Diary Votes in Germany 2017

von Antonín Dick

10/2017

trend
onlinezeitung

16. September 2017.

Die Szene ist zu Berlin, genauer der Steglitzer Prachtboulevard Schlossstraße. Während ich überlege, mit welchen Worten ich an den LINKEN-Wahlstand, der an der Kreuzung Grunewald / Schlossstraße steht, herantrete, beschäftigt mich ein Artikel des Journalisten Peter Nowak, der die kollektiven Krankschreibungen der Piloten von „Air Berlin“ als Vorbild hinstellt, um für ein Beispiel von linker Systemverweigerung zu werben. Was ist links? Diese Partei? Diese Systemverweigerung? Ich komme zu dem Schluss, dass das nichts ist als Augenwischerei, bestenfalls Kulturprotestantismus. Wenn ein Systemkomplize einen anderen Systemkomplizen zur Systemverweigerung anstiftet, dann, ach, lassen wir das. Ich bin Systemkomplize, weil ich nicht liebe. When I fall in love, dann, so behaupte ich, fange ich an, mich dem System zu verweigern. Franziska Brychcy, LINKEN-Abgeordnete im Berliner Abgeordnetenhaus, steht plötzlich vor mir, also scheine ich angekommen zu sein, denke ich. Obwohl ich sie freundlich grüße, obwohl wir uns kennen, grüßt sie mich nicht. Der Boykott mir gegenüber seitens der LINKEN von Steglitz-Zehlendorf geht also weiter. Er begann ab dem Moment, da ich die LINKEN von Steglitz-Zehlendorf vor einem Jahr anlässlich der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus darauf aufmerksam machen musste, dass sie ein internationales Gesetz zum Schutz der Opfer des Faschismus gebrochen haben, nämlich die internationale Deklaration von Theresienstadt vom 30. Juni 2009, die es allen Staaten auferlegt, die medizinische, soziale und psychologische Versorgung und Hilfe für die Opfer des Faschismus sicherzustellen. Im Falle meiner Mutter Dora Dick, einer Überlebenden des Holocaust, verweigerte die LINKE von Steglitz-Zehlendorf die Solidarität, weil sie Jüdin ist, trotz der Tatsache, dass meine Mutter Widerstandskämpferin ist und zudem Trägerin der staatlichen Auszeichnung „Kämpfer gegen den Faschismus von 1933 bis 1945.“ Auf Grund einer konzertierten Aktion aller progressiven Kräfte innerhalb und außerhalb des Parlaments, ausgenommen die LINKE von Steglitz-Zehlendorf, konnte meine Mutter, die nun zum zweiten Male in ihrem Leben menschenverachtenden Ausgrenzungen ausgesetzt wurde, gerettet worden. Die Anti-Nazi-Presse, von der „jungen Welt“ über die Onlinezeitung TREND bis zur BZ, machte den skandalösen Fall der Bekämpfung einer Überlebenden des Naziterrors durch die Wohnungsbaugesellschaft GAGFAH, durch einen Pflegedienst sowie durch den Sozialpsychiatrischen Dienst publik und rettete. Der parlamentarische Geschäftsführer der Grünen-Fraktion im Bundestag Volker Beck intervenierte persönlich bei der GAGFAH, die gegenüber meiner Mutter eine fristlose Kündigung ihrer Wohnung ausgesprochen hatte. Ich deckte die schweren Verstrickungen dieser Wohnungsbaugesellschaft im Dritten Reich auf und wies juristisch die nicht haltbare Kündigung zurück, weil ich mich auf eine Rechtsvorschrift im Einigungsvertrag zum Schutze der Opfer des Faschismus berufen konnte. Meine Mutter erhielt nach der Rettung seitens des Bezirksamtes des Stadtbezirks von Steglitz-Zehlendorf die beste finanzielle, sozialpolitische, psychologische und ethische Unterstützung, die man sich nur wünschen konnte. Ich bin allen Beteiligten dieser konzertierten Aktion unendlich dankbar und werde diese Rettungsaktion nie vergessen. Eine Bitte um Entschuldigung seitens der LINKEN wegen der Verweigerung von Solidarität für eine Holocaustüberlebende fehlt bisher immer noch wie auch der Antwortbrief, den mir Franziska Brychcy vor einem Jahr, anlässlich der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus, schreiben wollte. Wie sagte doch ein belgischer Aktivist und Politiker, der während des unlösbaren Streits zwischen Flamen und Wallonen Mitglied einer Verwaltungskommission als Regierungsersatz gewesen war und genügend Erfahrung mit der gegenwärtigen Demokratie in Europa gesammelt hatte? Wir haben das Recht zu wählen, aber nicht das Recht, gehört zu werden.

