Stadtumbau & Stadtteilkämpfe
Fraenkels Auftrag oder
Der schmale Weg der Pflicht

von Antonín Dick

03/2017

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onlinezeitung

Man sieht dich nicht und du willst nicht sehn
Man hört dich nicht – doch du musst hören


Der israelische Dichter T. Carmi, der auch als
Übersetzer tätig war, u. a. Shakespeare
und Brecht ins Hebräische übertrug

Ein stilles Erbe zwischen Emigranten heute und Emigranten damals, das plötzlich aufgewühlte Beschützer bekommt. 100 Jahre alte Bäume werden für den Bau eines Flüchtlingsheims geopfert, ja, der gesamte Lankwitzer Leonorenpark soll geopfert werden, damit 450 Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten eine feste Bleibe erhalten. Der Senat von Berlin rechnet überhaupt nicht – schon das allein ist Tollheit – mit nennenswertem Widerstand. Zwei Bürgerinitiativen bilden sich, nehmen die Kampfansage der kopflos agierenden Stadtoberen an – bis hin zu einer gerichtlichen Klage auf einstweilige Verfügung zum sofortigen Stopp der Abholzung. Eine Abgeordnete der LINKEN-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Franziska Brychcy, solidarisiert sich am Morgen der Abholzung, am 20. Februar 2017, mit den am Bauzaun protestierenden Anwohnern. Sie spricht von Politikversagen. Aber wessen Politikversagen ist hier eigentlich gemeint? Brychcy meint den Bezirk, die Rebellen dagegen den Senat. Ihre kenntnisreiche Verdammung des Senats (auch der linke Dichter Bert Brecht wird zitiert!) haben die Rebellen fein säuberlich auf Plakate geschrieben. Eine Senatssprecherin ist herbeigeeilt, lässt ein kämpferisches Hohelied der senatseigenen Flüchtlingspolitik auf die Köpfe der Versammelten niedersausen, während das Heer der Senatsmaschinen gegen die Bäume aufmarschiert. Diese Situation erinnert an die Aufmärsche des preußischen Heeres im vorvorigen Jahrhundert, erst gegen das Heer der Dänen, dann gegen das Heer der Österreicher, begleitet von den Klängen machtvoller Militärkapellen, psychologische Kriegsführung. Die Luft ist von wütendem Motorenlärm erfüllt. Während die Bäume fallen, weint eine ältere Anwohnerin des Parks. Ein Ungetüm von Baumbekämpfungsmaschine kurvt ratternd an ein wehrloses Opfer heran, greift es, umarmt es, schält es und zerteilt kurz aufheulend die Beute. Der Kopf der Maschine hat Motoren wie Augen eines Ungeheuers, die die Fähigkeit besitzen, die Menge zu fixieren. Eine Anwohnerin kreischt, eine andere schreit „Pfui!“, auf einmal macht sich Unmut von Dutzenden von Revoltierenden kollektiv und lauthals Luft.


Zerstörte Bäume zum Entsorgen vor dem Pflegeheim gestapelt / 1.3.2017

Dass der Berliner Senat die Anwohner des Leonorenparks nicht gefragt hat (sie sind nur lästige Wohner!), empört auch die Opposition im Berliner Abgeordnetenhaus. Der FDP-Chef der Berliner Volksvertretung Sebastian Czaja klagt an: „Die Nacht- und Nebelaktion, mit der Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher ungeachtet aller Einwände über 100 Jahre alte Bäume im Park des Seniorenheims abholzen will, spricht Bände über das demokratische Grundverständnis der Politikerin der Linkspartei.“ Auch die AfD im Bezirk Steglitz-Zehlendorf macht mobil gegen die Fällung der Bäume.

