Die Berliner Linksradikalen um die
"Lichtstrahlen"
Die "Arbeiterpolitik", die ab Juni
1916 erschien, knüpfte besonders in der Organlsations- und
Bürokratiekritik an die in den Berliner "Lichtstrahlen"
geleistete Vorarbeit an, wenn sie z. B. in folgender Weise die
Ursachen des Versagens der deutschen Sozialdemokratie im August
1914 erklärte: |
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"Eingepfercht in die Formen des preußisch-deutschen Staates mit
seiner stetig wachsenden Militärgewalt und seiner immer weiter
greifenden Bureaukratie, mußte sie (die SPD, d. Verf.), sobald
sie zur Massenpartei wurde, dieselben Formen In ihrem Innern
entwickeln ... Die Organisierung der Massen wurde die
Hauptsorge; sie wurde schließlich zum Selbstzweck. Dann
nämlich, als der gewaltige Organisationsapparat die Bureaukratie
schuf, die aus dem Mittel zum Zweck zum Selbstzweck wurde"(1).
Die "Arbeiterpolitik" wußte sich
in dieser Kritik einig nicht nur mit den "Lichtstrahlen",
sondern auch mit der Vorkriegskritik der SPD durch Michels und
Pannekoek(2). Programmatisch hieß es zur Entscheidung der SPD
im August 1914: "Die Politik der Instanzen hat ihr großes
historisches Fiasko erlebt. Es beginnt die Epoche der
Arbeiter-politik"(3). - Mit eben diesem Ziel, den Arbeitern die
Voraussetzungen zu selbstverantwortlichem Denken und Handeln zu
schaffen, gab Julian Borchardt vom September 1913 bis zu ihrem
Verbot Im April 1916 die "Lichtstrahlen" als "Bildungsorgan für
denkende Arbeiter"(4) heraus. Lediglich gestützt auf den
traditionell radikalen Reichstagswahlkreis
Teltow-Beeskow-Storkow-Charlottenburg (schon Wilhelm Werner
hatte als Delegierter von Teltow auf den Parteitagen 1890/91
seine Attacken für die "Jungen" durchgefochten) blieb diese
Zeitschrift immer sehr eng mit der persönlichen Entwicklung und
Zielsetzung ihres Herausgebers verbunden. Borchardt stand zu
den Spontaneitätsprämissen der äußersten Linken der deutschen
Sozialdemokratie vor dem Kriege; er ließ Franz Mehring zu Wort
kommen und gleichermaßen Veröffentlichungen der "Freien
Vereinigung" rezensieren(5). Von Anfang an hatten die
"Lichtstrahlen" einen besonderen, antiautoritären Akzent. Seine
pädagogischen Bemühungen um die Arbeiter begründete Borchardt:
"Wir sind überzeugt, daß höhere
Bildung der sozialistischen Massen jenen blinden
Autoritätsglauben ausrotten wird, der den Menschen heutzutage
beim Militär anerzogen wird, und den wir deshalb nicht selten
leider auch an Stellen finden, wo er nicht hingehört. Der
allerdings wird schwinden wie die Spreu vor dem Winde, wenn alle
Menschen das nötige Maß an Bildung besitzen. Und damit wird
auch schwinden die Möglichkeit, daß die Masse den Führern ohne
eigenes sachgemäßes Urteil folgt, und demzufolge schwindet den
Führern die Gelegenheit, sei es in gutem oder bösem Willen, die
Masse andere Wege zu führen, als sie geführt sein will"(6).
Relativ große verlegerische
Unabhängigkeit und das besondere Augenmerk auf autoritäre
Organisationsstrukturen machten so die "Lichtstrahlen"
unmittelbar nach dem "Verrat der Arbeiterführer" im August 1914
zum Sprachrohr der Empörung Uber diesen Akt. Nahezu alle
Sprecher der radikalen Opposition schrieben zwischen August 1914
und April 1916 in den "Lichstrahlen"(7). In der September-Nummer
von 1914 hielt Borchardt bereits die Vorkriegsbeschlüsse der SPD
zur Kriegsfrage neben deren tatsächliches Verhalten im
vorausgegangenen Monat und kam zu dem Schluß, daß sich diese
Partei ein für allemal unglaubwürdig gemacht habe: "Wer wird in
Zukunft den Sozialdemokraten noch glauben?"(8)- Schon Im
folgenden Monat legte die Gruppe um Borchardt den Linken in der
Sozialdemokratie die organisatorische Verselbständigung nahe,
wie sie Bich in Holland Ja bereits 1909 vollzogen hatte(9).
