Editorial
Notizen zum Begriff der Partizipation

von Karl-Heinz Schubert

09/2019

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onlinezeitung

"Die deutsche Gesellschaft ist verstaatlicht,
und sie wird zunehmend weiter verstaatlicht."
Oskar Negt / 1981

Unsere Autorin Wilma Ruth Albrecht übersandte für diese Ausgabe einen Beitrag, der aus dem Jahre 1969 stammt. Es handelt sich um ein Referat, das sie im Wintersemester 1969/70 zum Thema Parlamentarismus-Kritik gehalten hatte. Für die Veröffentlichung dieses Textes nach rund 50 Jahren spricht vor allem, das er quasi ein Zeitdokument darstellt, denn damaliger Veröffentlichungsort und Text vermitteln das diskursprägende politische Gewicht der 1968er außerparlamentarischen Opposition und deren erkenntnisleitenden Interessen. Mit den Augen von "heute" gelesen, erfährt die im Fazit des Aufsatzes von Agnoli referierte These, dass der Parlamentarismus sich zu einem wirksamen Mittel entwickelt habe, "die Massen von den Machtzentren des Staates und - durch die staatliche Vermittlung - von den Entscheidungszentren der Gesellschaft fernzuhalten“, eine besondere Relevanz, da sich diese Verhältnisse seitdem sukzessive verfestigt haben. Seitdem verlor im reziproken Verhältnis dazu diese Form von Staatlichkeit ihre Legitimation bei breiten Teilen der Bevölkerung. Insofern besteht heute für das herrschende politische Personal neben der ökonomischen und politischen Sicherung der globalisierten gesamtgesellschaftlichen Kapitalreproduktion eine Hauptaufgabe darin, ihren Legitimationsverlust durch unverbindliche Kommunikationsangebote zu kompensieren.

Das Schlüsselwort dafür lautet "Partizipation", weil die vielfältigen Formen von Bürger*innenpartizipation ein scheinbar schlüssiges Rezept darstellen, den Prozess der Entdemokratisierung in diesen Formen verschwinden zu lassen. Ein beliebtes Mittel mit entsprechender Breitenwirkung sind zum Beispiel "Volksbegehren". Mit diesem rechtlich folgenlosen Instrument werden z.B. unterschiedliche Mieter*inneninteressen/-forderungen in der Wohnungsfrage nicht nur ideologisch homogenisiert, sondern direkt an die "Machtzentren des Staates" (Agnoli) zur Lösung in deren Sinne weitergereicht.

Dieses partizipative Verhalten muss natürlich bereits in jungen Jahren erlernt werden. Dafür gibt es extra Institute, die staatsbürgerliche Formungs- und Erziehungeinrichtungen in diesem Sinne unterweisen, weil diese gemeinhin als entwicklungsträge und beratungsresistent gelten. Diese "Projekte" verstehen sich als "Kompetenzzentren" und sind natürlich auch vor Ort tätig - zum Beispiel, um in der Schule mit "Anspruchsgruppen" im "Dialog" eine "Anerkennungskultur" zu entwickeln, was durch "konsensorientiertes Aushandeln" als dem "Kern demokratischer Alltagskultur" eingeübt wird.


Quelle: https://ide-berlin.org

Die Politologie verstanden als angewandte Wissenschaft für staatsbürgerkundliche Unterweisungen und Formungen hat in diesem Zusammenhang selbstredend der Frage nachzugehen, ob und wie ihre jeweiligen Kommunikations- und Mitwirkungsstrukturen unter legitimationsstiftenden Gesichtpunkten funktionieren.

Nicht nur aus Gründen der Aktualität lohnt sich diesbezüglich ein Blick in Frau Giffeys Dissertation von 2009 (!) mit dem vielversprechenden Titel: Europas Weg zum Bürger - Die Politik der Europäischen Kommission zur Beteiligung der Zivilgesellschaft, wo sie kritisch resümiert:

"Aus den Ergebnissen der Fallstudie lässt sich schließen, dass die Beteiligungsinstrumente der Europäischen Kommission nicht für alle Zielgruppen zugänglich und verständlich gestaltet sind. Sie sprechen eine Gruppe von vor allem Experten und Organisationen der Zivilgesellschaft an, die bereits über ein hohes Maß an Europakompetenz, Medienkompetenz und politischer Bildung verfügt." (S.199 - Unterstreichung von mir)

Giffeys Doktorarbeit steht für einen zeitgenössischen wissenschaftlichen Mainstream, der seine Daseinsberechtigung aus dem Nutzen und der Pflege der Politologie als Legitimationsinstrument für bürgerlich-parlamentarische Herrschaftverhältnisse zieht und dafür die Konstitutionsbedingungen dieser "Machtzentren" aus ihrem Erkenntnisinteresse ausblendet.

Leider gelten heute nicht mehr die wissenschaftlichen Standards der 1960/70 Jahre, dann wäre Giffeys Dissertation wegen Nichtausschöpfung des Forschungsrahmens abgelehnt worden und die Erbsenzählerei zum Nachweis der Nichteinhaltung formaler wissenschaftlicher Standards hätte unterbleiben können. Gleichwohl liefert die Erbsenzählerei Anschauliches darüber, wie die bürgerliche Wissenschaft auf den Hund gekommen ist.

