolas.over-blog.com/

Auch die Umfrageinstitute haben sich inzwischen leicht blamiert. Denn laut einer zunächst durch die Agentur Afp verbreiteten Umfrage (ja klar, Umfrageergebnisse haben immer nur relativen Aussagewert, und es kommt eben immer auch auf die Frageformulierung drauf an) sollen angeblich drei Viertel der Befragten durch die bösen Gewalttaten – gegen das Hemd des Personaldirektors – mehr oder minder „schockiert“ gewesen sein; vgl. dazu http://www.lefigaro.fr. Doch hat eine andere Umfrage kurz darauf ergeben, dass „eine Mehrheit der Franzosen (und Französinnen) für die Vorfälle bei Air France Verständnis zeigt“; 54 % der Befragten „verstehen“ demnach das Vorgehen der wütenden Beschäftigten, ohne es aktiv zu billigen, 8 % unterstützen und 38 % verurteilen es demnach. (vgl. http://www.lefigaro.fr ) So viel also zum relativen Wert von Umfrageergebnissen. (Vgl. dazu ferner auch: http://communisteslibertairescgt.over-blog.net )

Manche Betrachter/innen sehen es inzwischen als einen Fehler an, dass Regierungschef Manuel Valls in einer ersten Reaktion derart weit vorpreschte und die wütenden Lohnabhängigen bei Air France sofort als ,voyous’ (sinngemäß: „kriminelle Chaoten“) abqualifizierte. Sich bei einem Unternehmen, das kein Staatsbetrieb mehr sei – 17 % der Aktienanteile gehören noch dem französischen Staat – und für Letzteren auch keine hyperzentrale strategische Bedeutung aufweise, derart einseitig in den Konflikt hineinzuknien, wie der Premierminister es tat, sei politisch unvorsichtig gewesen. (Vgl. http://www.mediapart.fr/) Inzwischen hat Valls sogar ein Stück weit zurückrudern müssen. Nach der Reaktion seiner Umweltministerin Ségolène Royal – die sonst eher rechtslastige Sozialdemokratin distanzierte sich von den englischsprachigen Worten ihres Amtskollegen Emmanuel Macron (dem Wirtschaftsminister zufolge handelte es sich bei den zornigen Lohnabhängigen lediglich um „some stupid persons“), und dann auch von den massiven Entlassungsplänen bei Air France – musste Valls ein Stück nachziehen. Er forderte inzwischen das Unternehmen auf, Entlassungen nach Möglichkeit „zu vermeiden“; vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-eco

Unterdessen hat allerdings der Aufsichtsrat des Unternehmens eine harte Linie eingeschlagen, und sich hinter das angegriffene Spitzenmanagement gestellt. Auch forderte er die Pilotengewerkschaft SNPL, die seit dem vorigen Freitag (10. Oktober 15) separate Verhandlungen mit der Direktion führt, in ultimativem Ton zu einem raschen Einlenken in den wichtigsten Punkten auf. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-eco/2015 )

Dass die Staatsmacht sich bei den Konflikten rund um Air France massiv einmischt – und zwar gegen diejenigen Lohnabhängigen, die den Arbeitskampf führen – ist in der Sache nicht neu. Dies zeigt auch unser nachfolgender Rückblick auf den Pilotenstreik vor gut einem Jahr, dessen Auswirkungen (eine Teilniederlage der Pilotengewerkschaft SNPL, deren damalige relative Isolierung vom Rest der Lohnabhängigen bei Air France – und die 500 Millionen Euro Verlust für das Unternehmen) auch in den jetzigen Konflikt mit hineinwirken.

Editorische Hinweise

Letzte Meldung : Die Justiz verpflichtet die Piloten bei Air France zu einer Verlängerung ihrer Arbeitszeit. Ausführlicheres dazu am Montag.  

siehe:
http://www.francetvinfo.fr/ und  http://www.lefigaro.fr/flash-eco/