1915 setzte die Agitation für die entschlossene Lostrennung von
der SPD verstärkt ein, da diese - wie Borchardt in einer im
Selbstverlag herausgegebenen Broschüre(10) nachzuweisen suchte -
"abgedankt" habe; die SPD sei eine neue Partei geworden, ihre
ursprünglichen revolutionären Ziele könne man nur noch
außerhalb ihres Organisationsrahmens vertreten(11). - Also
lehnten die Berliner Radikalen um Borchardt auch die Appelle
der "Opposition innerhalb der Organisation", der
"Arbeitsgemeinschaft", an die Parteiführung ab. Von einem Brief
einer Anzahl von Mitgliedern der SPD an den Parteivorstand vom
Juni 1915, in dem in scharfen Wendungen die
"Burgfrle-dens"-Politik als eine immer schroffere Abkehr von den
bisherigen Grundsätzen der SPD angeprangert wurde, distanzierte
sich die Redaktion der "Lichtstrahlen", da sie nicht glaubte,
"daß es auch nur den allergeringsten Zweck hat, an die genannten
Körperschaften (den sozialdemokratischen Parteivorstand und den
Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, d. Verf.)
irgendeine Aufforderung zu richten"(12). Wie schon bei der
Darstellung des Bremer Linksradikalismus gezeigt wurde, war
diese Taktik genau im Sinne der Leninschen Resolution auf der
ersten Zimmerwalder Konferenz(13). Nach der Konstituierung der
ISD Ende 1915 gab Borchardt den "Lichtstrahlen" den Charakter
eines Organs dieser oppositionellen Gruppierung und
veröffentlichte z.B. seine Flugschrift über die achtzehn
Kriegskreditverweigerer vom 21.12.1915 auch in deren Namen(14).
Vor dem Anschluß der "Spartakus"-Gruppe an die USPD im April
1917 sah Borchardt keine unüberwindlichen Schranken zwischen
den ISD und "Spartakus"'(15).
Das änderte sich, sobald diese
Angliederung ruchbar wurde; im März 1917 fragte er in einem
Aufruf der ISD(16) empört im Hinblick auf den Zusammenbruch der
sozialdemokratischen Instanzenpolitik von 1914: "Soll da gegen
die Wiederholung derselben Vorgänge die Gründung einer neuen
Partei helfen, die an Stelle der FUhrer Scheidemann und Ebert
einfach die FUhrer Haase und Ledebour setzt oder auch die
Führer Liebknecht und Luxemburg?"(17) Borchardte persönliche
politische Entwicklung hatte zu dieser Zeit (Anfang 1917)
bereits eine Wendung genommen, die ihn auch in Widerspruch
brachte mit den Bremer Linksradikalen, also dem größeren Teil
der ISD, und die ihn künftig als Sprecher der linksradikalen
Bewegung disqualifizieren sollte. Aus seiner - im Vergleich mit
den analytischen Bemühungen der "Bremer Linken" oder des
"Spartakus"-Bundes sehr einseitigen - Analyse des 4. August als
"Fiasko der Instanzenpolitik" zog er den radikalen Schluß, daß
die herkömmliche hierarchische Organisationsform der Partei
schlechthin Uberholt sei, da in ihr abermals die Arbeiter an
selbständigem Denken und Handeln zwangsläufig gehindert würden.
"Worauf es uns ankommt, ist die
Beseitigung jeglichen Führertums in der Arbeiterbewegung.
Was wir brauchen, um zum Sozialismus zu gelangen, ist reine
Demokratie unter den Genossen, d.h. Gleichberechtigung,
Selbständigkeit, Wille und Kraft zur eigenen Tat bei jedem
Einzelnen. Nicht Führer dürfen wir haben, sondern nur ausführende
Organe, die, anstatt ihren Willen den Genossen aufzuzwingen,
umgekehrt nur als deren Beauftragte handeln"(18).
Einen dermaßen rigorosen Schluß aus der FUhrer-Masse-Problematik
zu ziehen, waren selbst die Bremer Linksradikalen keineswegs
bereit; sie hielten Borchardt vor. daß er mit der Aufgabe der
Organisationsform der Partei auf politische Aktion Uberhaupt
verzichte. "An die Stelle der Partei setzte er die
propagandistische Sekte mit anarchistischen Formen"(19).
