Vor 30 Jahren: Mauer kaputt.

MfS, ZAIG, 0/223 Berlin, 11.9.1989

ZAIG an Mielke, Carlsohn

Nur zur persönlichen Kenntnisnahme

Hinweise auf beachtenswerte Reaktionen von Mitgliedern und Funktionären der SED zu einigen aktuellen Aspekten der Lage in der DDR und zum innerparteilichen Leben

Im Rahmen des Gesamtaufkommens an Informationen der Diensteinheiten des MfS Berlin und der Bezirksverwaltungen zur Reaktion der Bevölkerung auf wesentliche Aspekte der innenpolitischen Lage in der DDR, insbesondere im Zusammenhang mit der Problematik der ständigen Ausreise von Bürgern der DDR und dem ungesetzlichen Verlassen der DDR, sind in wachsendem Maße aufch Hinweise über beachtenswerte Meinungsäußerungen und Haltungen von Mitgliedern und Funktionären der SED zur Politik der Partei und zum innerparteilichen Leben enthalten.

Vorliegenden Informationen zufolge sind zahlreiche, vor allem langjährige Parteimitglieder, von tiefer Sorge erfüllt über die gegenwärtige allgemeine Stimmungslage unter großen Teilen der Werktätigen, besonders in den Betrieben, teilweise verbunden mit ernsten Befürchtungen hinsichtlich der weiteren Erhaltung der politischen Stabilität der DDR.

Sie begründen diese Haltung insbesondere mit solchen persönlich getroffe­nen Feststellungen im Arbeits-, Wohn- und Freizeitbereich wie

  • der erheblichen Zunahme von durch Unwillen und Unzufriedenheit gekennzeichneten, in immer aggressiverem Ton geführten Diskussionen im Zusammenhang mit der Versorgungslage und der Lage im Dienstleistungs­bereich, der Lohn-Preis-Politik, der materiell-technischen Sicherstellung der Produktion,

  • zunehmenden Erscheinungen von Passivität und Gleichgültigkeit unter Werktätigen gegenüber dem politischen und gesellschaftlichen Leben in der DDR insgesamt und im Territorium,

  • dem weiteren Rückgang von Arbeitsdisziplin und Leistungsbereitschaft,

  • der erheblichen Zunahme von Erscheinungen des Spekulantentums und der Korruption

Die Praxis zeige, daß auch zahlreiche Parteimitglieder mit derartigen Auffas­sungen und Verhaltensweisen in Erscheinung treten und sich damit kaum noch von Parteilosen unterscheiden.

In diesem Zusammenhang wiesen Mitglieder und Funktionäre der SED wiederholt darauf hin, daß Diskussionsinhalte von Werktätigen zu den vorgenannten Problemen in wachsendem Maße die Tendenz erkennen lassen, die Partei- und Staatsführung für die entstandene Lage verantwortlich zu machen, ihr, vor allem unter Hinweis auf die altersmäßige Zusammensetzung, die Fähigkeit abzusprechen, die vielfältigen Probleme zu lösen.

Unter Bezugnahme auf Feststellungen über die Stimmungslage unter den Werktätigen, auf den drastischen Anstieg der Ausreisebestrebungen bzw. die „Massenfluchten" von DDR-Bürgern in die BRD und nach Westberlin, aber auch unter Hinweis auf die sich häufenden Austritte bzw. angekündigten Austrittserklärungen aus der SED, schlußfolgern SED-Mitglieder und andere progressive Kräfte, es zeichne sich ein wachsender Vertrauensschwund zwi­schen Volk und Partei ab.

Als Hauptgründe für Austritte aus der Partei (Hinweise über eine erhebliche Zunahme von Parteiaustritten, besonders aus dem Bereich der materiellen Produktion, liegen aus allen Bezirken der DDR und der Hauptstadt der DDR, Berlin, vor) würden insbesondere angeben:

  • Nichteinverständnis mit der Um-und Durchsetzung der ökonomischen Politik der Partei (Hauptargument: Trotz vieler Beschlüsse ändere sich nichts an der komplizierten Lage in der Volkswirtschaft und auf dem Gebiet der Versorgung. Man habe keine überzeugenden Argumente gegen­über Parteilosen und könne deshalb die Parteilinie nicht mehr vertreten);

  • mangelndes Vertrauen in die Parteiführung (Hauptargument: Die Partei­führung wolle die Probleme nicht wahrhaben; sie habe sich von der Basis gelöst);

  • Ablehnung der Informationspolitik der Partei (Hauptargument: Die Partei überlasse es dem Gegner, sich mit unseren inneren Problemen zu befassen; die DDR-Massenmedien hielten an der Linie einer „Erfolgsberichterstat­tung" fest; die Einheit von Wort und Tat sei nicht mehr gewährleistet).

