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1918 Unser November
Die sozialen Grundlagen: Der Kampf gegen die "Burgfriedenspolitik" der Instanzen von 1914 bis 1918

von Hans Manfred Bock

11-2014

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Die Berliner Linksradikalen um die "Lichtstrahlen"
 

Die "Arbeiterpolitik", die ab Juni 1916 erschien, knüpfte beson­ders in der Organlsations- und Bürokratiekritik an die in den Berliner "Lichtstrahlen" geleistete Vorarbeit an, wenn sie z. B. in folgender Weise die Ursachen des Versagens der deutschen Sozialdemokratie im August 1914 erklärte:

"Eingepfercht in die Formen des preußisch-deutschen Staates mit seiner ste­tig wachsenden Militärgewalt und seiner immer weiter greifenden Bureaukra­tie, mußte sie (die SPD, d. Verf.), sobald sie zur Massenpartei wurde, die­selben Formen In ihrem Innern entwickeln ... Die Organisierung der Mas­sen wurde die Hauptsorge; sie wurde schließlich zum Selbstzweck. Dann  nämlich, als der gewaltige Organisationsapparat die Bureaukratie schuf, die aus dem Mittel zum Zweck zum Selbstzweck wurde"(1).

Die "Arbeiterpolitik" wußte sich in dieser Kritik einig nicht nur mit den "Lichtstrahlen", sondern auch mit der Vorkriegskritik der SPD durch Michels und Pannekoek(2). Programmatisch hieß es zur Entschei­dung der SPD im August 1914: "Die Politik der Instanzen hat ihr gro­ßes historisches Fiasko erlebt. Es beginnt die Epoche der Arbeiter-politik"(3). - Mit eben diesem Ziel, den Arbeitern die Voraussetzungen zu selbstverantwortlichem Denken und Handeln zu schaffen, gab Julian Borchardt vom September 1913 bis zu ihrem Verbot Im April 1916 die "Lichtstrahlen" als "Bildungsorgan für denkende Arbeiter"(4) heraus. Lediglich gestützt auf den traditionell radikalen Reichstagswahlkreis Teltow-Beeskow-Storkow-Charlottenburg (schon Wilhelm Werner hatte als Delegierter von Teltow auf den Parteitagen 1890/91 seine Attacken für die "Jungen" durchgefochten) blieb diese Zeitschrift immer sehr eng mit der persönlichen Entwicklung und Zielsetzung ihres Heraus­gebers verbunden. Borchardt stand zu den Spontaneitätsprämissen der äußersten Linken der deutschen Sozialdemokratie vor dem Kriege; er ließ Franz Mehring zu Wort kommen und gleichermaßen Veröffentli­chungen der "Freien Vereinigung" rezensieren(5). Von Anfang an hatten die "Lichtstrahlen" einen besonderen, antiautoritären Akzent. Seine pädagogischen Bemühungen um die Arbeiter begründete Borchardt:

"Wir sind überzeugt, daß höhere Bildung der sozialistischen Massen jenen blinden Autoritätsglauben ausrotten wird, der den Menschen heutzutage beim Militär anerzogen wird, und den wir deshalb nicht selten leider auch an Stel­len finden, wo er nicht hingehört. Der allerdings wird schwinden wie die Spreu vor dem Winde, wenn alle Menschen das nötige Maß an Bildung be­sitzen. Und damit wird auch schwinden die Möglichkeit, daß die Masse den Führern ohne eigenes sachgemäßes Urteil folgt, und demzufolge schwindet den Führern die Gelegenheit, sei es in gutem oder bösem Willen, die Masse andere Wege zu führen, als sie geführt sein will"(6).