Es ist in der Tat bemerkenswert, daß dies der erste Fall in der
jüngeren Tradition des deutschen Linksradikalismus ist - die ja
mit den älteren Traditionslinien des Anarchismus und des
Syndikalismus gemeinsam die Initiativrechte des Individuums
gegen den Unterordnungsanspruch des Organisationsapparates
geltend machte -, in dem höchst bewußt und willentlich von
einer oppositionellen Gruppe organisationsverneinende
Konsequenzen gezogen wurden. Wie später in der
Desintegrationsphase der linkskommunistischen und
syndikalistischen Organisationen nach 1921, in der ganz analoge
organisationsverneinende Tendenzen auftreten, die revolutionäre
Erschöpfung des Proletariats die Basis war, so lag auch
Borchardts Schlußfolgerung Resignation zugrunde, der er in
einer Schrift vom Juli 1917 Ausdruck gegeben hatte(20).
Er befand, daß in der deutschen Arbeiterschaft noch alles zu
tun bleibe, damit sie sich von ihren Führern
befreien und selbstverantwortlich zu denken und handeln lerne:
"Fänden sich wirklich ein paar Führer,
die zur Revolution aufrufen, so würden ihnen die Volksmassen
nicht folgen, weil solch ein Geist gar nicht in ihnen lebt"(21).
Borchardt hatte die Spontaneitätsprämissen, die Überzeugung von
der schöpferisch-revolutionären Natur der modernen Massen,
aufgegeben. Persönlich hatte Borchardt sich bereits gegen
Anfang des Jahres 1917 in den Kreisen der Linksradikalen in
Mißkredit gebracht durch die Präsentierung und Herausgabe eines
Buches, in dem u.a. der deutsche U-Bootkrieg gerechtfertigt
wurde(22). Er wurde künftig von den
Linksradikalen als Abtrünniger angesehen - "Julian Apo-stata" -,
dem jedoch das historische Verdienst zukam, "in der Zeit des
völligen Zusammenbruchs der Sozialdemokratie den Bauarbeitern
an der Neuen Internationale in seinen "Lichtstrahlen" eine
Plattform"" geboten zu haben .
Als Borchardt nach der November-Revolution
wieder die "Lichtstrahlen" herauszugeben begann, nahmen die
"Bremer Linken" - die zwischen der November-Revolution und der
Gründung der KPD (S) als "Internationale Kommunisten
Deutschlands" (IKD) firmierten - eine skeptisch abwartende
Haltung ein(24). Das Organ der "Freien Vereinigung" empfahl die
Lektüre der "Lichtstrahlen". Borchardt hatte jedoch den Kontakt
mit der radikalen Arbeiterbewegung verloren und seine
Publikationen wurden in seltsamer Weise beziehungslos zur
politischen Gegenwart(25). Die IKD hatten sehen wollen, ob sich
Borchardt "ins Feuer des proletarischen Klassenkampfes" an der
Seite des "Spartakus"-Bundes begeben werde, oder ob er seine
Berliner Anhänger wiederum zu einem Debattierklub
zusammenfassen wolle. Borchardt entschied sich in der Folge für
den Diskutierklub; er blieb bis zu seinem Tode (1932)
parteiloser Sozialist.
Anmerkungen
1)
1) "Arbeiterpolitik" 1: Jg.(1916). Nr.l: Niederbruch und
Aufstieg.
2)
Vgl. besonders "Arbeiterpolitik" 1. Jg. (1916). Nr. 5: Die
Reform des Fuhrertums.
3)
"Arbeiterpolltik" 1.Jg.(1916), Nr.1.
4)
Die weitere Herausgabe der "Lichtstrahlen" war von der
Militärzensur unter der Bedingung erlaubt worden, daß die
Zeitschrift ausschließlich belehrenden und feuilletonistischen
Inhalt haben werde. Eine Bedingung, der auch Franz Pfemferts
"Aktion" während der Kriegsjahre unterworfen war. Im Mai 1916
erschien die Zeitschrift unter dem neuen Titel "Der Leuchtturm",
aber mit im wesentlichen dem alten Inhalt. Daraufhin wurde sie
ganz verboten. Sie erschien wieder unter dem Namen
"Lichtstrahlen" ab November 1918 als "Zeitschrift für
Internationalen Kommunismus" in unregelmäßiger Folge bis 1921.
5)
S. "Lichtstrahlen" l.Jg.(1913). Nr.4 u.Nr.11.
6)
"Lichtstrahlen" 1. Jg. (1914), Nr. 11.
7)
eben Borchardt war Pannekoek mit den meisten Artikeln vertreten)
ei finden sich darin aber auch Beitrage von Karl Radek. Rosa
Luxemburg, Franz Mehring. Karl Liebknecht. Otto Rühle u. a.
