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1918 Unser November
Die sozialen Grundlagen: Der Kampf gegen die "Burgfriedenspolitik" der Instanzen von 1914 bis 1918

von Hans Manfred Bock

11-2014

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Die sozialdemokratische "Opposition innerhalb der Organisation" und die Diskussion der Organisationsfrage auf dem Gründungskongreß der USPD
 

Beim Ausbruch des ersten Weltkrieges wurde das Ergebnis jenes Entwicklungsprozesses offenbar, den die Linksradikalen unterschied­licher Observanz von 1890 bis 1914 mit ihrer Kritik bloßzustellen ver­sucht hatten. Die offizielle, nach wie vor revolutionär-marxistische Ideologie der SPD stand in krassem Widerspruch zu deren tatsächli­cher Integration in die bestehende kapitalistische Ordnung(1).

Der Bürokratisierungsprozeß innerhalb der Arbeiterorganisationen war kon­tinuierlich fortgeschritten und hatte wesentlich zu diesem Anpassungs­vorgang beigetragen. Während um 1890 die Tätigkeit in den proleta­rischen Organisationen in der Regel ehrenamtlich war, wurde sie 1914 von Funktionärsapparaten ausgeführt, die ihren eigenen sozialen Ge­setzlichkeiten folgten. Die SPD wurde 1914 verwaltet von 267 Redak­teuren, 89 Geschäftsführern, 413 Mann kaufmännischen Personals, 2646 Mann technischen Personals(2). Die Zahl der Angestellten bei den Zen­tralverbänden der "Freien Gewerkschaften" stieg von 269 im Jahre 1900 auf 2867 bei Kriegsausbruch 1914, d.h. um mehr als das Zehnfache, während sich die Mitgliederzahl lediglich um weniger als das Vier­fache vergrößerte(3).

Der wahre Charakter der Partei- und Gewerkschaftsorganisation manifestierte sich in der eigenmächtigen Entscheidung ihrer verselb­ständigten Führerschichten für die sogenannte "Burgfriedens"-Politik während des ersten Weltkrieges, die in spektakulärer Weise am 4. Au­gust 1914 durch die Bewilligung der Kriegskredite im Parlament ein­geleitet wurde(4) Die "Freien Gewerkschaften" hatten bereits in einer Vorständekonferenz am 2. August 1914 eine ähnlich eigenmächtige, den Willen der breiten Mitgliederschichten gar nicht erst befragende Ent­scheidung für den Burgfrieden getroffen. Die Reaktion der Mitglieder­schichten in den Arbeiterorganisationen auf die Folgen dieser Entschei­de, die man als "Instanzen-Politik" kennzeichnete, gab die entschei­denden Impulse für die organisatorische Verselbständigung der bis­herigen linksradikalen Opposition in der SPD während der folgenden Jahre.

Bereits am 4. August hatte sich eine kleine Minderheit der SPD-Reichstagsabgeordneten in der Fraktionssitzung gegen die Bewilligung der Kriegskredite ausgesprochen; sie hatten dann aber im Parlament aus Fraktionsdisziplin dennoch zugestimmt. Wie zu erwarten, spiel­ten die Linksradikalen in der SPD die fuhrende Rolle in der bald ein­setzenden offenen Oppositionsbewegung. Im September 1914 reiste Karl Liebknecht nach Holland und Belgien und bezeugte dort den ausländi­schen Genossen, daß die Opposition gegen die "Burgfriedens"-Politik der SPD-Reichstagsmehrheit lebendig sei. Im Dezember 1914 verglich der andere langjährige Mitkämpfer Rosa Luxemburgs, Franz Mehring, in einem Brief an englische Genossen die gegenwärtige Situation in der SPD mit der im ersten Jahr nach dem Sozialistengesetz; die Parole heiße jetzt wie damals: "Mit den Führern, wenn diese wollen, ohne die Führer, wenn sie untätig bleiben, trotz den Führern, wenn sie wider­streben!"5 - Es zeigten sich jedoch auch bald Ansätze zur Opposition in weiteren Kreisen als denen der Linksradikalen; seit Mitte Septem­ber 1914 ließ das SPD-Organ "Vorwärts" in Berlin keinen Zweifel an seiner Verurteilung der Kriegspolitik der Mehrheit; ihm folgten bald Uberall im Reich lokale Publikationsorgane der SPD'.