Relativ große verlegerische Unabhängigkeit und das besondere Augen­merk auf autoritäre Organisationsstrukturen machten so die "Licht­strahlen" unmittelbar nach dem "Verrat der Arbeiterführer" im Au­gust 1914 zum Sprachrohr der Empörung Uber diesen Akt. Nahezu alle Sprecher der radikalen Opposition schrieben zwischen August 1914 und April 1916 in den "Lichstrahlen"(7). In der September-Nummer von 1914 hielt Borchardt bereits die Vorkriegsbeschlüsse der SPD zur Kriegs­frage neben deren tatsächliches Verhalten im vorausgegangenen Mo­nat und kam zu dem Schluß, daß sich diese Partei ein für allemal un­glaubwürdig gemacht habe: "Wer wird in Zukunft den Sozialdemokra­ten noch glauben?"(8)- Schon Im folgenden Monat legte die Gruppe um Borchardt den Linken in der Sozialdemokratie die organisatorische Verselbständigung nahe, wie sie Bich in Holland Ja bereits 1909 voll­zogen hatte(9). 1915 setzte die Agitation für die entschlossene Lostren­nung von der SPD verstärkt ein, da diese - wie Borchardt in einer im Selbstverlag herausgegebenen Broschüre(10) nachzuweisen suchte - "ab­gedankt" habe; die SPD sei eine neue Partei geworden, ihre ursprüng­lichen revolutionären Ziele könne man nur noch außerhalb ihres Or­ganisationsrahmens vertreten(11). - Also lehnten die Berliner Radika­len um Borchardt auch die Appelle der "Opposition innerhalb der Or­ganisation", der "Arbeitsgemeinschaft", an die Parteiführung ab. Von einem Brief einer Anzahl von Mitgliedern der SPD an den Parteivor­stand vom Juni 1915, in dem in scharfen Wendungen die "Burgfrle-dens"-Politik als eine immer schroffere Abkehr von den bisherigen Grundsätzen der SPD angeprangert wurde, distanzierte sich die Redak­tion der "Lichtstrahlen", da sie nicht glaubte, "daß es auch nur den allergeringsten Zweck hat, an die genannten Körperschaften (den so­zialdemokratischen Parteivorstand und den Vorstand der sozialdemo­kratischen Reichstagsfraktion, d. Verf.) irgendeine Aufforderung zu richten"(12). Wie schon bei der Darstellung des Bremer Linksradikalis­mus gezeigt wurde, war diese Taktik genau im Sinne der Leninschen Resolution auf der ersten Zimmerwalder Konferenz(13). Nach der Kon­stituierung der ISD Ende 1915 gab Borchardt den "Lichtstrahlen" den Charakter eines Organs dieser oppositionellen Gruppierung und ver­öffentlichte z.B. seine Flugschrift über die achtzehn Kriegskreditver­weigerer vom 21.12.1915 auch in deren Namen(14). Vor dem Anschluß der "Spartakus"-Gruppe an die USPD im April 1917 sah Borchardt kei­ne unüberwindlichen Schranken zwischen den ISD und "Spartakus"'(15).

Das änderte sich, sobald diese Angliederung ruchbar wurde; im März 1917 fragte er in einem Aufruf der ISD(16) empört im Hinblick auf den Zusammenbruch der sozialdemokratischen Instanzenpolitik von 1914: "Soll da gegen die Wiederholung derselben Vorgänge die Gründung ei­ner neuen Partei helfen, die an Stelle der FUhrer Scheidemann und Ebert einfach die FUhrer Haase und Ledebour setzt oder auch die Füh­rer Liebknecht und Luxemburg?"(17) Borchardte persönliche politische Entwicklung hatte zu dieser Zeit (Anfang 1917) bereits eine Wendung genommen, die ihn auch in Widerspruch brachte mit den Bremer Linksradikalen, also dem größeren Teil der ISD, und die ihn künftig als Sprecher der linksradikalen Bewegung disqualifizieren sollte. Aus seiner - im Vergleich mit den analytischen Bemühungen der "Bremer Linken" oder des "Spartakus"-Bundes sehr einseitigen - Analyse des 4. August als "Fiasko der Instanzenpolitik" zog er den radikalen Schluß, daß die herkömmliche hierarchische Organisationsform der Partei schlechthin Uberholt sei, da in ihr abermals die Arbeiter an selb­ständigem Denken und Handeln zwangsläufig gehindert würden.

"Worauf es uns ankommt, ist die Beseitigung jeglichen Führertums in der Arbeiterbewegung. Was wir brauchen, um zum Sozialismus zu gelangen, ist reine Demokratie unter den Genossen, d.h. Gleichberechtigung, Selbständigkeit, Wille und Kraft zur eigenen Tat bei jedem Einzelnen. Nicht Führer dürfen wir haben, sondern nur ausführende Organe, die, anstatt ihren Willen den Genossen aufzuzwingen, um­gekehrt nur als deren Beauftragte handeln"(18).