Ein neuer Fall eines politischen Versagens der LINKEN sagte sich an, heute, im Wahljahr 2017, dieses Mal in Komplizenschaft mit den Grünen. Der berüchtigte Lompscher-Erlass bestimmte, dass der wunderschöne Leonorenpark in Lankwitz zu liquidieren ist. Und er wurde liquidiert, obwohl diese Perle der Berliner Kultur- und Naturlandschaft zum jüdischen Erbe gehört, wie ich für meinen TREND-Beitrag „Fraenkels Auftrag oder Der schmale Weg der Pflicht“ recherchieren konnte. Aber die LINKE ist auch kulturprotestantisch, so ist es nicht: Die LINKEN-Senatorin Katrin Lompscher will auf dem Gelände des abgeholzten Leonorenparks eine Gedenkstele für den jüdischen Arzt und Schöpfer des Parks James Fraenkel errichten lassen. No comment.

Der zweite Wahlstand, der mir begegnet, ist der der Grünen. Willkommen im Gespräch. Ich beschwere mich über die Komplizenschaft der Grünen mit Lompscher bei der Vernichtungsaktion Leonorenpark und überreiche dem Wahlwerber der Grünen meinen Pressebeitrag bei TREND über die Vernichtungsaktion. Wie ich ihm erzählte, unterwarf sich die Vertreterin der Grünen im Bezirksamt von Steglitz-Zehlendorf Maren Schellenberg unter Berufung auf einen angeblichen Befehlsnotstand dem Lompscher-Erlass und fertigte widerstandslos die Auftragspapiere für die Abholzung des Leonorenparks aus. Der Wahlwerber weiß angeblich nichts vom abgeholzten Leonorenpark und nichts von der grünen Verstrickung in diesen Tabubruch. Auf dem Titelblatt der Wahlzeitung der Grünen, die der Wahlwerber mir überreicht, prangen die Worte der Grünen-Vorsitzenden Katrin Göring-Eckardt: „Und ein Garten als Beginn einer neuen Vision.“ Wie ein Hohn klingen diese Worte angesichts des abgeholzten Leonorenparks, und ich blicke ihn fragend an. Er blinzelt freundlich. Er erkundigt sich nach meinem Namen und rät mir, mich wegen dieses gewaltsam herbeigeführten Todes eines wichtigen Stücks Grün in dieser Stadt, das jetzt, in Zeiten der tödlichen Vergiftung der Stadtluft mit Stickoxyden dringend gebraucht wird, an die Bezirksverordnetenversammlung von Steglitz-Zehlendorf zu wenden. Der ahnungslose Wahlmann hat die jüdische Widerstandskämpferin und Anti-Nazi-Emigrantin Hannah Arendt nicht zur Kenntnis genommen. In ihrem politikwissenschaftlichen Grundlagenwerk „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“ fordert sie die direkte Kontrolle von Entscheidungen der Exekutive eines demokratischen Staatswesens durch unabhängige Räte nach dem Vorbild der Arbeiter- und Soldatenräte der Novemberrevolution von 1918. Dieser Vorschlag wäre meiner Ansicht nach die einzige Rettung für die immer mehr ins Leere laufende Demokratie hierzulande. Der arme Mann hat auch einen Namen, aber den muss ich mir erst herauspolken aus dem Wortgestöber. Fortsetzung des Dialogs beim Kieztreff der Grünen. Ende der Durchsage.

Warum ist diese Welt so gebaut? So voller Freiheit und zugleich Hoffnungslosigkeit? War da der abgewirtschaftete Kommunismus nicht besser: So voller Hoffnung und zugleich Freiheitslosigkeit?