Die Ursachen der Gegnerschaft gegen die "Burgfriedens"-Politik waren bei dieser weiteren Opposition, deren Sprecher sich vor allem aus den Reihen des früheren marxistischen Zentrums um Kautsky re­krutierten, jedoch keineswegs identisch mit denen der Linksradikalen. Karl Liebknecht z.B. war prinzipiell gegen den gegenwärtigen Krieg; der einzig wirksame Kampf für den Frieden sei der Kampf für den So­zialismus innerhalb der kriegführenden imperialistischen Nationen. Die weitere Opposition befürwortete den Krieg als nationalen Vertei­digungskrieg, verurteilte jedoch dessen imperialistischen Charakter und war gegen jede Annexionsneigung. - Liebknecht hatte bereits im Dezember 1914 als erster öffentlich im Reichstag gegen die Bewilligung der Kriegskredite gestimmt. Nachdem sich einzig Otto Rühle im März 1915 ihm angeschlossen hatte, folgte erst im Dezember (1915) eine Gruppe von achtzehn weiteren Reichstagsabgeordneten der SPD seinem Beispiel, als durch trügerische Siegesmeldungen von der Westfront die Stimmung für einen Annexionsfrleden sich bis in die Reihen der SPD breit gemacht hatte. Anfang 1916 traten diese Kräfte aus der alten Fraktion aus und schlössen sich als "Sozialdemokratische Arbeitsge­meinschaft" zuerst zu einer - wie sie selbst formulierten - "Opposi­tion innerhalb der Organisation" zusammen(8).

Die wachsende Zahl der Kriegskreditverweigerungen wurde zum Index für das Erstarken der Opposition auch in den Mitgliederschichten. Prinzipiell zwar unver­söhnt, wurden die beiden oppositionellen Strömungen, die "Arbeitsge­meinschaft" und der größere Teil der Linksradikalen, der im März sich illegal auf Reicht ebene als "Spartakus"-Bund zusammenge-schlosssen hatte, dennoch schließlich im April 1917 unter ein organisa­torisches Dach zusammengetrieben. Die organisatorische Verselb­ständigung war beschleunigt worden während des Jahres 1916 durch die immer kühner auftretenden annexionistischen Forderungen des rechten Flügels der SPD und .durch gewaltsame Maßnahmen der Parteibüro-kratie gegen oppositionelle Parteiblätter im Schütze der Militärbehör­den (z. B. den "Vorwärts-Raub" im Oktober 1916)(7). Auf eine Sonder­konferenz der beiden oppositionellen Strömungen Im Januar 1917 rea­gierte die Parteiführung sehr empfindlich und Ubernahm ihrerseits bald die Initiative zum Ausschluß der Opposition aus der Partei. Mit un­terschiedlichem Enthusiasmus und verschiedenen Erwartungen schlös­sen sich die "Arbeitsgemeinschaft" und der "Spartakus"-Bund Ostern in Gotha zur "Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutsch­lands" (USPD) zusammen'.