Hat jemand vom Senat eigentlich die Patientinnen und Patienten des Pflegeheims gefragt, die hier leben? Schließlich soll ihnen ein lebenswichtiges Angebot eines Erholungsparks für immer entzogen werden? Und ich, der ich gar nicht weit von dieser Perle von Steglitz wohne und arbeite, frage meinen Hausmeister, ob irgendjemand vom Senat eigentlich die Bürgerkriegsflüchtlinge gefragt hat, die dort wohnen sollen? Er schaut mich erstaunt an. Was werden die Flüchtlinge fühlen und denken, wenn sie beim Auszug aus den Notquartieren plötzlich davon erfahren, auf was für einem Opfer ihr neues Glück beruht? Vieles geschieht hier tatsächlich nebulös, wie Czaja berechtigt anmerkt. Eine der Protagonistinnen des Anwohneraufstands, Gabilotte Lanzrath, hat vom Betreiber des Pflegeheims VIVANTES das Verbot erteilt bekommen, das umkämpfte Gelände zu betreten. Sie lässt sich aber nicht beirren, am Bauzaun steht sie, redet mit den Medien, legt großen Wert auf die Feststellung, dass sie und die anderen protestierenden Anwohner nichts gegen die hier in Bälde ankommenden Flüchtlinge hätten, ganz im Gegenteil, sie spricht immer wieder ein herzliches Willkommen aus, für eine gemeinsame Zukunft mit den Flüchtlingen in Vielfalt und Freundschaft auf diesem einzigartigen Stück Berliner Kultur- und Erholungslandschaft. 300 Meter Luftlinie entfernt vom festgelegten Standort für die Flüchtlinge gibt es ein Areal von 9000 Quadratmetern, ebenfalls zum Leonorenpark gehörig, auf dem leerstehende Gebäude herumstehen, die man zu würdigen Emigrantenunterkünfte ausbauen könnte, ohne brutale Opferung des Leonorenparks mit seinen über 200 schützenswerten Bäumen, erläutert die Aktivistin aufgebracht.

Und was ist, frage ich, den Faden der tapferen Rebellin weiterspinnend, von folgendem Bild zu halten – vom Emigrantenheim in Strašnice nämlich, einem Arbeiterstadtteil von Prag, das aus Nazideutschland geflohene Emigranten aus einer leerstehenden Fabrik gezaubert hatten, mit Unterstützung der Behörden, antifaschistische Arbeiter, Angestellte und Intellektuelle? Von dem mir meine Mutter, eine vor den Nazis geflohene Jüdin, stolz erzählte? Von einer selbstverwalteten Einrichtung der Emigranten, in der später der weltberühmte Dadaist und Künstler-Emigrant John Heartfield Ausstellungen von Werken emigrierter Künstler und Arbeiterkünstler organisierte? Warum kommt keiner von den hochausgebildeten und dicke Limousinen fahrenden Mitgliedern des Berliner Senats auf solche und ähnliche Ideen der Selbstverwirklichung engagierter Syrer, die der Bürgerkrieg aus der Heimat verjagt hat? Was ist mit dem Dialog los zwischen den Behörden und den Verfolgten? Was ist überhaupt los in Deutschland? Fliehen seine Bewohner vor sich selber? Aber vor welchem Krieg? Hier herrscht Frieden?