Exkurs

Die Kritik an der Funktion und den Mängeln der bürgerlichen Wissenschaft entbindet Vertreter*innen der dialektisch-materialistischen Wissenschaft nicht davon, die Kritik an der eigenen Geschichte und den dazu entwickelten Standpunkten zu führen. Die revolutionäre Linke in der BRD befindet sich seit den 1970er Jahren in einem Zustand der Zersplitterung - auch und gerade bedingt durch eine konsistente Ignoranz gegenüber der Geschichte der Arbeiter*innenbewegung.  Sie wird seitdem jeweils gemäß der eigenen Zirkellinie ex cathedra festgelegt. Anläßlich des 80. Jahrestages des Ausbruchs der II.Weltkriegs ist es der deutsch-russische Nichtangriffsvertrag, der zur Abgrenzung herhalten muss. Dieses historische Ereignis wird nach dem Muster des "Historismus" (Walter Benjamin) aufbereitet und nicht mit den dialektischen Methoden des historischen Materialismus untersucht und dargestellt. Das zeigt sich speziell an trotzkistischen und "ml" Stellungnahmen, worauf wir in dieser Ausgabe verlinken. Sie ergänzen unsere Dokumentation des kompletten Vertragstextes plus Zusatzvertrag, die wir mit "Sozialistische Vaterlandsverteidigung oder Sozialimperialismus?" betitelt haben. Mit dieser Fragestellung wollen wir dazu anregen, den affirmativen Umgang mit der  Geschichte der Arbeiter*innenbewegung anhand dieses folgenschweren Ereignisses zu revidieren. Dies könnte ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Einheit der Klassenlinken werden.

Während Partizipation für Politolog*innen und Pädagog*innen schlechthin das Modellvorhaben zur Bekämpfung von Staatsverdrossenheit in öffentlichen Räumen darstellt, ist die Partizipationstätigkeit des Staatsschutzes eine investigative Form von Partizipation und naturgemäß eine verdeckte mit "Stellen"beschreibungen wie IM, V-Mann oder Undercover. Aber das ist nicht der einzige Unterschied: Während die der Logik des Legitimationszwangs folgenden Partizipationprojekte geradezu die Öffentlichkeit brauchen, um wirkmächtig zu werden, gefährdet Öffentlichkeit die dem Staatsschutz dienliche Partizipation essentiell.

Für "Horch und Guck" in "Ost" und "West" war bzw. ist das Bekanntwerden einer teilnehmenden Mitwirkung an "staatsfeindlichen" Unternehmungen immer eine ernste Pleite. Als vor 30 Jahren nicht nur die DDR implodierte, gerieten die StaSi-Partizipationstätigkeiten umfänglich ins Licht der Öffentlichkeit. Deren Unterlagen vermitteln von heute aus ein aufschlussreiches Bild in den inneren Niedergang der DDR und verweisen das von etlichen linken Spektren gepflegte Bild der "Konterrevolution" ins Reich der Legendenbildung. Dazu unsere Leseempfehlung die MfS-Berichte: MfS,ZAIG, 0/225 Berlin, 9.9.1989 und  MfS, ZAIG, 0/223 Berlin, 11.9.1989

Hingegen gelangen Information aus der Arbeit der BRD-Staatsschutzbehördern nur bruchstückweise und wenn nur auf persönliches Verlangen oder durch parlamentarische Ausschüsse sowie durch persönlichen Verrat und Gegenspionage ans Licht der Öffentlichkeit. In dieser Ausgabe können wir daher dokumentieren, dass ein 88jähriger Kommunist seit 1951 durch den BRD-Staatsschutz bespitzelt wird. Kurzum: Es gibt noch viel zu tun, bis auch das anders wird.

Eine Nachbemerkung zum Begriff  "Konterrevolution"

Sowohl sach- als auch denklogisch setzt der Begriff der Konterrevolution im historischen Kontext der bürgerlichen Gesellschaft den Kampf gegen eine durch das Proletariat vollzogene oder sich vollziehende Aufhebung kapitalistischer Produktionsverhältnisse voraus. Das historische Ziel der proletarischen Revolution ist die Selbstaufhebung der eigenen Klasse und aller anderen Klassen. Der Weg dorthin benötigt den Sozialismus als Übergangsgesellschaft, die sich im Hinblick auf dieses Ziel fortwährend selbst revolutioniert. Für die Beurteilung des Ausgangspunktes und der Entwicklungsrichtung eines solchen historischen Prozesses hat die Frage nach der Rolle und Funktion der Arbeitskraft eine zentrale Relevanz. Die DDR ist nicht aus einer von der Arbeiter*innenklasse getragenen revolutionären Umwälzung hervorgegangen, sondern ist das historische Produkt aus der Niederlage des faschistischen Deutschen Reiches. Die von der SU in der SBZ eingeleiteten antifaschistischen Umstrukturierungen der Eigentumsverhältnisse an Produktionsmitteln und der darauf aufsetzende planmäßigen Aufbau des Sozialismus (1952) veränderten im Vergleich zum Kapitalismus keineswegs die ökonomische Stellung des Lohnarbeiters in und zum Produktionsprozess. Das vom lohnarbeitenden DDR-Proletariat erarbeitete gesellschaftliche Mehrprodukt gelangte nicht in seine Verfügungsgewalt, sondern wurde bis zur Implosion der DDR durch eine Schicht von TechnokratInnen und Parteibürokrat*innen kontrolliert und verteilt. Die Rückverwandlung des DDR-Staatskapitalismus in privatkapitalistische Eigentumsformen erfolgte dann ab 1989 nach den in der BRD herrschenden kapitalistischen Marktgesetzen und war von der breiten Mehrheit der DDR-Bürger*innen durch ihren Beitritt zur BRD 1990 ausdrücklich so gewollt.