In welchem Ausmaße und in welcher Weise das Masse-FUhrer-Problem vom August 1914 bis April 1917 in der gesamten Opposition aktualisiert worden war, zeigt sehr deutlich die Diskussion der Organi­sationsgrundlagen auf dem Gründungskongreß der USPD. Ein Teil der Opposition (Kautsky, Bernstein u.a.) war ausschließlich durch die Kriegskredit-Gegnerschaft definiert und trug zur Organisationsfrage, die auf dem Kongreß im Mittelpunkt stand, wenig bei. Ein größerer Teil hingegen (Haase, Ledebour u.a.), der schließlich seine Organi­sationsgrundlinien im wesentlichen durchsetzte, verwarf zwar grund­sätzlich die Organisationsform der SPD, schob jedoch die Neugestal­tung der Organisation und des Programms nach den im Kriege neu ge­wonnenen Erkenntnissen bis nach Beendigung des Krieges auf. Bis dahin sollte das Organisationsstatut der SPD (dem allerdings ihre reale Or­ganisation seit langem nicht mehr entsprach) die Grundlage der Par­tei bilden; es wurde nachdrücklich betont: "Die Parteigenossen sind verpflichtet, es in demokratischem Geiste anzuwenden und besonders danach zu trachten, allen wichtigen Entscheidungen eine de­mokratische Grundlage zu geben" (9). Der Vertreter der "Arbeitsgemein­schaft" zeigte sich in seinem Organisations-Referat besorgt darum, daß "das Beamtenelement nie wieder ein Übergewicht erhält"(10). "In der neuen Organisation darf das Beamtentum nicht dominieren"(11). Durch die Besoldung von höchstens einem Drittel der führenden Funktionäre glaubte er, dem verhängnisvollen BUrokratisierungsprozeß vorbeugen zu können. Die Stimmung in den Kreisen der weiteren Opposition war eindeutig gegen die Bürokratisierung in der Partei und für eine gemä­ßigte Dezentralisierung; jedoch waren ihre Vertreter in Gotha nicht bereit, hierarchische Organisationsvorstellungen, soweit sie ihnen für die Aktionskraft der Partei unabdingbar schienen, völlig preiszugeben. Maßnahmen wie die, daß die Exekutive der Partei keine Ernennungs­befugnis für die Bezirks- und Ortssekretariate haben sollte, daß man ihr den Erwerb von Eigentumsrechten an den Presseeinrichtungen der Partei verbot, daß den besoldeten Mitgliedern nur beratende Stimmen zuerkannt werden sollten, waren offensichtlich aus den unmittelbaren tagespolitischen Erfahrungen mit dem Apparat der SPD diktiert. Die aus diesen heftigen Auseinandersetzungen mit der Parteispitze her­vorgegangene, stark ressentimentbeladene Ablehnung(12) politischer Füh­rerschaft war in den Mitgliederschichten die allgemeinste und verbrei-tetste Form der Opposition und blieb bis 1921 der konstanteste sozial­psychologische Faktor für den Massenzulauf zu den linksradikalen Or­ganisationen.

Über dieses mehr reaktive Verhalten in der Organisationsfrage gin­gen die Linksradikalen mit ihren Forderungen weit hinaus. Fritz Rück(13), der von der stärksten linksradikalen Gruppierung, dem "Spar-takus"-Bund, gestellte Korreferent zur Organisationsfrage hatte auf einer Konkretisierung der Forderung nach demokratischer Organisa­tionspraxis bestanden; so war als eine mögliche Konkretisierung die Urabstimmung in die endgültige Redaktion der Organisationsgrundlinien aufgenommen worden:

"Um das Schwergewicht der politischen Aktion in die Massen zu verlegen, ist bei allen wichtigen Entscheidungen, die die Haltung der Partei für längere Zeit festlegen, eine Urabstimmung herbeizuführen, vorausgesetzt, daß die technischen Möglichkeiten dazu vorhanden sind"(14).

Sowohl dieser Paragraph als auch die Schlußbestimmung der Organi-sationsgrundlinien, die eine "weitgehende Selbständigkeit und Aktions­freiheit der Orte, Kreise und Bezirke" fordert, sind Konzessionen der USP-Majorität an die Radikalen. Rück hatte von der Aufnahme beider Punkte den Beitritt der "Spartakus"-Gruppe zur neuen Organisation abhängig gemacht. Er führte im einzelnen zur Organisationsfrage aus:

"Den lokalen Organisationen muß die weitestgehende Aktionsfreiheit gewährt werden. Die Initiative darf nicht gehemmt werden. Zu den Grundlinien betont der Redner, daß das "Vorläufige" mehr hervorgekehrt werden muß. Viel­leicht werden wir später ganz andere Grundlagen der Organisation haben als die Wahlkreise ... Es muß unbedingt immer wieder betont werden, daß die Organisation nicht Selbstzweck sein darf. Die Organisation muß deshalb noch elastischer gestaltet werden... Es dürfen nicht mehr die Instanzen entschei­den, den Arbeitern selbst muß Gelegenheit gegeben werden, eine andere Tak­tik, eine revolutionäre TaKtik, einzuschlagen"(15).