Ich gehe weiter, suche den Wahlstand der SPD. Umsonst. Das ist ein unverzeihlicher Fehler, sage ich mir. Die AfD, die auch auf dieser Wahlmeile aktiv ist und wirbt, muss zurückgedrängt werden kraft gebündelter Abwehr aller linken Parteien. Die SPD-Leute müssten am Steglitzer Titania-Palast stehen, an der Steglitzer Hochburg der NSDAP in den Jahren 1932/33. Diese ehemalige Nazihochburg darf man nicht den heutigen Rechten überlassen. Bereits 1929 gewann die NSDAP in Steglitz eine beträchtliche Anzahl der Stimmen bei den Reichstagswahlen. An der Bushaltestelle Walter-Schreiber-Platz schaut man direkt auf den Titania-Palast. Ich stehe vor einem Laternenmast. Ganz oben hängt ein Wahlplakat der linken Spaßpartei DIE PARTEI. Auf dem Plakat steht: „Hier könnte ein Nazi hängen.“ Eine Replik auf den AfD-Funktionär Gauland, der kürzlich forderte, man sollte die türkischstämmige Ausländerbeauftragte der Bundesregierung Aydan Özoğuz in die Türkei zurückschicken und dort entsorgen. Dennoch die Frage: Wo bleibt die SPD auf der Wahlmeile Schlossstraße? Ohne die SPD und die Gewerkschaften keine wirkungsvolle Zurückdrängung der neuen Rechten.

17. September 2017.

In der ZDF-Sendung „Berlin-direkt“ Petra Pau, die LINKEN-Vizepräsidentin des Bundestages, die dort sinngemäß sagt: „Angesichts eines möglichen Wahlerfolgs der deutschnationalen Partei AfD bange ich um den Schutz der Opfer des Faschismus“. Wenn ich bis jetzt noch Träume gehabt haben sollte, so wache ich jetzt restlos auf. Ihre Worte verfolgen mich den ganzen Tag.

18. September 2017.

In der von den LINKEN von Steglitz-Zehlendorf mir in die Hand gedrückten Hochglanzzeitung „Kehrseite“ las ich von einer „Resolution gegen diskriminierende, fremdenfeindliche und rassistische Politik“, die die LINKE in die Bezirksverordnetenversammlung von Steglitz-Zehlendorf eingebracht habe. Obwohl ich vor etwa einem Jahr in TREND mit einem Aufruf zu einem linken Bündnis gegen Neofaschismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus aufgerufen und diesen Aufruf auch den beiden Vorsitzenden der LINKEN Brychcy und Bader von Steglitz-Zehlendorf zugeleitet habe, eliminieren die beiden Bezirkspolitiker demonstrativ die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus aus ihrem Aufruf. Steglitz-Zehlendorf ist der Stadtbezirk, in dem die berüchtigte Wannsee-Villa liegt, in der der Völkermord am jüdischen Volk geplant und beschlossen wurde. Ich schrieb beiden Politikern sofort eine Mail mit einer kritischen Anfrage. Obwohl alle Leser der „Kehrseite“ ausdrücklich gefragt werden, ob sie diese Resolution unterstützen würden, erhielt ich auf meine kritische Anfrage keine Antwort. Man redet bei den LINKEN nicht mit einem Angehörigen der Zweiten Generation der Verfolgten des Naziregimes. Hier die Anfrage, die ich Frau Brychcy per Mail schrieb: „Sehr geehrte Frau Brychcy, anlässlich der Vorbereitung zu den Bundestagswahlen trafen wir uns am heutigen Samstag an Ihrem Wahlstand auf der Steglitzer Schlossstraße. In Ihrer Zeitschrift ‚Kehrseite‘ von 03 / 2017, herausgegeben von Ihnen persönlich, fragen Sie uns Leser und Leserinnen, ob wir Ihre ‚Resolution: Für ein weltoffenes und tolerantes Steglitz-Zehlendorf‘, die Sie im Juni 2017 bei der Bezirksverordnetenversammlung von Steglitz-Zehlendorf eingebracht haben, unterstützen würden. Sie fordern darin ein Engagement gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Nationalismus. Mir fehlt in dieser Resolution die offensive Auseinandersetzung mit allen Erscheinungsformen des Antisemitismus. Aus welchem Grund lassen Sie diese wichtige Auseinandersetzung weg, wo doch diese Auseinandersetzung unverzichtbarer Grundkonsens der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland ist? Mit freundlichen Grüßen Dr. Antonín Dick.“