Fragen, die ich mir, ein von einer Traumwelle der Geschichte unbarmherzig hierher gespültes Emigrantenkind aus England, stelle und mir nun erlaube, sie der Öffentlichkeit vorzulegen, auch auf die Gefahr hin, dass sie zu zerbrechlich sind und höchstwahrscheinlich hin sein werden, bevor sie einen zum Innehalten bereiten Menschen überhaupt erreichen. Und dann die dazugehörige Frage, die nämlich nach dem Selbstverständnis von politischen Amtsträgern. Die Bürgermeisterin des Stadtbezirks Steglitz-Zehlendorf von Berlin Cerstin Richter-Kotowski teilt uns, der lokalen Öffentlichkeit, mit, dass das ganze Desaster auf eine interne Vereinbarung zwischen dem Senat und dem Gesundheitsunternehmen VIVANTES zurückginge – ohne vorherige Konsultation der Betroffenen vor Ort, ohne vorherige Konsultation der Amtsträger vor Ort. Die Bezirksstadträtin für Immobilien, Umwelt und Tiefbau des Bezirksamts Steglitz-Zehlendorf von Berlin Maren Schellenberg entschuldigt sich mit dem Argument, sie könne nichts gegen die Abholzung des Leonorenparks machen, so bedauerlich das alles natürlich sei, denn wenn sie nicht die Zustimmung zur Opferung des Leonorenparks gegeben hätte, dann hätte sie der Senat gegeben. Aber was ist das nun wieder? Erinnert das nicht an den sattsam bekannten und berüchtigten Befehlsnotstand? Wo bleibt da die Widerstandspflicht – gegründet auf den Eid auf das Grundgesetz? Bekanntlich heißt es dort: „ … die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Wo war Maren Schellenberg am Morgen des 20. Februar? Warum hat sie das spontane Forum am streng bewachten Bauzaun einer Senatssprecherin überlassen, die doch zu den Invasoren gehört, statt den bedrängten Anwohnern zur Seite zu stehen, die nichts anderes verteidigen als vitale Lebensinteressen von Hunderten von Menschen und sich deshalb hartnäckig weigern, sich in funktionale Wesen zu verwandeln, die nur von einer Lust, so scheint es, getrieben werden – von der Lust an der Unterwerfung?

Es gibt aber auch die Lust am Atmen, es gibt auch die Lust am Verweilen, und es gibt auch die Lustigkeit eines fast vergessenen Parks aus versunkener Zeit – alte und seltene Bäume, vergessene Gräser, Sträucher und Getier, vergessene Geschichten und Geschichte, vor allem vergessene Menschen, die davon erzählen können, die reden wie alte Mütter, die murrend anreden gegen die funktionale Zeit, die uns alle packt und schindet, und die doch ganz im Heute sind und jung und noch etwas wollen. Ein Interview ist zu bestaunen, das eine junge Anwohnerin in ihrer kleinen Küche dem „Tagesspiegel“ gewährt. Ein Wesen halb Mensch halb Baum scheint da zu uns sprechen, der Menschensprache völlig ungeübt, und wenn Sätze und Wendungen einfach abbrechen, sieht man plötzlich die Gebärden von nackten Zweigen und Ästen eines Baumes im kalten Winterwind, Ächzen, Wut, Ringen um Klarheit, ein einzelner Baum, der sich in letzter Minute gerettet hat, kindlicher Trotz, weiterleben als gesellschaftliche Aufgabe.

Der Leonorenpark gehört zum jüdischen Erbe, erfahren wir aus diesem denkwürdigen Interview, und Berlin, die über Jahrzehnte immer wieder geschundene Stadt, sollte auf dieses Kleinod im Südwesten der Stadt eigentlich stolz sein und Dank empfinden und seine Hände schützend darüber halten.