Einen dermaßen rigorosen Schluß aus der FUhrer-Masse-Problematik zu ziehen, waren selbst die Bremer Linksradikalen keineswegs be­reit; sie hielten Borchardt vor. daß er mit der Aufgabe der Organisa­tionsform der Partei auf politische Aktion Uberhaupt verzichte. "An die Stelle der Partei setzte er die propagandistische Sekte mit anar­chistischen Formen"(19). Es ist in der Tat bemerkenswert, daß dies der erste Fall in der jüngeren Tradition des deutschen Linksradikalismus ist - die ja mit den älteren Traditionslinien des Anarchismus und des Syndikalismus gemeinsam die Initiativrechte des Individuums gegen den Unterordnungsanspruch des Organisationsapparates geltend mach­te -, in dem höchst bewußt und willentlich von einer oppositionellen Gruppe organisationsverneinende Konsequenzen gezogen wurden. Wie später in der Desintegrationsphase der linkskommunistischen und syn­dikalistischen Organisationen nach 1921, in der ganz analoge organi­sationsverneinende Tendenzen auftreten, die revolutionäre Erschöp­fung des Proletariats die Basis war, so lag auch Borchardts Schluß­folgerung Resignation zugrunde, der er in einer Schrift vom Juli 1917 Ausdruck gegeben hatte(20). Er befand, daß in der deutschen Arbeiter­schaft noch alles zu tun bleibe, damit sie sich von ihren Führern be­freien und selbstverantwortlich zu denken und handeln lerne: "Fänden sich wirklich ein paar Führer, die zur Revolution aufrufen, so wür­den ihnen die Volksmassen nicht folgen, weil solch ein Geist gar nicht in ihnen lebt"(21). Borchardt hatte die Spontaneitätsprämissen, die Über­zeugung von der schöpferisch-revolutionären Natur der modernen Mas­sen, aufgegeben. Persönlich hatte Borchardt sich bereits gegen An­fang des Jahres 1917 in den Kreisen der Linksradikalen in Mißkredit gebracht durch die Präsentierung und Herausgabe eines Buches, in dem u.a. der deutsche U-Bootkrieg gerechtfertigt wurde(22). Er wurde künf­tig von den Linksradikalen als Abtrünniger angesehen - "Julian Apo-stata" -, dem jedoch das historische Verdienst zukam, "in der Zeit des völligen Zusammenbruchs der Sozialdemokratie den Bauarbeitern an der Neuen Internationale in seinen "Lichtstrahlen" eine Plattform"" geboten zu haben .

Als Borchardt nach der November-Revolution wie­der die "Lichtstrahlen" herauszugeben begann, nahmen die "Bremer Linken" - die zwischen der November-Revolution und der Gründung der KPD (S) als "Internationale Kommunisten Deutschlands" (IKD) fir­mierten - eine skeptisch abwartende Haltung ein(24). Das Organ der "Freien Vereinigung" empfahl die Lektüre der "Lichtstrahlen". Bor­chardt hatte jedoch den Kontakt mit der radikalen Arbeiterbewegung verloren und seine Publikationen wurden in seltsamer Weise bezie­hungslos zur politischen Gegenwart(25). Die IKD hatten sehen wollen, ob sich Borchardt "ins Feuer des proletarischen Klassenkampfes" an der Seite des "Spartakus"-Bundes begeben werde, oder ob er seine Ber­liner Anhänger wiederum zu einem Debattierklub zusammenfassen wol­le. Borchardt entschied sich in der Folge für den Diskutierklub; er blieb bis zu seinem Tode (1932) parteiloser Sozialist.

 

Anmerkungen

1) 1) "Arbeiterpolitik" 1: Jg.(1916). Nr.l: Niederbruch und Aufstieg.

2) Vgl. besonders "Arbeiterpolitik" 1. Jg. (1916). Nr. 5: Die Reform des Fuhrertums.

3) "Arbeiterpolltik" 1.Jg.(1916), Nr.1.

4) Die weitere Herausgabe der "Lichtstrahlen" war von der Militärzensur unter der Bedingung erlaubt worden, daß die Zeitschrift ausschließlich belehrenden und feuilletonistischen In­halt haben werde. Eine Bedingung, der auch Franz Pfemferts "Aktion" während der Kriegs­jahre unterworfen war. Im Mai 1916 erschien die Zeitschrift unter dem neuen Titel "Der Leuchtturm", aber mit im wesentlichen dem alten Inhalt. Daraufhin wurde sie ganz verbo­ten. Sie erschien wieder unter dem Namen "Lichtstrahlen" ab November 1918 als "Zeit­schrift für Internationalen Kommunismus" in unregelmäßiger Folge bis 1921.

5) S. "Lichtstrahlen" l.Jg.(1913). Nr.4 u.Nr.11.

6) "Lichtstrahlen" 1. Jg. (1914), Nr. 11.