Mitglieder und Funktionäre der SED, besonders aus APO und GO in Bereichen der Volkswirtschaft sowie an Universitäten und Hochschulen, üben zum Teil scharfe Kritik an der Arbeit übergeordneter Parteileitungen sowie am Inhalt und Verlauf von Mitgliederversammlungen. Diese würden häufig nur noch den Charakter von Pflichtveranstaltungen tragen.

Es werde an den Problemen vorbeigeredet. Auf konkrete Fragen gebe es keine Antwort bzw. kritische Diskussionen würden mit dem Hinweis auf die Parteidisziplin „abgewürgt". Wer auf Parteiversammlungen die vorhandenen Probleme anspreche und klare Antworten verlange, werde sehr schnell als Nörgler abgestempelt. /Hauptamtliche Parteifunktionäre wirken in ihrer Argumentation „hilflos"; teilweise weichen sie unbequemen Fragen aus. Auf den Parteiveranstaltungen werde das Vermitteln von überzeugenden Argu­menten und Hintergrundinformationen vermißt.Es gebe erhebliche Informa­tionsdefizite in der Partei. Dies sei der Grund dafür, daß viele Parteimitglieder resignierten, da sie sich mit ihren Problemen allein gelassen fühlten. Hochschullehrer (SED-Mitglieder) erklärten, mit wachsendem Unbehagen in Vorlesungen und Seminare zu gehen, da Studenten immer häufiger politisch sensible Themenbereiche ansprechen und dazu Fragen stellen, auf die sie keine überzeugenden Antworten geben könnten, ohne Grundpositionen der Partei in Frage zu stellen.

Zunehmend offener äußern Mitglieder und Funktionäre der SED Unwillen und Enttäuschung über die Informationspolitik. Ihre zu dieser Thematik geäußerten Standpunkte unterscheiden sich dabei jedoch wesentlich von Meinungsäußerungen zahlreicher Parteiloser, die die gegenwärtig betriebene Informationspolitik grundsätzlich in Frage stellen, sie der Lächerlichkeit Preisgeben.

Sie sind von der Sorge getragen, daß die derzeitige Informationspolitik, speziell die Medienpolitik, nicht mehr den neuen Anforderungen an die politisch-ideologische Arbeit entspricht und nur noch geringe Wirkung erzielt.

Vorliegenden Informationen zufolge zeigen sich viele Parteimitglieder u.a. progressive Kräfte verbittert darüber, daß die Medien der DDR gegenüber dem Klassengegner eine defensive Haltung einnehmen, auf Vorgänge und Vorkommnisse nicht aktuell und offensiv reagieren. Daraus resultiere — so z.B. im Falle der „Botschaftsbesetzungen" und der organisierten „Massenflucht" von DDR-Bürgern aus der UVR nach Osterreich wie überhaupt bei der Problematik Antragsteller auf ständige Ausreise -, daß sich die überwiegende Mehrheit der DDR-Bevölkerung nahezu ausschließlich an entsprechenden Sendungen westlicher Medien orientiere. Die politische Meinungsbildung der DDR-Bürger werde damit in erheblichem Maße von westlichen elektroni­schen Medien bestimmt.

Darüber hinaus mangele es den DDR-Massenmedien an Objektivität bei der Darstellung innenpolitischer Probleme. Es werde das Bild einer „heilen Welt" des Sozialismus in der DDR vermittelt, das teilweise in krassem Widerspruch zur Wirklichkeit stehe.

Die fehlende Offenheit hemme in entscheidendem Maße die Bereitschaft der Werktätigen, aktiver mitzuwirken bei der Überwindung vorhandener kompli­zierter Probleme im Innern der DDR. Journalistisch tätige Personen vertreten die Auffassung, wenn die Diskussion zu erarbeiteten politischen und wirt­schaftlichen Konzepten und Lösungsvarianten nicht wie bisher nur intern, sondern auch öffentlich - unter Einbeziehung der Medien - erfolgte, würde dies nicht nur zu einem Vertrauensgewinn der Partei, sondern auch zu echter schöpferischer Mitarbeit der Werktätigen führen und die Stimmungslage der Werktätigen positiv beeinflussen. Man könne nicht auf das Bewußtsein der Menschen einwirken und etwas in Bewegung setzen wollen, indem man nur den Begriff sozialistische Demokratie häufiger verwende.

Besonders beachtenswert erscheinen vorliegende interne Hinweise, wonach journalistisch tätige Personen ihre Verbitterung über fortgesetzte administra­tive Entscheidungen der Abteilung Agitation/Propaganda des ZK der SED bezüglich der Qualität, der Eignung und der Nutzung von zur Veröffentli­chung vorgeschlagenen Artikeln zum Ausdruck bringen. Dies erzeuge bei ihnen zunehmend das Gefühl, daß den Journalisten ihr Urteilsvermögen abgesprochen werde.

zitiert nach: Armin Mitter, Stefan Wolle (HG), "Ich liebe Euch doch alle...", Befehle und Lageberichte des MfS, Januar- November 1989, Berlin 1990, S.148-150

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