Dr. James Fraenkel (1859-1935), ein jüdischer Arzt, errichtete hier eine Heil- und Pflegeeinrichtung, die damals zu den größten Privatkliniken in Deutschland gehörte. 50 ausgesuchte Bäume von den 200, seltene zumeist, ließ er persönlich in dem im Entstehen begriffenen Heil- und Wunderpark pflanzen. Wegen seiner gesundheitspolitischen und gesellschaftlichen Verdienste wurde Fraenkel 1910 zum Gemeindevertreter von Lankwitz gewählt. Der Arzt und Forscher, geehrt mit der hohen staatlichen Auszeichnung eines Sanitätsrats, leistete bleibende Beiträge zur Entwicklung der modernen Psychotherapie. Seine drei Töchter arbeiteten hier als Krankenschwestern. Er erkrankte 1934 und verstarb 1935. Seine Frau Paula Fraenkel emigrierte nach der Reichspogromnacht aus Nazideutschland nach Palästina, die Kinder, drei Töchter und ein Sohn, u. a. ins demokratische Ausland, so auch nach England, wohin auch meine Eltern emigriert waren und wo ich das Licht der Welt erblicken durfte.
Die hiesige Rechtslage ist nach meinen bescheidenen Rechtskenntnissen eindeutig. Die Vernichtungsaktion Leonorenpark ist aus Gründen der Geltung des nationalen und des Völkerrechts unverzüglich einzustellen, der Senatsbeschluss zurückzunehmen, die angerichteten Schäden zu beseitigen. Dies ergibt sich aus der Gesetzgebung der Alliierten der Anti-Hitler-Koalition in Einheit mit Artikel 139 (Befreiungsgesetz) des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Anlässlich des Abschlusses des Zwei-plus-Vier-Vertrages am 12. September 1990 in Moskau zur angestrebten deutschen Wiedervereinigung erklärte der Bundesaußenminister feierlich: „Wir gedenken in dieser Stunde aller Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft. Wir gedenken des unendlichen Leids der Völker, nicht nur derjenigen, deren Vertreter um diesen Tisch versammelt sind. Unsere Gedanken gelten dabei in besonderer Weise dem jüdischen Volk. Wir wollen, dass sich dies niemals wiederholen wird (…) Wir werden uns unserer Verantwortung stellen, und wir werden ihr gerecht werden.“ In Artikel 1 des Staatsvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden vom 29. Januar 2003 wird von der „Erhaltung und Pflege des deutsch-jüdischen Kulturerbes“ als zentraler Aufgabe gesprochen, abgeleitet aus der Präambel des Vertrages, in der es programmatisch heißt, dass dieser Vertrag abgeschlossen wird im „Bewusstsein der besonderen geschichtlichen Verantwortung des deutschen Volkes für das jüdische Leben in Deutschland, angesichts des unermesslichen Leides, dass die jüdische Bevölkerung in den Jahren 1933 bis 1945 erdulden musste, geleitet von dem Wunsch, den Wiederaufbau jüdischen Lebens in Deutschland zu fördern und das freundschaftliche Verhältnis zu der jüdischen Glaubensgemeinschaft zu verfestigen.“
Wie würde wohl der engagierte Humanist und Demokrat James Fraenkel auf die jetzige Situation reagieren? Was würde er uns mit auf den Weg geben?

Ich weiß es nicht, möglicherweise dies: „Selbstverständlich den schmalen Weg der Pflicht gehen“, würde er uns vermutlich ans Herz legen, „wie es ein deutscher Dichter, der auch Arzt war, einmal formuliert hat *), es gibt kein Drittes… nicht mal ein Zweites, das gebietet eure Situation der Hilfe für die Emigranten, ein Auftrag, aber zugleich auch euer großes Glück. Fülle statt Schnitt! Der von mir gestiftete Park ist genau deswegen zu erhalten, kein Schnitt, von keiner Seite aus, denn der Park wird den Anwohnern, den Emigranten und den Patienten des Pflegeheims gleichermaßen dienen wie sie ihm, davon bin ich fest überzeugt, und diese neue, plötzlich offene Situation für alle Betroffenen wird ungemein ihre Wohlfahrt befördern, die Entwicklung ihrer Persönlichkeiten, allein schon dieser Austausch … gerade übrigens für Kinder, der spontane Austausch der einheimischen mit den Flüchtlingskindern, und der romantische Park, der immerhin zwei Kriege überlebt hat, als ihre verbindende und erlösende Mitte, was für eine Lebendigkeit! Was für Therapien in Form des Spiels! Natur! Die blanke Natur! Heilung ist ein universeller, Mensch und Natur und Völker verbindender Prozess des Lernens, und zwar eines Lernens vom Anfang, was vor allem Begegnung der Gefahr der Verknöcherung mit einschließt, der körperlichen wie der seelischen … 1907, als wir den Park und ein Kurhaus für Rekonvaleszenten eröffneten, konnten wir von solchen ungeahnten Möglichkeiten höchstens träumen …“

*) Eine poetische Wendung des Dichters und Dramatikers Friedrich Schiller aus seinem Geschichtsdrama „Wallenstein“

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.