7) eben Borchardt war Pannekoek mit den meisten Artikeln vertreten) ei finden sich darin aber auch Beitrage von Karl Radek. Rosa Luxemburg, Franz Mehring. Karl Liebknecht. Otto Rühle u. a.

8) "Lichtstrahlen" 2. Jg. (1914), Nr.lt Partei und Vaterland.

9) Vgl. "Lichtstrahlen" 2. Jg. (1914). Nr.2: "Schoo seit Jahren hat ... die "Linke" inner­halb der Partei unbewußt als Feigenblatt für deren Sünden gedient. Will sie nach wie vor sich begnügen, auf die Resolutionen des nächsten Parteitages zu hoffen und Inzwischen ein­trächtig "mitarbeiten" > ... Vielleicht wird den Mannern der "Linken" ihr Entschluß erleich­tert durch den deutlichen Wink mit dem Zaunpfahle, den Ihnen der "Grundstein* Jüngst machte, indem er die Frage aufwarf, "ob die sozialdemokratische Partei die Leute, die Hure Haltung zum Kriege verurteilen und bekämpfen, auf die Dauer In ihren Reihen ertragen kann".

10) Julian Borchardt, Vor und nach dem 4. August 1914. Hat die deutsche Sozialdemokratie abgedankt), Berlin 1915.

11) "Lichtstrahlen" 2. Jg. (1916), Nr. 16t Eine neue Partei.

12) "Lichtstrahlen" 2.Jg.(1915),Nr. 13.

13) Zur Zimmerwalder Konferenz s. Karl Radek. Der erste Schritt, in: "Lichtstrahlen" 3. Jg.(1915). Nr.1.

14) Internationale Sozialisten Deutschlands, Die Minderheit des 21.Dezember 1915, Berlin 1916. Er sah einerseits in diesem Akt einen "Sieg der oppositionellen Massen, einen Be­weis für ihre Starke, daß sie die auf keinem festen Boden stehenden FUhrer gezwungen hat, ihr Rechnung zu tragen." (p.7). - Andererseits sah er voraus, daß von diesen Kräften keine prinzipielle Opposition zu erwarten sei.

15) Er schrieb noch im Januar 1916; "... bleibt endlich eine dritte Gruppe, diejenige, die seinerzeit das vortreffliche Heft "Intemstionale" herausgegeben hat. Von ihr trennt mich sachlich gar nichts". In: "Lichtstrahlen" 3. Jg.(1916). Nr.4.

16) "Arbeiterpolltik" 2. Jg. (1917). Nr. 10- An unsere Gesinnungsgenossen.

17) Ibidem.

18) "Arbeiterpolitik" 2. Jg. (1917), Nr. 10. Die Hervorhebungen sind im Original.

19) "Arbeiterpolitik" 2.Jg. (1917). Nr. 31: Abtrünnig.

20) Julian Borchardt, Revolutionshoffnungen, Berlin 1917. Die Berliner ISD erkannten auf­grund dieser Schrift Borchardt das Recht ab, weiterhin im Namen der ISD zu sprechen. S. "Arbeiterpolltik" 2. Jg.(1917), Nr.36.

21) Julian Borchardt, Revolutionshoffnungen, p. 7.

22) Es handelte sich um: Karl Erdmann, England und die Sozialdemokratie, Berlin 1917. S. Borchardts Rechtfertigung in der "Arbeiterpolitik" 2. Jg.(1917), Nr. 15. Die Redaktion er­kannte die Rechtfertigung nicht an. Vgl. auch: Julian Borchardt, Ich und der U-Bootkrieg, ein Wort der Abwehr, Berlin 1917.

23) "Arbeiterpolitik" 2.Jg. (1817). Nr. 31.

24) S. "Der Kommunist, Flugzeitung der Internationalen Kommunisten Deutschlands" 1. Jg.(1918), Nr. 7.Dort zum Wiedererscheinen der "Lichtstrahlen": "Daes heute jedoch nicht allein auf Zielangabe ankommt, sondern ebenso auf die Methoden des Kampfes, aber die sich das erste Heft nicht verbreitet, so wollen wir abwarten was die "Lichtstrahlen" dazu zu sagen haben, ehe wir uns mit ihnen solidarisch erklaren".

25) Vgl.z.B. Julian Borchardt, Der kommunistische Aufbau, Berlin 1919. Julian Borchardt, Die Diktatur des Proletariat«, Berlin 1919. Julian Borchardt, Kassandrarufe, Heraus aus Not und Todl Berlin 1919.

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Hans Manfred Bock, Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918-1923, Meisenheim am Glan, 1969, S. 72-77