Diese Überlegungen scheinen auf den ersten Blick lediglich Rosa Lu­xemburgs in der Vorkriegszeit aufgestellte Spontaneitätsprämissen zu paraphrasieren(16). Unübersehbar neu ist jedoch die Wendung des Mas­senaktions-Postulats ins Föderalistische; "weitestgehende Selbständig­keit und Aktionsfreiheit" der lokalen Organisationen hatte Rosa Lu­xemburg niemals gefordert; diese Parolen sind wörtlich von den Syn­dikalisten her bekannt. Obwohl Rück selbst in seinem späteren poli­tischen Werdegang einen ganz anderen Weg nahm, kann man in seiner Rede tatsächlich ein frühes Zeugnis für die linkskommunistische Aus­formung der Luxemburgschen Ideen innerhalb des "Spartakus"-Bundes selbst sehen. - Rigoroser als die der USP-Mehrheit waren die antibüro-kratischen Maßnahmen, die von den Radikalen vorgeschlagen wurden. Zum Teil wollte man Uberhaupt keine besoldeten Parteiangestellten mehr; andere wollten den Anteil der Exekutive an den Mitgliederbei­trägen auf 5 % einschränken usw.(17) ; diese Motivationen bestimmten dann noch unmittelbar die Organisationsstatuten der KAPD und der AAUD und koinzidierten mit den Organisationsvorstellungen der FAUD .

Erstaunlich ist schließlich in Rücks Ausführungen die Bemerkung, daß man "später vielleicht ganz andere Grundlagen der Organisation" haben werde als die Wahlkreise. An Räteorganisationen kann Rück da­bei fünf Monate vor der russischen Oktoberrevolution schwerlich ge­dacht haben; wie immer er sich auch die zukünftigen Grundlagen der Organisation vorgestellt haben mag, seine Überlegung zeigt, in wel­chem Maße alle bisherigen Organisationsvorstellungen in Fluß geraten waren. In welcher Weise die Diskussion in den einzelnen linksradika­len Gruppen verlief und wo die linkskommunistische Tendenz in er­kennbaren Gegensatz zum "Spartakus"-Bund zu treten beginnt, muß im Folgenden untersucht werden.

 

Anmerkungen

1) Vgl. Wolfgang Abendroth. Das Problem der Beziehung zwischen politischer Theorie und politischer Praxis, loc.cit., p. 467 ff.

2) Nach Ossip Karl Flechtheim, Die kommunistische Partei Deutschlands in der Weimarer Republik. Offenbach 1948, p.5.

3) S. Gerhard A. Ritter, Die Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich, op.cit. ,p. 169 f.

4) Zu den geschichtlichen Grundlagen der "Burgfriedens"-Politik vgl. besonders: Arthur Rosenberg, Die Entstehung der Weimarer Republik, p. 67 ff.

5) Zitiert bei: Eugen Prager, Geschichte der USPD. Entstehung und Entwicklung der Unab­hängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Berlin 1921, p.49.

6) S. Carl E. Schorske, German Social Democracy, op.cit., p. 295 ff.

7) Vgl. dazu im einzelnen Eugen Prager, op.cit. ,p. 81 ff.

8) Vgl. besonders Carl E. Schorske, op. cit., p. 312 ff.

9) S. Protokoll Uber die Verhandlungen des Grundungs-Parteitages der USPD vom 6.-8. April
1917 in Gotha, hrgg. von Emil Eichhorn, Berlin 1921, p.35.

10) Ibidem, p. 18.

11) Ibidem, p. 18.

12) Das Maß erbitterter Feindschaft, das durch die Parteibürokratie bei den Oppositionellen hiermit verursacht wurde, wird in den zeitgenössischen Darstellungen der Vorgänge durch Mitbetroffene stark reflektiert. Vgl. Heinrich Ströbel (Redakteur des alten "Vorwärts"): Die deutsche Revolution, ihr Unglück und ihre Rettung, Berlin 1922, besonders p.22 ff.; Eugen Prager (Redakteur des USPD-Organs "Die Freiheit"), op.cit.

13) Fritz Rück (1895-1959) kam als junger Soldat zur "Spartakus"-Gruppe; Gründungsmit­glied der KPD, seit 1924 in der Rechtsopposition der KPD; 1929 zur SPD; 1933 Emigration in die Schweiz, dann Korrespondent Schweizer Zeitungen in Schweden; 1950 Rückkehr in die Bundesrepublik, Redakteur bei der IG Druck und Papier. Nach: Hanno Drechsler, Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Ar­beiterbewegung am Ende der Weimarer Republik, Diss. phil. Marburg/Lahn 1962, p.369.

14) S. Protokoll des Gründungsparteitages der USPD, p. 19-23.

15) S. ibidem, p.22 f.

16) So Werner T. Angreu, Stillborn Revolution, the Communiit bid for power in Germany 1921-23, Prtoceton-New Jersey 1963, p. 11.

17) S.Carl E.Schorske, op.cit. ,p.318.

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Hans Manfred Bock, Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918-1923, Meisenheim am Glan, 1969, S. 57-62