8)
"Lichtstrahlen" 2. Jg. (1914), Nr.lt Partei und Vaterland.
9)
Vgl. "Lichtstrahlen" 2. Jg. (1914). Nr.2: "Schoo seit Jahren hat
... die "Linke" innerhalb der Partei unbewußt als Feigenblatt
für deren Sünden gedient. Will sie nach wie vor sich begnügen,
auf die Resolutionen des nächsten Parteitages zu hoffen und
Inzwischen einträchtig "mitarbeiten" > ... Vielleicht wird den
Mannern der "Linken" ihr Entschluß erleichtert durch den
deutlichen Wink mit dem Zaunpfahle, den Ihnen der "Grundstein*
Jüngst machte, indem er die Frage aufwarf, "ob die
sozialdemokratische Partei die Leute, die Hure Haltung zum
Kriege verurteilen und bekämpfen, auf die Dauer In ihren Reihen
ertragen kann".
10)
Julian Borchardt, Vor und nach dem 4. August 1914. Hat die
deutsche Sozialdemokratie abgedankt), Berlin 1915.
11)
"Lichtstrahlen" 2. Jg. (1916), Nr. 16t Eine neue Partei.
12)
"Lichtstrahlen" 2.Jg.(1915),Nr. 13.
13)
Zur Zimmerwalder Konferenz s. Karl Radek. Der erste Schritt, in:
"Lichtstrahlen" 3. Jg.(1915). Nr.1.
14)
Internationale Sozialisten Deutschlands, Die Minderheit des
21.Dezember 1915, Berlin 1916. Er sah einerseits in diesem Akt
einen "Sieg der oppositionellen Massen, einen Beweis für ihre
Starke, daß sie die auf keinem festen Boden stehenden FUhrer
gezwungen hat, ihr Rechnung zu tragen." (p.7). - Andererseits
sah er voraus, daß von diesen Kräften keine prinzipielle
Opposition zu erwarten sei.
15)
Er schrieb noch im Januar 1916; "... bleibt endlich eine dritte
Gruppe, diejenige, die seinerzeit das vortreffliche Heft
"Intemstionale" herausgegeben hat. Von ihr trennt mich sachlich
gar nichts". In: "Lichtstrahlen" 3. Jg.(1916). Nr.4.
16)
"Arbeiterpolltik" 2. Jg. (1917). Nr. 10- An unsere
Gesinnungsgenossen.
17)
Ibidem.
18)
"Arbeiterpolitik" 2. Jg. (1917), Nr. 10.
Die Hervorhebungen sind im Original.
19)
"Arbeiterpolitik" 2.Jg. (1917). Nr. 31:
Abtrünnig.
20)
Julian Borchardt, Revolutionshoffnungen, Berlin 1917. Die
Berliner ISD erkannten aufgrund dieser Schrift Borchardt das
Recht ab, weiterhin im Namen der ISD zu sprechen. S.
"Arbeiterpolltik" 2. Jg.(1917), Nr.36.
21)
Julian Borchardt, Revolutionshoffnungen, p. 7.
22)
Es handelte sich um: Karl Erdmann, England und die
Sozialdemokratie, Berlin 1917. S. Borchardts Rechtfertigung in
der "Arbeiterpolitik" 2. Jg.(1917), Nr. 15. Die Redaktion
erkannte die Rechtfertigung nicht an. Vgl. auch: Julian
Borchardt, Ich und der U-Bootkrieg, ein Wort der Abwehr, Berlin
1917.
23)
"Arbeiterpolitik" 2.Jg. (1817). Nr. 31.
24)
S. "Der Kommunist, Flugzeitung der Internationalen Kommunisten
Deutschlands" 1. Jg.(1918), Nr. 7.Dort zum Wiedererscheinen der
"Lichtstrahlen": "Daes heute jedoch nicht allein auf Zielangabe
ankommt, sondern ebenso auf die Methoden des Kampfes, aber die
sich das erste Heft nicht verbreitet, so wollen wir abwarten was
die "Lichtstrahlen" dazu zu sagen haben, ehe wir uns mit ihnen
solidarisch erklaren".
25)
Vgl.z.B. Julian Borchardt, Der kommunistische Aufbau, Berlin
1919. Julian Borchardt, Die Diktatur des Proletariat«, Berlin
1919. Julian Borchardt, Kassandrarufe, Heraus aus Not und Todl
Berlin 1919.
Editorische Hinweise
Der Text wurde entnommen aus: Hans
Manfred Bock, Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918-1923,
Meisenheim am Glan, 1969, S. 72-77
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