19. September 2017.

Las an einem freien Nachmittag in einem Café auf der Schlossstraße einen Beitrag des amerikanischen Journalisten Caspar Shaller in der Hamburger ZEIT über die junge Generation in Europa um die 30. Sehr aufschlussreich. Die Lebensbedingungen, die Perspektiven, die ökonomischen Zwänge des Überlebens, das Wohnen, das Jobben, das Geld, die Sehnsucht nach Besitzlosigkeit, der Minimalismus. In ganz Europa, führt Shaller aus, in Großbritannien, in Frankreich, in den Niederlanden, in Italien, in Spanien, in Griechenland und in Portugal wählen die jungen Leute um 30 links, in Deutschland wählen sie Merkel. Das Wort vom Komplizen des Systems stammt von ihm. Als ich nach Hause kam und meinen Briefkasten öffnete, fiel mir das „Sprachrohr“, die Mitgliederzeitung des Fachbereichs Medien, Kunst und Industrie Berlin-Brandenburg von ver.di, in die Hände. Ich bin Gewerkschaftsmitglied. Ich las von Unterwanderung des Verbandes der Schriftsteller durch die AfD, von Verrat, von Wirrwarr. Vor allem eins hat mich erschüttert: Der Schriftsteller Michael Wildenhain, einst bekannt geworden durch literarische Arbeiten über die linksautonome Kreuzberger Hausbesetzerszene in den achtziger Jahren, erwies sich als Umkipper bei der Bildung einer Einheitsfront gegen rechts im Vorstand des VS.

20. September 2017.

Erfahre, dass der Kanzleramtsminister Peter Altmeier frustrierte Wähler dazu auffordert, lieber zu Hause zu bleiben als AfD zu wählen. Ich schreibe in einer Café-Ecke meines Lebensmitteldiscounters an einem Text über das Exil meiner Mutter. Ich darf dort Platz nehmen, denn neuerdings steht auf den Tischen das ausgrenzende Schildchen „Nur für Kaffee-Gäste“. Ich habe meinen obligatorischen Kaffee vor mir, ich Glückspilz. Auf der Wahlmeile Schlossstraße nur die FDP zu sehen.
 

21. September 2017.

Auf der Wahlmeile Schlossstraße nur die AfD zu sehen. Keine der linken Parteien.

22. September 2017.

Auf der Wahlmeile Schlossstraße nur die CDU zu sehen. Unterhalte mich mit dem Fahrer des großen Wahlbusses über die Gefahr von rechts. Viele Leute, sagte er, die laut Umfragen angeblich CDU wählen würden, lügen, sie schämen sich dafür, dass sie in Wahrheit AfD wählen würden. Keine der linken Parteien zu sehen. Abends im TV: Die britische Premierministerin Theresa May auf Festlandeuropa, das ganze Kabinett mitgebracht, spricht von Florenz, wo sie eine Rede an die Europäer hält, als dem historischen Herzen Europas. Berlin ist es nicht. Man muss noch tiefer gehen. In Nazi-Berlin wurde im Prinzip das heutige EU-Denken entwickelt – ein europäischer Staatenbund mit deutscher Dominanz. Entwurf des Auswärtigen Amtes vom 9. September 1943, des Ribbentrop-Ministeriums: „Die europäische Wirtschaft wird von den Gliedern des Staatenbundes auf der Grundlage ihrer gemeinsamen und nationalen Interessen nach einheitlicher Planung gestaltet werden. Das Ziel soll sein, sowohl den materiellen Wohlstand, wie die soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit in den einzelnen Staaten zu erhöhen …“ Etwa zur selben Zeit entwickelten vier italienische Widerstandskämpfer, die die Nazis ins Gefängnis geworfen haben, in Norditalien einen völlig gegensätzlichen Plan: einen europäischen Bundesstaat demokratischen Zuschnitts. In Kassibern wurde diese EU-Konzeption nach draußen geschmuggelt. Ich bin sehr gespannt, welche der linken bzw. demokratischen Parteien diese EU-Konzeption ins Deutsche übersetzen und dem neugewählten Bundestag zur Diskussion vorlegen wird.

23. September 2017.

Kein einziger Vertreter einer linken Partei, weder die SPD, noch die Grünen, noch die LINKEN, auf der Wahlmeile Schlossstraße. Hat man das neue alte Zeitalter, das morgen eröffnet wird, noch nicht zur Kenntnis genommen? Der Busfahrer des CDU-Wahlbusses ist da wesentlich weiter.

Editorische Hinweise

Den Text erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.